Darüber hinaus – Zum Verhältnis von Dichtung und Religion als Herausforderung an die Sprache der Theologie

Petra Bahr

Festvortrag Boller Bußtag der Künste

„Die Poeterey ist anfangs nichts anderes gewesen als eine verborgene Theologie und Unterricht in göttlichen Sachen“. Mit dieser schönen Vermutung antwortet Martin Opitz, der große deutsche Dichterfürst des Barock vor fast vierhundert Jahren auf die von ihm selbst gestellte Frage, wann und wozu die Poesie erfunden worden sei. Die Frage nach dem Ursprung der Dichtung deckt sich für Opitz mit der Frage nach dem Ursprung des künstlerischen Vermögens des Menschen. Seine Geschichte der Poesie ist deshalb dem Anspruch nach nicht weniger als eine Kulturgeschichte der Menschheit. Der Ursprung des Menschlichen liegt in dem Vermögen, sich die Welt künstlerisch auf Abstand zu halten. Gegen die Übermacht der Wirklichkeit gelingt es dem sprechenden Menschen, so die Einsicht in die Genese der Menschheit, mit seiner Sprache die Mächte zu bändigen, indem er ihnen Namen und Bedeutungen gibt. Die Mächte, die die Welt regieren, können nun gedeutet werden. Und in jeder Benennung liegt eine Entdämonisierung. Mit dem ersten Gedicht ist Gott besprechbar geworden. Das ist die Stunde der Theologie in buchstäblichem Sinne. Heute klingt diese vermeintliche Geschichtserinnerung an den vermuteten Ursprung der Menschheit selbst schon wie ein poetischer Mythos. Das ist vielleicht ein sanfter Hinweis, dass man sich solchen Ursprungsüberlegungen am besten mit der Sprache der Dichtung nähert… Diese Vorstellung, die das dichterische Vermögen an die Anfangsgründe der Menschheit versetzt, verfolgen noch die großen Kulturphilosophen des späten 18. Jahrhunderts, allen voran der Geistliche, Philosoph, Übersetzer und Sprachtheoretiker Herder. Mit dieser Vorstellung verbindet sich ein Begriff der noch jungen Welt, in der wir alle noch roh, rau und ungebärdet sind – Kulturlose eben. Deshalb hat die Rede von dem Ursprung der Dichtung in der Theologie bei Martin Opitz und den anderen Ausspähern von Anfangsgründen noch einen anderen Sinn. Gott wird nicht nur besprechbar, er spricht auch selbst. Gott hat die Dichter geschickt, so schon eine antike Überlieferung, damit sie seine Offenbarung vor der rohen Gewalt des Menschlichen schützten. Deshalb verbirgt er seine Lehre in einer „prisca theologia“. Seine Lehre trägt sich als Geheimnis in die Sprache der Dichter ein. In ihr verschlüsselt sich das Göttliche, es wird zu einem erträglichen und gleichzeitig entzogenen Geheimnis, das nur dem zugänglich wird, der die Lücke zwischen den Worten aufsucht und der Magie der Sprache glaubt. Gegen das laute Brüllen und Schwätzen, gegen das aggressive Beschreien des Offensichtlichen und des Banalen hilft die verfeinerte, errungene und an der Form verzauberte Sprache der Dichter, das Göttliche in der Welt zu halten. Ein bedeutender Nebenstrang dieser Theorie von der Dichtung als prisca theologia erklärt den bleibenden Einfluss dieser Idee im Abendland: auch die Dichtung der Heiden, vor allem die Dichtung der großen antiken Autoren, kann so in einem vom Christentum geprägten Kulturraum mit theologischer Güte ausgestattet werden. Die griechischen und lateinischen Klassiker haben so auch theologische Güte. Kein Wunder also, dass sie es in die Curricula der Kosterschulen und theologischen Universitäten geschafft haben. Hier, den großen Weltgedichten der Antike, erschließt sich den Eingeweihten eine eigene, poetische Welt der Gotteslehre, die der Masse der Unkundigen verschlossen bleibt. Genau genommen läuft die Idee von der geheimnisvollen Theologie der Dichtung parallel zur natürlichen Theologie, die in den Zeichen der Natur die verborgene Zeichensprache Gottes entdeckt.

Die These von der Dichtung als verborgener Theologie sollte allerdings nicht zu allererst rechtfertigen, dass Poesie es ihren Lesern manchmal schwer macht, weil sich die Verkettung der Worte dem Alltagssprachgefühl so drastisch entzieht. Sie sollte auch nicht in erster Linie das Hermetisch-Elitäre gegen den sprachlichen Massengeschmack verteidigen. Schließlich geht es Opitz in seiner Dichtungslehre vor allem darum nachzuweisen, dass es große Kunst auch in der Volkssprache geben kann. Verständlichkeit, Klarheit und Durchsichtigkeit sind rhetorische Gesetze, die Opitz mit Verve verteidigt und die er nun auch als Maßstab an die Nationalsprache anlegt. Noch Martin Luther hat geglaubt, das Deutsche sei die Sprache der Ungebildeten. Mit seiner Bibelübersetzung wollte er einer Bildungsoffensive Vorschub leisten. Martin Opitz glaubt dagegen an die poetische Kraft des Deutschen, die Martin Luther, wie wir heute wissen, geradezu beiläufig ebenfalls unter Beweis gestellt hat. Opitz hält das Deutsche aus inneren Gründen für „lyrikfähig“. Für ihn ist die Muttersprache durchaus geeignet, um sich dem Erhabenen zu nähern. Für die Nobilität der Literatur braucht es kein Latein. Das ist Anfang des 17. Jahrhunderts eine Revolution, die für viele schwer erträglich ist. Doch Martin Opitz geht es um mehr und anderes: Die Kultur und Religion des Menschen beginnt mit dem ersten Satz, der je gedichtet und gebetet wurde.

Nun sind wir heute allergisch geworden gegen die wohlfeilen Ursprungstheorien, die uns mit einer gehörigen Prise Melancholie daran erinnern wollen, das alles einmal miteinander verbunden war, nun aber in unterschiedliche Sphären auseinander gerissen ist. Die Ursprungsthesen des 17. und 18. Jahrhunderts künden noch von einer Einheitssehnsucht, die der Moderne verdächtig geworden ist. Werden hier nicht Träume von einem goldenen Zeitalter aufgerufen, das immer schon vergangen ist? Aus diesem Stoff ist der grassierende Kulturpessimismus gewebt, der oft genug in der Verachtung der Gegenwartskünste endet. Ja, man könnte noch weiter gehen – und viele Denker in der Moderne sind weiter gegangen. Selbst wenn es einmal so gewesen wäre, dass Religion und Poesie so eng verschwistert waren, so ist es doch nur gut, dass sie beide nun getrennte Wege gehen, heißt ein Grundsatz der modernen Kulturtheorie. Erst in der Unterschiedenheit von der Religion kann die Dichtkunst ganz sie selbst sein – ohne Fremdbestimmung durch Inhalte und Formen, die sie sich nicht selbst gewählt hat. Nichts scheint verdächtiger als religiöse Dichtung, steht sie doch für künstlerisches Mittelmaß, das oft genug in der Kitschfalle stecken bleibt. Fallstricke lauern in der Tat, wenn man die Opitzsche Idee als Provokation an die Gegenwart hält. Dichtung als verborgene Theologie – das klingt nach Vereinnahmung der vertrauten Art. Der Satz birgt nicht nur die Tücke der Vergangenheitsversessenheit. Auch systematische Fallen lauern. Spiegelt sich in dem Satz nicht ein mehr oder weniger verkappter Rettungsversuch einer bedeutungslos gewordenen Theologie in der Welt der Künste, die ja in gewisser Hinsicht boomen wie nie? Es könnte dieses Hase- und Igel-Spiel beginnen. Das geht so: Die Dichtung will nichts als weltlich sein und ernsthaft spielen mit dem Kosmos der Bedeutungen, der sprachlichen Formen und der Zeichen. Da kommt der Theologe daher, hebt weise den Zeigefinger, guckt sehr zeitgemäß, zieht sich einen schwarzen Rollkragenpullover an und flüstert was von Transzendenz und Erhabenheitsanmutung. Der Dichter kann nun zappeln wie er will: ist der Religionsbegriff nur hochfahrend genug, geht er der Theologie immer ins Netz. Kunst transzendiert den Alltag und verhilft zu intensivierter Selbsterfahrung. Ergo ist bei ihr immer auch Religion im Spiel. Das ist vielleicht die verschlagenste Form der Vereinnahmung, viel schädlicher für das Gespräch zwischen Kirche und Künsten ist die offensichtliche Instrumentalisierung der Dichtung zu Verkündigungszwecken. Indes: Martin Opitz hatte mit dieser Debatte nichts im Sinn. Und entgegen anders laufender literaturwissenschaftlicher Geschichtserinnerung ist die Frage nach der Säkularität der Dichtung auch schon im Barock ein heißes Eisen. Für uns heute steckt eine andere Art der Zumutung in der unzeitgemäßen These. Denn in dem Satz von der Poesie als geheimer Theologie wird auch eine Aussage über die Theologie getroffen. Die vornehmste Theologie soll nämlich die Theologie sein, die sich in Rätsel und Geheimnisse kleidet. Das ist schon für die Zeitgenossen von Opitz eine merkwürdige Behauptung. Schließlich setzt der Protestantismus ganz auf Öffentlichkeit. Theologie soll den verborgenen Winkel meiden und sich hell und klar ins Licht gegenwärtiger Aufmerksamkeit bringen. Hermeneutik, nicht Hermetik ist ihr leitendes Geschäft. Stellt die Opitzsche These dieses Ideal auf den Kopf? Zumindest befragt und ergänzt Opitz auch das gängige theologische Geschäft öffentlicher Rede. Wie kann das Geheimnis der Religion sich in einer Sprache halten, die alles Geheimnisvolle gegen einen konsensual erzeugten Verlautbarungsjargon eintauscht? Opitz stellt, altertümlich, aber bleibend aktuell, die Medienfrage – nicht nur als Frage an die Inhalte, sondern an die Form der Theologie. Hier macht es durchaus Sinn, sich von ihm anregen zu lassen. Im Umkreis von Opitz, an der Universität zu Wittenberg, lernt Paul Gerhardt das theologische Geschäft. Wer die Curricula dieser Zeit durchmustert, ist verblüfft über den hohen Anteil an rhetorischer und poetischer Ausbildung. Der Hort des reinen dogmatischen Luthertums ist auch ein Ort der Vermittlung eines geschärften Sinnes für Poesie. Virtuos können Theologen in diesen Jahren der Verfestigung der lutherischen Lehrgebäude zwischen unterschiedlichen Sprach- Rede- und Schreibstilen variieren. Paul Gerhardt löst in gewisser Weise für seine Zeit ein, was Opitz fordert: dass die Theologie ihren Ort in der Dichtkunst beansprucht. Dichtung ist bei Paul Gerhardt verborgene Theologie. Nun könnte man mit Recht einwenden, von Verborgenheit könne man bei einem Dichterpfarrer doch wirklich nicht sprechen. Schließlich schreibt Gerhardt Gebrauchstexte mit Verkündigungsinteresse. Von autonomer Dichtkunst ist er weit entfernt. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Bei Paul Gerhardt lässt sich studieren, wie sich dogmatische Einsichten unter der künstlerischen Arbeit an der Sprache so verwandeln, dass sie ihren belehrenden Charakter voll und ganz verlieren. Der Freiheit der Form müssen sich auch die grundlegenden theologischen Einsichten beugen. So gewinnt der lutherische Theologe, der für die Reinheit des Bekenntnisses in späteren Jahren so einigen Ärger in Kauf nimmt, eine poetische Freiheit, die sich bis in die Version der Gotteslehre niederschlägt. Gott, der gute Weltberater – knapper und dichter lässt sich die lutherische Lehre von der Providentia Dei wohl kaum ausdrücken. Man mag sich im Paul-Gerhardt-Jahr einmal ernsthaft fragen, wo denn heute jemand ganz und gar zeitgemäß und in solch künstlerischer Vollendung religiöses Beten, Singen und Sprechen zu prägen in der Lage ist. Wie gesagt: die Sprache der Frommen hat sich verdächtig gemacht. „Herr, Deine Liebe ist wie Gras und Ufer“ singen wir. Das ist nicht zeitgemäß, sondern nur ein müder Abklatsch der großen Schöpfungslyrik eines Paul Gerhardt. Die zeitgenössische Lyrik traut sich viel mehr im Umgang mit Gott. Sie ist tollkühn und frech und zärtlich, ohne allerdings theologische Ansprüche zu verkünden. Theologen und Theologinnen sind gut beraten, hier in die Schule zu gehen, um den verbrauchten und fadenscheinigen Bildern zu entkommen, die unsere Predigten, Andachten und Gebete durchziehen. Nichts gegen die gute alte Sprache der Tradition. Auch das kann man bei Martin Opitz lernen. Erst wer die Alten liebt und schätzt, ist in der Lage, virtuos mit dem Neuen umzugehen. Nur braucht jede Zeit auch sprachliche Zeitgenossenschaft in der Vielfalt der sprachlichen Formen und Stile. Der Umgang mit Poesie schult darin, den Worten Zeit zu lassen. Ein Satz reicht oft für einen ganzen Tag. Hier, in der Poesie, klingt Unerhörtes und Ungehörtes an und wird plötzlich evident. Poesie räumt den Sprachmüll beiseite, den wir aufgetürmt haben und auf dem wir nun balancieren auf der Suche nach neuen Worten. Poesie zwingt die Leser und Leserinnen in die Lücken zwischen den Worten. Es lohnt sich, der geheimen Verwandtschaft zwischen der Poesie und dem Gebet auf die Spur zu kommen. Eine Lüge, so sagt das Huckleberry Finn, eine Lüge kann man nicht beten. Eine Lüge kann man auch nicht dichten. Das zeitgenössische Gedicht des australischen Dichters Les Murray mag dazu verführen, über den Satz von Opitz weiter nachzudenken, dass Dichtung verborgene Theologie sei.

Religionen sind Gedichte. Sie bringen
unseren Tages- und Traumgeist in Einklang,
unsere Gefühle, Instinkte, den Atem und die uns
angeborene Gestik

in das einzig vollkommene Denken: Dichtung.
Nichts ist gesagt, bis es in Worten hinausgeträumt ist
und nichts ist wahr, was nur in Worten wahr ist.

Ein Gedicht kann, verglichen mit einer geordneten Religion,
wie die kurze Hochzeitsnacht eines Soldaten sein
nach der man sterben oder leben kann.
Doch das ist keine Religion.

Volle Religion ist das Gedicht in liebevoller Wiederholung;
wie jedes Gedicht muss sie unerschöpflich und vollkommen sein
mit Wendungen, wo man sich fragt Warum hat der Dichter
das wohl getan?

Man kann eine Lüge nicht beten, hat Huckleberry Finn
gesagt:
man kann sie auch nicht dichten. Es ist derselbe Spiegel: beweglich,
aufblitzend nennen wir es Dichtung,

um eine Mitte verankert nennen wir es eine Religion,
und Gott ist die Dichtung, die in jeder Religion
gefangen wird, gefangen, nicht eingesperrt. Gefangen wie in einem Spiegel,

den er anzog, da er in der Welt ist, wie die Poesie
im Gedicht ist, ein Gesetz gegen jeden Abschluss.
Es wird immer Religion geben, solange es Dichtung gibt – oder einen Mangel an
ihr.