Ist uns bald nichts mehr heilig oder kehrt das Heilige zurück?

Petra Bahr

Die zwiespältige Rolle der Religion in der Gegenwartskultur

Vortrag am 14. Dezember 2006 in Oldenburg

Es gibt Abschiede, die begehen wir zu früh. So mancher Firmeninhaber, der mit großem Festakt in den Ruhestand geschickt wurde, kommt nach wie vor an jedem Morgen ins alte Büro. So mancher Sportler zieht sich tränenreich vor seinen Fans ins Privatleben zurück, um dann kurze Zeit später doch das Comeback zu versuchen. Und so manche Vinyl-Platte, die vor vielen Jahren als Ladenhüter im hintersten Regal verschwand, steht nun als CD wieder ganz oben in den Hitlisten. Zeitloser Klassiker oder kurze Retro-Mode – wer weiß das schon so genau.

Auch der Abschied von der Religion ist zu früh ausgerufen worden. Lange sah alles so aus, als bekämen diejenigen Diagnostiker Recht, die dem allmählichen Verschwinden der Religion aus der Moderne das Wort redeten. Zumindest für Westeuropa schien der Abschied von der Religion eine ausgemachte Sache zu sein. Entchristlichung und Entkirchlichung waren da nur folgerichtige Begleiterscheinungen. Nicht in der Diagnose, nur in den Reaktionen auf diese Diagnose schieden sich die Geister. Die einen kommentierten den heraneilenden Abschied genüßlich und mit Häme, die anderen mit Melancholie oder trotzigem Willen, das noch einmal aufzuhalten, was vorderhand nicht aufzuhalten zu sein schien. Die einen sahen das unvollendete Projekt der Moderne doch noch seiner Vervollkommnung entgegen streben, die anderen riefen alarmiert das Ende des Abendlandes aus. Allenfalls mit der „unsichtbaren Religion“ wollte man noch rechnen. Gründliche Zielfahnder unter Soziologen und Theologen hefteten sich an ihre Spuren und gingen dafür ins Kino und auf Popkonzerte, folgten dem Wellnessboom und der Ästhetisierung der Lebenswelt. Die Suche nach dem Lebenssinn schien klammheimlich dorthin ausgewandert zu sein – in Lebensvollzüge, die mit Religion im hergebrachten Sinne gar nichts zu tun hatten.

Grund zur Beruhigung gaben diese Einsichten in die Verflüchtigung artikulierbarer religiöser Überzeugungen nicht. Diese Form des Religiösen schien sich neue Formen gesucht zu haben, die so schwer zu identifizieren waren, daß selbst die, die ihren religiösen Sinn auf diese Weise stärkten und pflegten, davon gar nichts zu merken schienen. An die Reflexionskompetenz und Nachdenklichkeit der Theologie ist diese Form unsichtbarer Religion nicht gebunden, erst recht nicht an die Treue zu einer religiösen Gemeinschaft oder einer Kirche. Religiosität ohne Kirche, ohne geprägte Sprachformen, ohne verbindliche Gemeinschaft, ohne Tradition und ohne kritische Begleitung einer theologischen Vernunft, so könnte man dieses Phänomen polemisch beschreiben. Das, was so diffus und unsichtbar geworden ist, war also zwangsläufig auf dem sicheren Weg, zu verschwinden. So jedenfalls die Prognosen der 90er Jahre.

Seit ein paar Jahren sprechen wir nun selbstverständlich von der Wiederkehr der Religion, als wäre nichts gewesen. Das Feuilleton der großen Zeitungen ruft diese Wiederkehr mit großen Lettern aus. Wissenschaftliche Symposien befassen sich landauf landab mit dem Thema. Politiker konsultieren Kirchenführungen und Theologen. Sogar im Spätwerk berühmter bundesdeutscher Philosophen taucht die Religion wieder auf. Spätestens, als Jürgen Habermas die Gegenwartsbedeutung der Religion mit freundlichen Bemerkungen kommentierte, stiegen selbst die Intellektuellen aufs Thema ein, die bislang noch in Lauerstellung gelegen hatten. Auch Gott ist wieder da. Das erste Buch seit Jahrzehnten, das ebenso sparsam wie großspurig ausschließlich das Wort „Gott“ im Titel führt, stammt nicht von einem Theologen, sondern von dem Philosophen Thomas Rentsch und erschien im letzten Jahr. Der Buchmarkt läuft geradezu heiß mit Neuerscheinungen, die die Religion zumindest im Untertitel haben. Die Neuerscheinungen in deutscher Sprache gehen allein in diesem Jahr in die Hunderte. Vor allem die Medien haben sich der Religion wieder angenommen. Die Frage nach dem Heiligen ist wieder da und die Sensibilität für religiöse Fragen hat deutlich zugenommen, das zeigen auch zwei Zeitschriften im Monat Dezember. Die „Brigitte“ fragt zwischen Modefotostrecken und Schminktipps. „Wie kann ich glauben?“ und druckt sogar einen Selbstversuch zum Betenlernen ab. Das junge Kunstmagazin Monopol, das der Essayist und Autor Florian Illies gegründet hat, fragt in der neuesten Nummer „Was glaubt die Kunst“? Auf erfrischend niveauvolle Weise nähern sich so beide Magazine Fragen der Religion. Ohne Ironie und mit überraschendem Ernst.

Die süffig vorgetragene Rede von der „Wiederkehr der Religion“ hat allerdings ihre Tücken. Zum einen transportiert sie eine heimliche Geschichtsvorstellung, die im schweren Wort von der Wiederkehr selbst steckt. Was wiederkehrt, war schon einmal da. Handelt es sich in dem, was sich augenblicklich abspielt, tatsächlich um eine Wiederholung von etwas, was wir schon kennen? Wer sich nur ein wenig zurückbesinnt und vergleicht, ahnt, daß die disparaten Phänomene, die wir unter der „Wiederkehr“ der Religion versammeln, vermutlich nicht viel mit den Formen religiösen Lebens zu tun haben, die aus der Vergangenheit überliefert sind. Vorsicht ist also angebracht bei der Ausrufung schwerer Geschichtszeichen. Besonders in Schwellenzeiten – und man geht wohl nicht zu weit, wenn man die Vermutung äußert, in solchen Zeiten zu leben – reicht die Analyse nur zu Mutmaßungen. Nur vage beschleicht uns die Ahnung, daß sich etwas verändert hat. Ja, es stimmt, Religion hat sich mit Macht zurückgemeldet. Wir ahnen auch, daß das, was da programmatisch unter einer Überschrift zusammengefaßt wird, in Wahrheit mit Phänomenen zu tun hat, die so unterschiedlich sind wie Tag und Nacht. Dennoch ist nicht ausgeschlossen, daß auch das Disparate vor einem Zusammenhang erscheinen kann. Nur ist unser Sichtfeld eingeschränkt. Wer sich die Nase platt drückt vor dem großen Panoramabild der religionskulturellen Entwicklungen der Gegenwart, der sieht zwangsläufig nur Pixel und Farbkleckse. Wir sind schlicht zu nah dran, um uns einen Gesamteindruck zu verschaffen. Umso wichtiger, die Einzelheiten genau in den Blick zu nehmen und auf ihr Verhältnis hin zu prüfen.

Die neue Sichtbarkeit der Religion hat ohne Zweifel zuerst einmal gar nichts mit dem Christentum zu tun. Die weitaus größte Aufmerksamkeit zieht augenblicklich eine fremde Religion auf sich, von der wir viel zu wenig wissen und die sich doch immer mehr in den Vordergrund schiebt. Die Sichtbarkeit des Islam hat viele Aspekte, die unsere differenzentwöhnte Einbildungskraft allerdings oft genug übereinander legt: die gelebte Religiosität im Alltag samt Kopftuch und gebetsorientiertem Tagesablauf auf der einen Seite, die Christen dann und wann mit verschwiegenem Neid bewundern, mit den Phänomenen der Parallelgesellschaft auf der anderen Seite, die sich immer stärker radikalisiert, Mädchen zwangsverheiratet, und der Sehnsucht nach dem Gottesstaat nachdrücklich Ausdruck verleiht, mit Verweis auf die Religionsfreiheit und inmitten einer Gesellschaft, die Religion häufig zur Privatsache erklärt. Das ist die neue Sichtbarkeit der Religion auf unseren Straßen, die nicht für alle gleich augenfällig wird. In Berlin kann man der kräftigen Zunahme an sichtbaren Zeichen der Muslime nicht mehr ausweichen. Das, was uns im Alltag befremdet, irritiert oder neugierig macht, überlagert sich mit den Szenen, die uns von der Bühne der Weltpolitik erreichen. Unübersehbar sind der Fanatismus und die Gewalt, die da entstehen, wo Glaubensüberzeugungen sich nicht an den Trennungsregimen Religion und Politik orientieren, wo sie theologische und historische Kritik an den Quellen der Religion für Tabubrüche halten und wo die Religionsfreiheit der Anderen als unerträgliche Zumutung empfunden wird. Ich lasse es bei dieser knappen Skizze, weil ich vor allem eines ins Bewußtsein rufen will: Sichtbarkeit von Religion und die Berufung auf Heiliges ist noch nicht zwangsläufig ein Zeichen der Freude. Im Gegenteil. Es gibt eine neue Aufmerksamkeit für Religion, die durch Terror und Gewalt gesteuert ist. Die Wiederkehr der Religion markiert einen schwarzen Schatten. Es ist vor allem der lange Schatten des Karikaturenstreites, der uns in den letzten Monaten gezeigt hat, daß die global vernetzte Welt der Bilder keine Räume mehr unbeobachtet oder verschlossen läßt. So verschiedenartig die Öffentlichkeiten sind, so sehr das jeweilige Publikum auseinanderdriftet, diese wechselseitige Beobachtung kann schon klaustrophobische Ängste verursachen. Es ist eng geworden in der Welt. Denn die Welt sieht zu, wenn in einer dänischen Zeitung geschmacklose Provokationen gedruckt werden, die von gläubigen Muslimen als Gotteslästerung der schlimmsten Art empfunden werden müssen. Dann brennen Fahnen und Botschaftsgebäude. Worte, die in der Aula einer Universität gesprochen werden, kosten einer Nonne im Sudan das Leben. Die ganze Welt sieht zu, wenn in einer Berliner Oper in der blasierten Manier der Religionskritik der 70er Jahre ein Regisseur den Religionen den Kopf abschlägt. Eine muslimische Abgeordnete im Deutschen Bundestag ruft Frauen dazu auf, ihre Kopftücher abzulegen. Schon ist sie ihres Lebens nicht mehr sicher, weil radikale Organisationen auf der ganzen Welt sie im Internet und auf Zeitungsseiten zum Abschuß freigeben. Die mediale Attraktivität der Religion birgt offensichtlich neue Gefährdungen, derer wir uns erst langsam bewußt werden.

Wenn auch das Christentum von der wieder gewonnenen Aufmerksamkeit profitiert, sollten wir nicht zu schnell davon ausgehen, daß das eine mit dem anderen nichts zu tun hat. Es gibt gute Gründe, daß zumindest ein Teil der neuen Achtung und Auseinandersetzungen um den christlichen Glauben auch eine Reaktion auf die Glaubensstärke der Anderen ist. Die deutsche Gesellschaft reagiert auf die ästhetischen, religiösen und politischen Zumutungen, die mit der Integration der Muslime verbunden sind, auch mit der Frage nach den eigenen religiösen Wurzeln. Sie tut das bisweilen hilflos und manchmal überraschend plakativ, wie in der Leitkulturdebatte, wo christliche Werte oft genug mehr beschworen denn klar benannt und argumentativ bewährt werden. Die Kirchen sind im öffentlichen Raum als Bundeswerteagentur wieder mehr gefragt. Als alltägliche Lebensbegleiter werden sie oft genug ignoriert, bisweilen von den gleichen Leuten, die das christliche Menschenbild als Richtschnur ihres Handelns angeben. „Gottesdienst, das ist doch was für Frauen und Schwache“, sagte mir vorgestern ein Politiker in meinem Alter. Seine Partei trägt das C stolz im Namen. Dass die Prägekraft des christlichen Glaubens und die Freiheit eines Christenmenschen dann und wann auch zu kritischen Nachfragen motiviert, weil Christenmenschen nicht zu allem Ja und Amen sagen, was sich in Staat und Gesellschaft so tut, mag man lieber nicht hören. Auch das „christliche Menschenbild“ versteht sich offensichtlich nicht mehr von selbst. Immer wieder bekennen junge Abgeordnete mir gegenüber, dass Sie gar nicht wissen, was sie genau damit meinen. Das christliche Menschenbild bedarf der steten Erinnerung, der Plausibilisierung und der behutsamen Restauration vor dem Hintergrund neuer Probleme. Die Farben müssen aufgefrischt und die Konturen nachgezogen werden, damit es wieder glänzt und Klarheit verschafft. Die Rede vom christlichen Menschenbild bedarf erläuternder Lesehilfen und gegenwartsbezogener Auslegungen, die offen sind für neue Herausforderungen. Das ist eine große Herausforderung für die Kirchen!

Die Zeiten, wo die Frage nach den prägenden Spuren des Christentums selbst schon als reaktionär oder gar unangemessen galt, sind allerdings definitiv vorbei. Das ist ein gutes Zeichen. Es ist fast schick geworden, eine Konfession zu haben. Politiker, Schauspieler und Unternehmer bekennen sich wieder. Allerdings ist so manches Bekenntnis ziemlich irreführend. Die Bekenntnisse der Popdiva Madonna zur Kabbala mögen nach gründlichem Traditionsbezug klingen – mit der jüdischen Mystik hat diese Form esoterischer Lebensbewältigung der im Übrigen katholischen Musikerin nichts zu tun.

Selbst intime religiöse Bedürfnisse auszuplaudern, ist nicht mehr peinlich, sondern anrührend. Deshalb geht Komiker Harpe Kerkeling mit großer Ernsthaftigkeit den Jakobsweg und achthunderttausend Leser und Leserinnen gehen mit. Bin mal kurz weg, sagt er, winkt freundlich, während er schon loswandert und wir glauben ihm, daß er verändert zurückgekommen ist, weil er eine unverbrauchte Sprache findet für das, was ihm, dem Gottsucher, widerfahren ist. So waren wir so gut wie dabei, ohne uns auch nur eine Blase zu laufen.

Dazu kommt ein neuer Sinn fürs Monumentale und für die Lebendigkeit alter Traditionen, ein Bedürfnis, das den Medien in ihrer Gier nach dem außergewöhnlichen Bild gerade recht kommt. Religiöse Inszenierungen von Weltformat wie Papsttod und Papstwahl haben nicht nur gläubige Katholiken vor die Fernseher gelockt. Weltweit waren auch Künstler und Intellektuelle, Juden und Protestanten und Agnostiker geradezu berauscht von soviel fremder Gegenwärtigkeit, die sich in den alten Formen und Ritualen imponiert, die man längst verloren hat. Die ungebremste Kraft dieser religiösen Institution war wie ein Hoffnungszeichen, dem man möglicherweise schon längst keinen eigenen Glauben mehr entgegenbringt, wohl aber Respekt und vielleicht auch ein wenig Sehnsucht nach einer Orientierung, die größer ist als alle Vernunft. Zwischen Skepsis und Regressionsträumen hin und hergerissen, schwankten auch die Kommentare zwischen Tremendum und Faszinosum. Nur die sonst allgegenwärtige, bissige Kirchenkritik, die in den deutschen Medien sonst reflexhaft folgte, blieb diesmal fast gänzlich aus.

Im Gegenteil fordern Schriftsteller wie Martin Mosebach gegen die Häresie der Formlosigkeit die Rückkehr zur lateinischen Messe in tridentinischer Form. Ein Beispiel unter vielen Intellektuellen, die im Grunde die ästhetische Fremdheit des christlichen Glaubens betonen wollen. Die Welt- und Lebensnähe des christlichen Glaubens, seine Verantwortung für die Armen und Schwachen, seine Einmischung in ethische Debatten und seine öffentlichen Einreden in Form von Denkschriften ist ihnen ein Graus. So kommt ihnen die Kirche nämlich viel zu nahe. Sie fordern deshalb eine Gestalt des Christentums, die als das Andere ihres offenen Lebensstils funktioniert, als Gegengift des Antimodernen in der Moderne, die oft so schwer erträglich ist mit ihren Zumutungen, Verwirrungen und Gefährdungen.

Persönliche Konsequenzen für das eigene Leben muß dieser neue Sinn fürs Religiöse nicht haben, im Gegenteil, nur in gehöriger Distanz ragt das Monument aus uralten Zeiten hinein bis in unsere Gegenwart. Ob diese Religionsbegeisterung des Feuilletons mehr als eine Retromode ist, bleibt abzuwarten. In jedem Falle ist die neue Lust am Heiligen oft genug begleitet von der notorischen Verweigerung zur Theologie. Viel zu selten führt die Religionsbegeisterung zu eigenen, gelebten Formen der Frömmigkeit, über die der Weg auch mal wieder in einen Gottesdienst führt. Von Religion ist deshalb oft gar nicht die Rede, sondern von der Aura, der Macht, der Transzendenz, der Spiritualität. Bei aller Freude über die neue Gegenwärtigkeit der Religionsfragen ist Skepsis also angebracht.

Wer über die Wiederkehr der Religion redet, sollte auch gegenläufige Tendenzen nicht verschweigen, die sich mit Macht Gehör verschaffen. Der Wiederkehr sitzt das Verschwinden der Religion weiter im Nacken. Entkirchlichung und Entchristianisierung sind nicht aufgehalten oder überwunden. Wir haben es vielmehr mit einem sehr verworrenen Nebeneinander gegenläufiger Trends zu tun. Nicht nur wegen des viel beschworenen Traditionsabbruchs, der sich so schnell gar nicht rückgängig machen lässt. Die bloße Kenntnis der Grundlagen des Christentums nimmt deutlich ab, ist mit Händen zu greifen. Mittlerweile sorgen sich über diese Bildungskatastrophe nicht mehr nur die Geistlichen. Längst sind auch Museumsdirektoren, Buchverleger und Opernintendanten alarmiert. Denn es ist nur eine Frage der Zeit, und eine ganze Generation wird ähnlich ratlos vor den Bildern eines Rembrandt stehen wie vor einer Kirchentür. Die Lesbarkeit der kulturellen Zeichen ist gefährdet, wenn sich der Analphabetismus in Sachen Religion weiter ausbreitet. Es ist deshalb eine der größeren Herausforderungen von Kirche und Gesellschaft, hier mit bewährten Formen und kreativen Neuerungen religiöse Bildung zu garantieren, damit die dramatischen Orientierungsverluste nicht noch größer werden. Von religiöser Bildung hängt übrigens zu einem guten Stück auch die kulturelle Bildung ab. Das unterstreichen mittlerweile auch Vertreter der großen Kulturorganisationen.

In den neuen Bundesländern wird diese ererbte Gottlosigkeit in einem fatalen Generationenvertrag weitergegeben. „Sie haben vergessen, dass sie Gott vergessen haben“, hat Eberhard Jüngel einmal gesagt. Diese Religionsferne hat mit der religionskritischen Attitüde westdeutscher Intellektueller genauso wenig zu tun wie das religiöse Desinteresse einer westdeutschen Mittelschicht. Die Religionsferne wurde vor ein paar Generationen schlicht staatlich verordnet. Die Folgen sind verheerend. Nicht nur für die Seelen der Menschen. Auch die politische Gestaltung zehrt davon. In Berlin sieht man deutlich, was passiert, wenn eine politische Klasse quer durch alle Parteien davon überzeugt ist, dass Religion aus dem öffentlichen Raum verbannt werden muss, um die Gesellschaft vor ihr zu schützen. Der Religionsunterricht wird aus der öffentlichen Schule verbannt. In einigen Stadtteilen ist es seit neustem verboten, christliche Weihnachtslieder zu singen. Um der Integration der Kinder willen, die einer anderen Religion zugehören, lautet die Argumentation der Verantwortlichen. Dass der Staat sich so selbst weltanschaulich auflädt und Ansprüche formuliert, die in Deutschland den Religionsgemeinschaften und Kirchen anvertraut sind, kann man nicht oft genug betonen. Mit dieser Religionspolitik verwehrt man schon den Kleinsten einen spielerischen Zugang zu unserer Kultur, die auch für ein muslimisches oder atheistisch aufwachsendes Kind gar nicht ohne Christentum verstehbar ist. Und wenn so ein Fünfjähriges jetzt durch die Straßen geht, erfährt es von Weihnachten nur, dass die Menschen hektisch durch die Straßen rennen, während die Häuser festlich geschmückt sind und rote Plastikweihnachtsmänner sich als Fassadenkletterer betätigen. Den Ursprungsgrund für das Christfest erfahren sie nie. Diese Religionspolitik ist nicht nur dumm, sie ist gefährlich. Dabei könnte man die Kinder spielerisch in die Gehalte und Rituale der Advents- und Weihnachtszeit einführen. Bei der Gelegenheit könnten sie dann auch noch was über das Zuckerfest und Chanukka erfahren. Nicht die Abwesenheit, sondern die Einführung in die Religion macht kompetent im Umgang mit der Überzeugung der Anderen. Wer dagegen keine Religion hat, glaubt am Ende alles. Es passt übrigens ins Bild, dass die religions- und kirchenfeindliche Politik, die jede religiöse Überzeugung in die Ecke des Fundamentalismus rückt, auch vor dem Sonntag nicht halt macht. Wenn jeder Tag zum Werktag wird, dann ist das kein politisches Kavaliersdelikt, sondern eine Kulturrevolution durch die Hintertür, deren Folgen wir wohl erst in ein paar Jahren ermessen können.
 
Es gibt auch andere Indizien, dass die Wiederkehr des Religionsthemas auch starken Widerspruch erfährt. Wenn etwa der behutsamere Umgang mit religiösen Symbolen des Judentums, des Christentums und des Islams angemahnt wird, wenn Gläubige darauf hinweisen, dass sie Karikaturen, Satiren und andere Äußerungen als beleidigend empfinden, dann sehen andere die Kunst- und Meinungsfreiheit und das ganze Freiheitsgefüge unseres Verfassungsstaates schon bedroht. Als könnte man Freiheitsrechte, die nicht nur historisch so eng miteinander verbunden sind wie die Meinungs- und die Religionsfreiheit, so gegeneinander ausspielen. In einer offenen Gesellschaft jedoch, wo Menschen mit sehr unterschiedlichen Lebensüberzeugungen miteinander auskommen müssen, braucht es ein Grundmaß an Anstand, Takt und Respekt vor dem anderen. Schließlich gehört es zur Freiheit dazu, dass man nicht alles machen muss, was man kann. Das ist keine Zensur, sondern das Zeichen einer starken Persönlichkeit. Zu oft hat man den Eindruck, Tabus würden nur um der Tabus willen verletzt. Das verschafft kurzfristig Aufmerksamkeit, dient aber selten genug der Kunst selber. Selbstredend muss die Kirche sich auch Kritik gefallen lassen. Und die kritische Perspektive der Künste hat ihr oft genug auch neue Impulse gebracht. Schließlich ist die Ansprache Gottes an den Menschen nichts Museales, sie ist gegenwartsbezogen und kann auch die Sprachformen der Gegenwart gewinnen. Doch gehört es in einer offenen Gesellschaft dazu, dass Christen, Juden und Muslime ihre Perspektiven formulieren, in ruhigem Ton, ohne Erpressung, Drohung und Gewalt, aber in aller Entschiedenheit und mit klaren Worten. In einer Gesellschaft, der nur noch wenig heilig ist, ist es unsere Pflicht, auf das aufmerksam zu machen, was uns heilig ist - mit Überzeugungskraft, Glaubwürdigkeit und Phantasie.