Festrede zur Eröffnung der Kulturkirche St. Stephani in Bremen

Petra Bahr

Sehr geehrte Damen und Herren,

Bremen hat eine Kulturkirche. Das ist wahrlich ein Grund zum Feiern. Die große Innenstadtkirche St. Stephanie drohte zu verwaisen und als Symbol für den melancholischen Abschied vom öffentlichen Anspruch des Christentums zu enden - nicht wegen kirchenfeindlicher Tendenzen oder neuer Austrittswellen, sondern weil hier greifbar wird, was allenthalben und nicht nur in der Kirche Grund zur Neuorientierung ist. Die Gesellschaft hat sich verändert. Sie altert, sie muss mit verschärftem religiösen Pluralismus umgehen, mit Traditionsabbrüchen aller Art, mit ökonomischen Krisen und mit geistigen Orientierungskrisen.

Das geht an der Kirche nicht spurlos vorbei. Doch heute ist St. Stephani proppevoll. Wir alle sitzen in einem verwandelten, ja strahlenden Gebäude, das sich einerseits selbst treu geblieben ist und doch wie ein Versprechen zeigt, dass hier ein neuer Geist einziehen soll; „Aufbruch statt Abbruch" – so steht es wie ein Menetekel an den Wänden. So mancher mag mit Traurigkeit oder Häme der vermeintlich unaufhaltbaren Entwicklung des Kirchensterbens entgegengesehen haben – Bremen setzt ein gegenläufiges Zeichen, ein starkes Symbol dafür, dass Krisen das Moment des Aufbruchs und der Neuorientierung in sich tragen. Und wer sollte so ein Zeichen des Neubeginns auch setzen, wenn nicht die, die der Zuversicht des christlichen Glaubens verpflichtet sind, gegen Mutlosigkeit, Fatalismus und der guten alten Angst vor Veränderung, die wir wohl alle kennen.

Gegen Bedenken und Kritik, gegen berechtigte und unberechtigte Fragen, gegen den deutschen Zeitgeist des "wenn und abers", gegen die ordentlich gepflegte Bedenkenträgerei, sicherlich auch gegen die eigenen Selbstzweifel und Vorbehalte, gegen allerhand Ungeklärtes und Nichtabsehbares feiern wir heute den neuen Raum der Begegnung zwischen Kultur und Kirche. Es ist in meiner noch kurzen Amtszeit als Kulturbeauftragte die erste Eröffnung dieser Art und ich bin glücklich und dankbar, hier dabei sein zu dürfen. Nun mag trotz aufgeräumter Stimmung dem einen oder der anderen immer noch die Skepsis im festlich geschmückten Nacken sitzen. Gegenargumente sind hartnäckig, vor allem dann, wenn die Finanzen nur enge Spielräume lassen.

Eine Kulturkirche für Bremen – ist das nicht, als setzte man einen weißen Schimmel neben die Bremer Stadtmusikanten? Was für eine Eselei, denkt sich vielleicht das prominente Trägertier mit Seitenblick auf St. Stephani und schüttelt seinen arg strapazierten Bronzekopf. Das ist doch doppelt gemoppelt, denkt er – und mir ihm vielleicht so mancher, der in diesen Tagen auf die Neueröffnung aufmerksam wird. Eine Kulturkirche, was für ein aufgeblasenes Wort für eine Selbstverständlichkeit. Schließlich ist jede Kirche im Grunde eine Kulturkirche – oder sollte es zumindest sein.

Die Kirche hat unsere Kultur geprägt, in unsichtbarem und in sichtbarem Sinne, durch die Erzählungen des Christentums, durch ihre Rituale und ihre sinnlichen Zeichen, durch Musik, Bilder und die Grundvorstellungen vom gelingenden Leben. Die Spur des christlichen Glaubens zieht sich durch Kunst- und Literaturgeschichte mit gleicher Kraft wie durch die politische Geschichte. Diese Spur ist manchmal nur schwer erkennbar, manchmal mutwillig verwischt und manchmal aus guten Gründen nur noch als Randphänomen geachtet.

Doch ist die Kirche Teil der Kultur, wie der christliche Glaube Teil des Lebens ist. Vor allem die Geschichte zwischen Künsten und Kirche ist oft genug skandalträchtig und voller Konflikte. Bremen selbst kann ja in jüngerer Zeit ein paar Kapitel zu dieser Konfliktgeschichte hinzufügen. Künste und Kirche, das ist eine Beziehung aus Missverständnissen, Kleinlichkeit, pubertären Tabubrüchen auf der einen Seite und pubertärer Aufsässigkeit auf der anderen Seite. Kleinliche Milieuverengung vieler Christenmenschen trifft oft genug auf bornierte Unkenntnis und Klischees, die man bei Künstlern eigentlich gar nicht vermuten sollte. Und dennoch: selbst der heftigste Streit um die Bilder weist ja auf eine bleibende Beziehung. Die Kirche ist Teil der Kultur, in der wir leben – auch als Monument, als Architektur und als öffentlicher Ort. Und sogar die Gottesdienste sind als kulturelle Zeichen zu entziffern.

In jüngster Zeit mahnen sogar Museumsdirektoren, Galeristen und Opernintendantinnen, dass kulturelle Bildung auch religiöse Bildung bräuchte, damit die kulturellen Zeichen in Zukunft noch zu lesen sind. Denn nicht nur vor einem Rembrandt hilft die zumindest rudimentäre Kenntnis von biblischen Geschichten. Auch die Gegenwartskunst spielt mit der Zeichenwelt des Christentums, manchmal ironisch gebrochen und manchmal mit gehöriger Lust am Tabubruch, aber selbst ärgerliche Tabubrüche versteht ja nur, wer die Zeichen noch lesen kann, gegen die er sich richtet.

Wer nicht mehr weiß, was am Kreuz geschah, wird religiöse Symbole weder achten noch künstlerisch deuten können. Wer die Geschichten des Barmherzigen Samariters ebenso wenig kennt wie den kühnen theologischen Gedanken vom Menschen als dem Ebenbild Gottes, wird zumindest einiger sehr starker Bilder beraubt, die ihm erklären, was um Himmels Willen denn mit der Idee der Menschenwürde gemeint ist, die immerhin das Zentralsymbol unserer Verfassung ist. Und wer die abstrakte Rede von den christlichen Werten nicht mit glaubwürdigen Geschichten füllt, dessen Beschwörungen bleiben wohl folgenlos.

Sie ahnen schon, worauf ich hinaus will. Natürlich ist jede Kirche eine Kulturkirche. Und jeder Gottesdienst ist in gewisser Weise auch ein kulturelles Ereignis. Oder sollte es zumindest sein. Doch beide, die Kultur und die Kirche, müssen offensichtlich daran erinnert werden, dass Künste und christliche Religion sich was zusagen haben. Denn leider ist es ja oft so, dass das, was sich von selbst versteht, häufig gar nicht mehr wahrgenommen wird. Die Beziehung beider wird unsichtbar, sie wird vernachlässigt und so wenig gepflegt, dass sie sich selbst gefährdet und zu einer öden Beziehungskiste verkommt – ohne Leidenschaft, ohne Streit, ohne geteilte Anliegen.

Das gilt zu allererst für die Kirche. Christenmenschen haben sich in den letzten Jahrzehnten in ästhetischen Fragen oft genug mit sehr wenig zufrieden gegeben. Kirchräume sollten so gemütlich werden wie das Wohnzimmer mit Yuccapalme und Ikearegal, die Künste möglichst gefällig und dekorativ, Musik so leicht, dass sich oft schon nach Monaten keiner mehr an den letzten Kirchenschlager erinnerte. Die Pfarrer und Pfarrerinnen fühlten sich bei politischen Versammlungen oft wohler als in der Galerie, auf Filmfestivals oder in der Lyrikabteilung des Buchladens um die Ecke. Und die Künste der Gegenwart zogen an den Kirchenräumen oft genug vorbei. Oft genug glaubten wir Protestanten und Protestantinnen, das soziale Engagement gegen die Kulturoffenheit ausspielen zu müssen.

Da der Vorrang für die Armen, hier die Nachhut der Bildungsbürger. Eine ärgerliche und ganz unevangelische Perspektive, der nicht zuletzt oft genug auch die Sinnlichkeit des Glaubens selbst zum Opfer gefallen ist. Nichts gegen politische Einrede und ethisches Engagement. Im Gegenteil. Doch wenn es stimmt, dass das Christentum aufs Ganze geht und deshalb auch der ganze Mensch angesprochen sein will, geht der christliche Glaube in Denkschriften und Diskursen nicht auf. Er will gefeiert werden. Er braucht Orte des Vergnügens und sinnfälligen Einspruchs, er braucht den Streit um die angemessene Darstellung, er braucht neue Bilder, die gegen die eigenen Klischees angehen können, er bedarf der Suche nach neuer, unverbrauchter Sprache nicht aus dem Weg zu gehen und er probiert neben den Ohrwürmern der Kirchenmusik diverse neue Sounds.

Wer davon überzeugt ist, dass der christliche Glaube in der Gegenwart relevant ist, kann ohne die Gegenwart der Künste nicht auskommen. Deshalb öffnet mitten in Bremen eine Kulturkirche. Als Raum der Begegnung, der geprägt ist vom Geist der evangelischen Freiheit. Wenn ich die Initiatoren des Projektes richtig verstehe, dann geht es ihnen nicht darum, den vielen Spiel- und Ausstellungsorten der Stadt noch eine weitere, coolere Location hinzuzufügen. St. Stephani ist keine Galerie, kein white cube und kein Museum, kein Konzertsaal und kein Kino. Obwohl der Kirchraum sich zeitweise in alles dieses verwandeln kann. Als Kulturkirche bleibt dieser Ort ein geprägter Raum, ein Ort, an dem sich nach wie vor Christen versammeln, um Gottesdienste zu feiern.

Eine Kulturkirche betont ihr Kultursein, nicht um die anderen Kirchen auszustechen, sondern um eine besondere Verantwortung zu übernehmen. Sie sollte deshalb nicht als Konkurrenz, sondern als Entlastung und Bereicherung für alle Gemeinden Bremens empfunden werden. Eine Kulturkirche ist noch keine Marke. Sie muss erst eine werden. Die Glaubwürdigkeit in Begegnung mit den Künsten kann man nicht verordnen oder im Vorhinein verkünden, sie muss sich erweisen. Durch Projekte und Experimente, die durch eine echte Begegnung geprägt ist. Dialog ist ein ziemlich abgenutztes Wort, weil wir mittlerweile immer unterstellen, dass Dialoge harmlos sind.

Mit Blick auf den interreligiösen Dialog haben wird sogar langsam begriffen, dass Dialogbereitschaft leider auch dann und wann die Gefahr der Selbstverleugnung in sich trägt – um des lieben Friedens willen. Wer den Dialog mit den Künsten sucht, muss sich darauf gefasst machen, dass auch mal die Fetzen fliegen. Doch auch der Streit zwischen Kunst und Kirche kann äußerst heilsam sein. Weil Funken fliegen, die neues Feuer entzünden. Weil Energien freigesetzt werden, mit denen keiner rechnet. Ich habe im letzten Jahr gelernt, dass Künstler immer dann besonders angeregt sind, wenn die Kirche ihnen als starkes Gegenüber entgegentritt.

Nicht im Sinne der Überheblichkeit, der Belehrung oder des Immerschonbesserwissens, sondern weil sie sich in ihren eigenen Dingen auskennt und das auch zeigt. Umgekehrt braucht Kunst Freiheit, damit sie sich nicht in Klischees erschöpft. Diese Freiheit einzuräumen braucht Profis, die das Projekt Kulturkirche Stephani begleiten: Kuratoren, Galeristen, Autoren, Vermittler, Wissenschaftler, die dieses Projekt zu ihrer Sache machen und die es aushalten, dass ein Experiment auch mal scheitern kann. Wer sich so weit vorwagt, braucht Fehlerfreundlichkeit, langen Atem und jede Menge Phantasie. Martin Luther hat einmal gesagt, der Glaube sei eine fides creatrix. Der Glaube macht kreativ. Wer hätte das gedacht. Ich wünsche Ihnen allen und denen, die dem Projekt ab jetzt die Freundschaft halten, auch wenn es mal schwierig wird, dass Sie gegen alle Zaghaftigkeit, die Umstände nun mal mit sich bringen, von dieser fides creatrix angesteckt bleiben. Zum Wohle der Stadt, deren Bestes Christenmenschen suchen. Gottes Segen dafür.