Impulsvortrag auf dem Kirchentag in Köln: "Wie hältst du's mit der Religionsfreiheit?" - Podienreihe im "Zentrum Begegnung mit Muslimen"

Wolfgang Huber


„Wie hast du’s mit der Religion“ fragt Gretchen in Goethes Faust ihren Heinrich und fügt gleich die Mutmaßung an: „Ich glaub’, du hältst nicht viel davon.“ Faust redet sich darauf hinaus, die Frage sei zu hoch, als dass man über Gott sagen könne: „Ich glaub’ ihn“ – oder: „Ich glaub’ ihn nicht.“

Um es ganz klar zu sagen: Auf die Religionsfreiheit kann man eine solche Haltung nicht übertragen. Die Religionsfreiheit verträgt nur ein Ja, ohne Wenn und Aber. Auf die Frage nach der Religionsfreiheit kann man nicht antworten: „Wer darf ihn nennen? Und wer bekennen: Ich glaub’ ihn? Wer empfinden und sich unterwinden zu sagen: ich glaub’ ihn nicht?“ Im Blick auf die Religionsfreiheit klingt Goethes Pathos nur hohl.

Gewiss stimmt es – und es sei gleich zu Beginn unterstrichen: Die Religionsfreiheit wurde zu erheblichen Teilen gegen christliche Großkirchen erstritten. Aber es stimmt auch – und auch das sei gleich zu Beginn hervorgehoben: Das Verlangen nach Religionsfreiheit ist aus dem Geist des christlichen Glaubens erwachsen. Und vor allem: Für Christen gibt es zum Eintreten für die Religionsfreiheit keine Alternative. Wir müssen darauf bestehen, dass die Religionsfreiheit für alle und an allen Orten gilt und anerkannt wird. Und das heißt selbstverständlich: für Muslime in Deutschland  genauso wie für Christen in der Türkei.

Für mich liegt darin eine unumgängliche Voraussetzung aller weiteren Überlegungen. In der Kürze der Zeit konzentriere ich mich auf vier Punkte; von ihnen ist der erste der längste.

1.
Die Religionsfreiheit ist ein Menschenrecht; als solches beansprucht sie universale Geltung.

In Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950 wird dieses Menschenrecht so formuliert: „Jedermann hat Anspruch auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht umfasst die Freiheit des einzelnen zum Wechsel der Religion oder Weltanschauung sowie die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen öffentlich oder privat, durch Gottesdienst, Unterricht, durch die Ausübung und Beachtung religiöser Gebräuche auszuüben.“

Die Religionsfreiheit gründet im Gewissen des einzelnen. Sie darf ihm nicht geraubt werden. Deshalb wurde die Religionsfreiheit nach der Wiederentdeckung der Gewissensfreiheit in der Reformation zuerst von Minderheiten eingefordert und eingeklagt. Sie war zuallererst als Freiheit zur Religion gemeint. Aber sie schließt das Recht zur Freiheit von der Religion ein. Die Verhältnisse kehren sich jedoch um, wenn der Freiheit von der Religion der Vorrang vor der Freiheit zur Religion zuerkannt wird. Einem solchen Ungleichgewicht treten Christen beherzt entgegen.

Die Religionsfreiheit schließt das Recht zum Wechsel der Religion oder Weltanschauung ein. Das hat die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 in ihrem Artikel 18 genauso anerkannt wie die Europäische Menschenrechtskonvention von 1950. Das veranlasste damals Saudi-Arabien, der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte die Zustimmung zu verweigern. Als die Vereinten Nationen im Jahr 1966 die Menschenrechte in dem Internationalen Pakt über staatsbürgerliche und politische Rechte mit rechtlicher Verbindlichkeit ausstatten wollten, war das Recht, die Religion zu wechseln, verschwunden; die Rede war (ebenfalls in Artikel 18) nur noch von dem Recht, „eine Religion oder Weltanschauung eigener Wahl zu haben oder anzunehmen“. Dass das Recht, eine Religion „abzulegen“ oder zu „wechseln“, nicht mehr vorkam, war der Preis, der für die Zustimmung von islamisch geprägten Staaten gezahlt wurde. Dieser Preis war genauso hoch wie die Konzession, die gegenüber den USA und anderen Staaten dadurch geleistet wurde, dass in diesem Pakt von 1966  die Todesstrafe anerkannt und lediglich ihre Verhängung auf „schwerste Verbrechen“ beschränkt wurde, die zu dem Zeitpunkt, zu dem sie verübt wurden, bereits mit der Todesstrafe bedroht waren.

In beiden Fällen handelt es sich um verhängnisvolle Einschränkungen der Menschenrechte. Was die Religionsfreiheit betrifft, hat sich die Situation seitdem generell nicht verbessert. In islamischen Staaten gilt die Abwendung vom Islam als „Abfall“, der in einer Reihe von Ländern mit der Todesstrafe bedroht ist. Die Verkündigung anderer Glaubensweisen neben dem Islam wird vielfach unterdrückt. So wird in der Türkei der Ausdruck „Missionar“ nur in ablehnendem Sinn verwendet und nur auf Christen angewandt, die von ihrem Glauben auch in der türkischen Gesellschaft Zeugnis ablegen wollen. Wozu Menschen dadurch verleitet werden, wurde im April durch den Mord an drei Mitarbeitern des Zirve-Verlags in der ostanatolischen Stadt Malatya deutlich, zu denen auch der aus Deutschland stammende evangelische Christ Tilman Geske gehörte. Nach wie vor verbindet sich für mich die Erschütterung über diesen Vorgang mit der Bewunderung für Susanne Geske, die sich dazu entschlossen hat, nach der Ermordung ihres Mannes mit ihren drei Kindern in Malatya zu bleiben. Aber zugleich wurde dieser Vorgang zu einem Symbol dafür, in wie starkem Maß die Religionsfreiheit in unserer Gegenwart bedroht ist.

Umso mehr Beachtung verdient die Tatsache, dass der Zentralrat der Muslime in Deutschland in seiner Islamischen Charta von 2002 ausdrücklich feststellt: „Die im Zentralrat vertretenen Muslime akzeptieren das Recht, die Religion zu wechseln, eine andere oder gar keine Religion zu haben.“ Es ist zu wünschen und zu fördern, dass diese Auffassung sich möglichst weit ausbreitet und dass aus dem „Akzeptieren“ allmählich ein „Bejahen“ wird. Einstweilen gibt es auch in Deutschland ehemalige Muslime, die nicht wagen, ihren Übertritt zum christlichen Glauben öffentlich erkennbar zu machen, weil sie sich vor Repressalien fürchten; und ich glaube, wir sind uns einig darüber: Das muss sich ändern!

Wenn wir von der Religionsfreiheit sprechen, müssen wir deshalb heute mit neuem Nachdruck das individuelle Recht jedes einzelnen betonen, eine Religion zu haben oder auch keine, sie zu wechseln und sich öffentlich zu seiner Überzeugung zu bekennen. Im Dialog der Religionen ist das ein unbequemes Thema. Aber Appeasement an dieser Stelle wäre Verrat an der Religionsfreiheit selbst.

2.
Zur Religionsfreiheit, so sagt die Europäische Menschenrechtskonvention, gehört das Recht, „seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen öffentlich oder privat, durch Gottesdienst, Unterricht, durch die Ausübung und Beachtung religiöser Gebräuche auszuüben.“

Mit dieser Formulierung wird zum Ausdruck gebracht, dass Religionsfreiheit nicht nur ein Recht des Individuums ist, sondern dass sich diese Freiheit vielmehr auch in der gemeinschaftlichen Ausübung von Religion entfaltet. Sie gilt deshalb in Deutschland auch für andere Religionen, auch für Muslime und Aleviten, sie ist keineswegs nur auf Christen beschränkt.

Dieses Recht hat im deutschen Grundgesetz eine konkrete, durch die deutsche Geschichte geprägte Gestalt angenommen. Die Rolle der Kirchen in Deutschland hat sich zwar historisch besonders ausgeformt; sie trägt aber nicht den Charakter eines Privilegs, das anderen prinzipiell vorenthalten würde. Vielmehr wird die individuelle wie die korporative Religionsfreiheit allen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften gleichermaßen zuerkannt. Die evangelischen Kirchen in Deutschland treten seit mehr als zehn Jahren für muslimischen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen und d.h. schon lange und mit Beharrlichkeit für die korporative Religionsfreiheit der Muslime ein.

Dabei bleibt es richtig: Die den Religionsgemeinschaften in Deutschland zuerkannten Rechte sind auf Verbände ausgerichtet, die durch Mitgliedschaft geprägt sind. Religionsgemeinschaften organisieren sich als Vereine; sie können den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts beantragen und erhalten, „wenn sie (wie unsere Verfassung ausdrücklich sagt) durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer bieten“ (Art. 137, 5 Weimarer Reichsverfassung in Verbindung mit Art. 140 Grundgesetz). Angesichts der Organisationsformen des Islam stößt diese Orientierung an der Mitgliedschaft bisher auf erhebliche Schwierigkeiten. Das ist übrigens nicht zwingend so, wie das Beispiel Österreichs zeigt, wo schon im 19. Jahrhundert eine islamische Religionsgemeinschaft gebildet wurde. Nicht wegen einer Anpassung an die christlichen Kirchen, sondern wegen des stärkeren Zugangs zur korporativen Religionsfreiheit auch für Muslime möchte man sich wünschen, dass auch in Deutschland vergleichbare Schritte in Gang kommen.

3.
Das abendländische Christentum hat in seiner Geschichte oftmals Andersdenkende ausgeschlossen, bekämpft und vertrieben. Erst mit der wechselseitigen Unabhängigkeit von Staat und Religion wurde es möglich, unterschiedlichen religiösen Überzeugungen innerhalb ein und derselben Rechtsordnung einen angemessenen und gleichrangigen Ort zu gewährleisten.

Diese historische Erfahrung spricht dafür, dass Religionsfreiheit als universales Menschenrecht nur verwirklicht und gesichert werden kann, wenn die staatliche Ordnung einen säkularen, demokratischen Charakter trägt und  eine Pluralität von Meinungen und Gruppen zulässt. Der politische Durchsetzungsanspruch von Religionen muss so weit zurückgenommen werden, dass die Gleichstellung und Gleichbehandlung aller Religionen gewährleistet ist und den Religionsgemeinschaften die Freiheit in der Regelung ihrer Überzeugungen und Angelegenheiten zuerkannt wird.

Ein so gearteter säkularer und pluraler Verfassungsstaat muss darauf verzichten, sich selbst religiös zu begründen oder sich mit einer über dem Recht stehenden religiösen Legitimation zu versehen. Doch das schließt nicht aus, dass die staatliche Ordnung in einer Verantwortung "vor Gott und den Menschen" begründet wird. Dass die Präambel diesen Verantwortungshorizont ausdrücklich zur Sprache bringt, engt die Religionsfreiheit in keiner Weise ein. Auch wenn eine europäische Verfassung sich ausdrücklich zur Verantwortung vor Gott und den Menschen und zur Bedeutung der jüdisch-christlichen Tradition bekennen würde, wäre das keine Einschränkung der Religionsfreiheit. Es wäre der Hinweis darauf, warum die Würde des Menschen schlechterdings unantastbar ist. Ein solcher Hinweis tut jeder Verfassungsordnung gut.

4.
Religionsfreiheit ist nicht nur bequem. Denn Religion ist nicht nur gut. Sie fördert nicht nur den Frieden, sondern auch den Konflikt. Sie überwindet nicht nur Gewalt, sondern steigert sie auch. Wir kennen die Rechtfertigung von Gewalt im Judentum, im Christentum und im Islam. Wir werden die unfriedlichen Folgen der Religion in allen drei Bereichen nur in dem Maß überwinden, in dem wir zu selbstkritischen Korrekturen bereit und im Stande sind. Dabei sollten die Religionen sich gegenseitig unterstützen. Ihre Dialoge sollten sie so führen, dass solche selbstkritischen Korrekturen möglich werden. Das aber kann nur gelingen, wenn die strittigen Themen angesprochen werden. Das Thema „Religion und Gewalt“ gehört dazu.

Natürlich wird immer wieder gefragt, ob sich extremistische Gruppen gezielt der Spielräume freiheitlicher Gesellschaften bedienen, um diese zu bekämpfen. Am Beispiel des Kalifatstaats in Köln hat sich auch die Notwendigkeit gezeigt, staatlicherseits tätig zu werden. Doch ein Generalverdacht gegen eine Religion als solche und alle ihre Anhänger darf aus solchen Vorgängen nicht abgeleitet werden. In der Handreichung der Evangelischen Kirche in Deutschland wird ein solcher Generalverdacht nicht erhoben; die Handreichung will differenzieren. Erst recht darf man nicht der Versuchung nachgeben, die Religionsfreiheit generell einzuschränken.

Denn das wäre nicht der richtige Weg, um die Friedensverantwortung der Religionen und die Friedensfähigkeit einer freiheitlichen Gesellschaft zu sichern und zu stärken.
Aber zum Dialog der Religionen gehört auch die Einsicht, dass mit der Religionsfreiheit nicht jede denkbare Äußerung sakrosankt ist. Gerade weil der Staat sich in seiner Religionsneutralität von der inhaltlichen Beurteilung religiöser Überzeugungen fern hält, muss die Debatte in den Religionsgemeinschaften und zwischen ihnen bis zu inhaltlichen Fragen vordringen. Ein fairer Streit um die Wahrheit und das Ringen um gute Wege in die Zukunft gehören zu den substantiellen Gestalten der Religionsfreiheit selbst. Denn Toleranz ist nicht Beliebigkeit, sondern entsteht aus innerer Überzeugung. Um eine solche Toleranz lasst uns streiten; gerade damit wird der Religionsfreiheit selbst ein guter und wichtiger Dienst geleistet.