„Können hunderttausend Propheten irren?“ - Bibelarbeit beim Kirchentag in Köln (Jeremia 23, 16-32)

Petra Bahr

„Lebendig und kräftig und schärfer…“ so lautet das Motto des Kirchentags. Das Wort Gottes solle man kräftig reiben wie ein Kräutlein, hat Martin Luther einmal gesagt. Das ist Bibelarbeit, wie er sie versteht. Ein ziemlich gewöhnliches Bild, könnte man meinen. Die Heilige Schrift so behandeln wie die Kräuter auf dem Küchenfenster oder beim Waldspaziergang? Ist das nicht despektierlich?

Es gibt das Gerücht, dass Luther nicht nur ein Gourmet, sondern auch ein ziemlich guter Koch gewesen sei. Einer, der Nase und Zungennerven schulte wie sein theologisches Urteilsvermögen. Für einen Koch sind die Kräuter das A und O einer guten Küche. Außerdem hat er als Mönch sicher die Freuden des Klostergartens genossen. Deshalb ist Luthers Rat keine unflätige Profanisierung, sondern ein Plädoyer, Gottes Wort mit allen Sinnen zu gebrauchen. Nicht als Orchideenpflanze auf der Fensterbank, sondern als Alltagskraut, das man in die Finger nimmt. Vor allem aber ist das Bild von der Schrift als Kräutlein ein Plädoyer fürs Genaunehmen des Wortes Gottes. Ein Plädoyer fürs „Immer-wieder-neu-Nehmen“ auch. Für das behutsame Wahrnehmen der Feinheiten und Grobheiten einer Textur. Ein Plädoyer für die Schärfung unseres geistlichen Sinns. Entdeckt die Geruchsnuancen, die ihr schon lange vergessen habt, weil ihr im Leben oft lieber zur Maggi-Instantwürze greift, ruft Luther uns mit dem Bild vom Kräuterreiben zu. Nutzt die therapeutische Kraft von Gottes Wort, weil seine Essenzen Kopf- und Weltschmerz zu heilen vermögen. Lasst euch einhüllen in die Düfte, die ihr liebt. Die euch anziehend und schön machen. Öffnet euch aber auch fremden Reizen, von denen ihr noch gar nichts wusstet. Sie haben die Kraft, euch zu verwandeln. Wie fünf Blätter Basilikum einer Tomatensuppe einen anderen Grundgeschmack geben. „Lebendig und kräftig und schärfer.“ Wenn Luther die Bibel liest, sind alle Sinne sind im Alarmzustand. Er kaut die Worte, er schnuppert an den Bedeutungen. Er testet ihren Sinn. Und der Geist folgt nach. Jetzt gilt es, die Details wahrzunehmen. Die ätherischen Öle, die uns den Kopf frei machen. Die zitronigen Nuancen, die unseren Geist erfrischen. Ein zauberhafter Duft von irgendwoher – um unsere Einbildungskraft zu locken. Schärfe und Süße, die unseren Verstand anregen. Gottes Wort muss man riechen und schmecken, sagt der große Reformator. Es soll schließlich durch alle Poren unserer Existenz gehen, unter der Haut hindurch mitten ins Herz. Also nehme man es zwischen die Hände und bewege das Kraut Gottes vorsichtig zwischen den Fingern, langsam, damit nicht alles auf einmal zerfalle. Dann halte man es sich unter die Nase. Einmal tief durchatmen. Die Düfte und Essenzen tief in die Schleimhäute eindringen lassen. Ausatmen. Der Text für die heutige Bibelarbeit hat seinen ganz eigenen Geruch. Wer es reibt wie ein Kräuterbündel, der sei gewarnt. Sein Duft entführt uns nicht auf eine Blumenwiese. Seine Würze hat mich umgehauen. Seine Sprache brennt. Sein Ton ist scharf. Dies Kräuterlein hat mir die Tränen in die Augen getrieben und mich hektisch nach dem Wasserglas suchen lassen, um das Feuer zu löschen, das sich in den Geschmacksnerven entzündet hat. In der Welt der Gewürze gehört unser Bibeltext eher ins Regal, wo Chilischoten und orientalischer Pfeffer stehen. Und mit der Dosierung hat er auch nicht gegeizt. Jede Menge Bitterkraut ist dabei. „Lebendig und kräftig und schärfer…“. Der Text aus dem Prophetenbuch des Jeremia ist nichts für empfindliche Nasen. Hören Sie selbst und reiben Sie mit mir das Kräutlein, das uns heute anvertraut ist. Ich lese nach dem Übersetzungsvorschlag des Kirchentages, der mit Hilfe der Übersetzung Martin Luthers leicht verändert wurde:

So spricht Gott, der Herr, der über Heere herrscht:

Hört nicht auf die Worte der Propheten und Prophetinnen, sie machen euch bloßen Dunst vor. Die Vision ihres eigenen Herzens verkünden sie, nicht aber, was aus dem Munde Gottes kommt.

Zu denen, die mich nicht achten, sagen sie immer wieder: „Gott, der Herr hat geredet: Gut wird es euch gehen!“. Und zu all denen, die dem Starrsinn ihres Herzens folgen, sagen sie: „Kein Unglück kommt über euch.“

Doch wer stand denn in den geheimen Beratungen Gottes dabei, sah und hörte Gottes Wort? Wer also hat Gottes Wort vernommen und gehört? Gebt Acht, Gottes Sturm, Zornglut bricht los, ein Sturmwind wirbelt, fegt um die Köpfe derer, die Böses tun. Gottes Wutschnauben wird nicht wieder ablassen, ehe nicht die Vorhaben des göttlichen Herzens getan und ausgeführt sind. Doch letztlich werdet ihr es klar erkennen:

Ich habe sie nicht gesandt, um prophetisch zu reden,

dennoch laufen sie.

Ich habe nicht zu ihnen gesprochen, dennoch reden sie prophetisch.

Hätten sie in meiner geheimen Beratung dabei gestanden, würden sie mein Volk meine Worte hören lassen und es zur Umkehr von seinen bösen Taten bewegen.

Bin ich nur Gott, wenn ich nahe bin? Bin ich nicht auch Gott, wenn ich ferne bin?
Können sich Menschen in Schlupfwinkeln verbergen, ohne dass ich sie sehe? Spricht Gott, der Herr. Fülle ich nicht Himmel und Erde aus? Spricht Gott, der Herr. Ich habe gehört, was die Propheten und Prophetinnen in meinem Namen Trügerisches prophezeien: „Ich habe einen Traum. Ich habe einen Traum.“
Wie lange noch? (Quo usque tandem)

Was haben die im Sinn, die Trügerisches prophezeien und die Täuschungen ihres Herzens verkünden? Was denken sie sich? Wollen sie meinen Namen bei meinem Volk in Vergessenheit bringen durch ihre Träume, die sie sich gegenseitig erzählen, so wie ihre Vorfahren meinen Namen über Baal vergaßen? Wer als Prophet oder Prophetin einen Traum hat, erzähle einen Traum. Wer aber mein Wort hat, der rede wahrhaft mein Wort. Was soll das Stroh bei dem Korn? Spricht Gott.

Ist nicht so mein Wort: wie Feuer und wie ein Hammer, das Felsen zerschlägt?

Deshalb bin ich gegen die, die prophetisch reden und dabei einander meine Worte stehlen.

Ja, ich bin gegen die, die prophetisch reden und sich dabei ihre eigenen Worte herausnehmen und als Gottesspruch ausgeben.

Ja, ich bin gegen sie, die trügerische Träume prophezeien.

Sie erzählen sie und führen mein Volk in die Irre mit ihren Trugbildern und ihren Schaumschlägereien.

Ich habe sie nicht gesandt.

Ich habe sie nicht beauftragt.

Nützen, nützen tun sie diesem Volk nichts, spricht Gott.

„Lebendig und kräftig und schärfer“ – wenn irgendein Text die Kirchentagslosung wahr macht, dann ist es wohl diese Wutrede des Jeremia. Wer sich da angeredet fühlt, muss bis aufs Mark erschrecken. „Ich habe sie nicht gesandt. Ich habe nicht zu ihnen gesprochen. Ich habe sie nicht beauftragt. Spricht der Herr. Sie nützen meinem Volk gar nichts.“ Schärfer könnte das Urteil über einen Propheten nicht ausfallen. Jeremia spricht den Prophetenkollegen alles ab, worauf sie sich berufen. Er nimmt ihnen jede Legitimation für ihr Sprechen. Er bestreitet ihren Auftrag, ihre Botschaft und schlussendlich ihre ganze Existenz. Das, was sie als prophetische Rede ausgeben, ist in den Augen des Jeremia ein gemeiner Betrug, das geschickt inszenierte Manöver, das ein ganzes Volk an der Nase herum führt. Ein Volk, das Orientierung sucht. Das nach Werten hungert und nach verlässlichen Kriterien für die Gestaltung seiner Zukunft.

Doch die Weisheit der Propheten ist nur Besserwisserei. Sagt Jeremia. Der Brustton ihrer Überzeugung ist der Eitelkeit geschuldet. Die Stimme, die dem Propheten souffliert, entstammt dem Selbstgespräch. Die Träume, die sie erzählen, sind nur Projektionen ihrer eigenen Wünsche. Ihre Vollmacht nur Ehrgeiz nach Erfolg. Und das Diabolische: keiner merkt es. Die Menschen vertrauen der Botschaft ihrer Geisterseher, Träumer und Himmelsdeuter. Sie vertrauen ihnen ihr Leben an. Ihre Botschaft beruhigt. Ihre öffentlichen Auftritte enden immer mit einem ermutigendem Satz. Die Segensformel der Zeit: „Alles wird gut“. „Alles wird gut“ - so moderieren die Propheten ihre Zeitansage ab. Propheten sind im Israel in den Tagen des Jeremia die Orientierungsgeber der Zeit. Sie verdingen sich als Politikberater, als Therapeuten für die Mächtigen und als Medienvertreter höherer Ordnung. Ihre Kunde macht Quote. Ihre Rhetorik ist mitreißend. Es gibt Standing Ovations und rote Teppiche. Die Propheten sind Eingeweihte, die geheimnisvolle Zeichen der Zeit lesbar machen sollen. Sie sollen das Uneindeutige eindeutig und das Unbestimmte bestimmt machen. Um der offenen Gegenwart den Schrecken zu nehmen. Die Zeichen der Natur und die Zeichen der Geschichte bedürfen ihrer Lesekompetenz. Das lassen sie sich was kosten. Und nun zeigt einer mit dem Finger auf sie. Nun will einer entlarven. Und aufdecken. Und Klarheit schaffen.

Die so Bloßgestellten haben sich gewehrt. So viel ist sicher. Ihre Reaktion ist an anderer Stelle im Prophetenbuch des Jeremia überliefert. Jeremia wird unter Druck gesetzt, isoliert, bedroht. Mobbing im Prophetenhaus.

Hand aufs Herz. Wer will schon gerne ein falscher Prophet sein. Die falschen Propheten – das sind immer die anderen. Jeremia erscheint da auf ziemlich verlorenem Posten. Richten sich nicht vier seiner eigenen Finger gegen ihn selbst, wenn er so mit dem Zeigefinger auf die Kollegen zeigt?

Immerhin spricht da ein Einzelner gegen eine versammelte Gruppe. Propheten sind in Israel zur Zeit des Jeremia eine eingeführte Elite. Geachtete religiöse Experten, die ihrem Anspruch nach im Beirat Gottes sitzen und ihm bei seiner Weltregierung zuschauen. Geistlich Hochbegabte mit Corpsgeist, Selbstbewusstsein und mit eigener Pressestelle. Wir brauchen ihre Reaktion gar nicht schriftlich. Ein wenig Einbildungskraft reicht aus, um uns ihre Antwort auszumalen. Strategien der Abwehr. Herablassend oder gehässig oder cool oder auch nur verblüfft über so viel jereminianische Frechheit – wer so angegriffen wird, hat nichts mehr zu verlieren. Er darf sich deshalb eigentlich gar nicht treffen lassen. „Ich bin nicht gemeint.“ „Ich kann gar nicht gemeint sein.“ Wer will schon auf der Seite der Lügnerinnen und Hochstapler, Schaumschlägerinnen und Schwätzer stehen.

Nein, die falschen Propheten sind immer die anderen. Eine teuflisch geniale Immunisierungsstrategie. Die Nachdenklicheren unter den so Beschimpften haben sich vielleicht mit ihrem brillanten Verstand ausgetrickst, damit die scharfen Worte des Jeremia ihnen nicht ins eigene Fleisch schneiden. „Alles eine Frage der Perspektive“, sagen sie vielleicht. „Er ist der, der falsch redet. Er ist der Schaumschläger. Er ist der Betrüger. Er verrät unsre Zunft. Ein Nestbeschmutzer ist er.“ Schließlich ist er in der Minderheit. Und wir sind in der Mehrheit. Ein vermeintlich ganz und gar demokratisches Argument, das uns nur zu vertraut ist. Wenn Gottes Wahrheit eine Frage der Mehrheitsverhältnisse wäre. Können tausend Propheten irren, die dazu vielleicht noch in bester Absicht reden und handeln? Verrückte Einzelgänger sind immer verdächtig. Kein Wunder, dass seit alters die vertrackte Ununterscheidbarkeit zwischen krankhaftem Wahnsinn und prophetischer Gabe ein Thema ist. Gottes Genie oder Hysterie? „Mein Herz ist gebrochen in meiner Brust, all meine Gebeine zittern, ich bin wie betrunken, wie vom Wein überwältigt angesichts Gottes und seiner heiligen Worte.“ So kann Jeremia reden. Volltrunken von Gottes Wort wankt er durch das Leben. Hand aufs Herz: Hätten wir ihm geglaubt?

Unser erster Impuls ist, glaube ich, ganz ähnlich. Auch wir wollen heute auf der richtigen Seite stehen. Nur ist die richtige Seite heute natürlich da, wo Jeremia steht. Er ist der trotzige Glaubensheld, der uns imponiert. Er ist der, der göttliche Widerworte gibt. Und im Geiste haben wir uns klammheimlich schon hinter dem Rücken des Jeremia aufgestellt. Hier gehören wir doch hin, wir Kirchentagsbesucher und Kirchentagsbesucherinnen. Wir verstehen uns selbst in prophetischer Tradition. Wir sind skeptisch, wenn uns mit einem jovialen Grinsen ein „Alles wird gut“ entgegengeschleudert wird. Wir blicken mit kritischer Aufmerksamkeit hinter die Oberflächen der Medien und gehen den Schaumschlägern nicht auf den Leim. Wir durchschauen es, wenn Ideale mit Idolen verwechselt werden. Wir schreien auf, wenn Orientierung und Hilfe nur gegen Geld zu haben sind. All die Talkmeister und Infotainer, all die unberufenen und berufenen Schönredner gehen uns gegen den Strich. Nein, wir wollen uns die Lage der Welt nicht schön reden lassen.

„Positiv denken“ – diese Form der Selbsteinlullung reicht uns nicht. Wir wollen nicht, dass es immer so weiter gehe. Und wir glauben nicht den angemaßten Weltenrettern, denen es doch nur um Machterhalt und persönlichen Ehrgeiz geht. Wir stehen auf der Seite derer, die nach der Wahrheit fragen. Wir ergreifen Partei für die, die den Preis zahlen für das „Alles wird gut“, das über den Hochglanzprogrammen der ökonomischen Globalisierung steht. Wir mahnen Gerechtigkeit an. Wir reden von der Macht der Würde, wo andere über Preise reden. Wir wollen Anstoß erregen. Wir wollen Nachdenklichkeit provozieren und sehnen uns nach Umkehr. Und das ist doch das, was wahre Propheten und Prophetinnen wollen, oder? Dass sie mit ihrer Unheilsansage nicht recht behalten. Dass Gott sich erbarme und sie sich am Ende geirrt haben mit ihren Untergangsszenarien. Deshalb sind wir ja hier – damit die Welt nicht so bleibt, wie sie ist.

„Wie lange noch?“, rufen wir mit Jeremia. Wir leiden unter dem Zynismus unserer Tage und suchen nach heilsamen Zeichen, die auf Gottes Passion für seine Welt deuten. Der ferne Gott ist uns ein naher Gott. Deshalb stellen wir die großen Zukunftsthemen in den Horizont des Reiches Gottes. Deshalb fragen und diskutieren und beten wir. Ja, die Kirchentagsgemeinde ist ihrem Selbstverständnis nach so etwas wie die Einlösung eines reformatorisch verstandenen „Prophetenamtes aller Gläubigen“,falls es so ein Amt überhaupt geben kann. Wir stehen ganz auf der Seite Jeremias. Oder? (Musik)

Auch an uns kann das schärfste und kräftigste Wort abprallen, wenn wir unser teflonbeschichtetes Herz erst mal so richtig geschützt haben gegen jegliche Infragestellung. Die falschen Propheten, das sind nicht immer die anderen. Die Rede des Jeremia an uns macht es komplizierter. Denn wo sind die Kriterien, anhand derer wir überprüfen können, dass wir auf der sicheren Seite stehen, auf der Seite der wahren Gottfürsprecher? Auf der Seite derer, denen Herz und Verstand mit Gottes Wort überein gekommen ist? Wie können wir unsere Stimme unterscheiden von der Stimme Gottes? Wie können wir unsere Träume unterscheiden von Gottes Traum für diese Welt? Und wie können wir uns hüten vor einer vermeintlichen Wahrheit, die sich bei genauerem Hinsehen als theologisch verbrämte Rechthaberei entpuppt? Die Geschichte der Kirche Jesu Christi ist auch eine Aneinanderreihung von Irrtümern, Fehleinschätzungen und gefährlichen Verblendungen. So manche Zeitansage, die mit dem Gestus des Prophetischen ausgestattet war, erscheint im Rückblick als unerklärlicher Fall in Gottesvergessenheit. Und doch ist jedes Wort in voller Überzeugung, in Gebet und geistlichem Gespräch vorbereitet worden. Der Kampf gegen die Demokratie, vorgetragen mit dem Brustton prophetischer Beseelung. „Wer das Volk regieren lässt, stürzt es ins Chaos“. Die Ablehnung der Menschenrechte. „Gott hat eine unverbrüchliche Ordnung von Dienern und Sklaven geschaffen, wer diese Ordnung zerstört, lästert Gott“.

Die Reihe der Beispiele kann jeder und jede hier nach Belieben weiterführen. Es kann einem schon eiskalt den Rücken herunter laufen, wenn man sich in den schriftlichen Prophetien großer Kirchenführer des letzten Jahrhunderts umsieht. Sie stehen den säkularen Propheten des blutgetränkten 20. Jahrhunderts nicht nach. Aber auch wir kennen vermutlich alle Situationen, in denen wir den Mund zu voll genommen haben. Das ist ja die besondere Tücke der prophetischen Rede: erst nachträglich, im Rückblick, entscheidet sich, ob die Einrede angemaßten oder eingelösten Prophetiecharakter hat. Ex post ist schon so mancher selbsternannte Prophet als Hochstapler entlarvt worden. Und auch wir selbst ertappen uns dann und wann dabei, dass der gut gemeinte Einspruch voreilig war.

In unserem Jeremiatext haben die falschen Propheten noch ein anderes Problem. Sie bleiben unter sich. Sie erzählen sich wechselseitig ihre Träume und stehlen einander die Worte aus dem Mund. Binnenfixierung kann eine eigene Form von Selbsteinlullung fördern. Es gibt eine gefährliche Neigung der Kirche, sich in ihrer Zeitansage vor allem mit sich selbst zu beschäftigen. Das ist nur verständlich. Denn die Lage der Kirche ist so, dass wir wach, urteilsscharf und eindeutig sein sollen. Nur reicht es eben nicht, wenn wir uns gegenseitig erzählen, wie wir die Zeichen der Zeit deuten. Und wenn wir noch so richtig lägen. Wir sind Betrüger und Betrügerinnen, wir betrügen uns selbst. Denn wir haben eine Rechenschaftspflicht vor der Welt. Die wird auch in Zeiten von Gemeindefusionen und Sparkonventen nicht außer Kraft gesetzt. Gottes Wort will als Zeitansage hörbar werden, und zwar auch da, wo Beifall, Schulterklopfen und Zustimmung nicht zu erwarten sind. Kein schöner Bericht im Gemeindebrief. Stattdessen ein gehässiger Leserbrief in der Zeitung, vielleicht. „Was mischt die Kirche sich da ein. Die sollen sich um sich selber kümmern. Haben doch genug Probleme.“

Doch woher kommt das Kriterium, mit dem wir unser eigenes geistliches Reden zur Zeit überprüfen können? Woher wissen wir, wann wir auf der richtigen Seite stehen? Auf den ersten Blick ist das Kriterium klar. Jeremia benennt es deutlich. Ein wahrhaft reformatorisches Kriterium. Gottes Wort selbst autorisiert eine Zeitansage als prophetische. Im sola scriptura liegt der Maßstab alles Prophetischen. Es wäre ein Missverständnis, das schon in der hebräischen Bibel keine Geltung hat, wenn immer wieder behauptet wird, die prophetische Gabe enthebe von der Bindung an die Schrift, weil der Prophet eine unmittelbare Gottesbotschaft verkünde. Nein, Jeremia ist kein Enthusiast und kein Geisterseher, der mit erhabenem Ton über das Wort Gottes hinwegfegt, das seinem Volk und uns anvertraut ist. Die Prophetie fliegt nicht mehrere Meter über die Tora hinweg, sie gründet vielmehr in ihr und ist genauso genommen eine Form ihrer Auslegung. Prophetie ist genauso genommen die gewagteste Form der Auslegung des Wortes Gottes, die es geben kann. Denn hier geht es nicht darum, in den ausgetretenen Pfaden der Tradition zu gehen oder sich am Geländer sichernder Rituale und Vorverständnisse festzuhalten. Prophetische Zeitansage ist Sprechen mit hohem Risiko, im Gestrüpp der Gegenwart, das uneindeutiger und chaotischer nicht sein könnte. Aber ausgehend vom Wort Gottes. Das Risiko prophetischer Rede ist ein doppeltes, weil eine doppelte Zweideutigkeit im Spiel ist. Worte, auch religiöse oder ethische Worte zur Lage sind zweideutig in Hinblick auf ihre Herkunft. Schlägt Gottes Puls in unserm Sprechen zur Welt – oder hören wir nur auf unseren eigenen Herzschlag? Zweideutig sind auch die Zeichen der Zeit, die im Lichte dieses Wortes gedeutet werden. Bedeuten sie nun dieses oder jenes? Wir können nie ganz sicher sein, dass wir die Geister der Zeit richtig bestimmt haben.

Sind unsere Worte Gottes Wort oder statten wir unsere Worte nur mit prophetischer Aura aus? Prophetische Rede geht vollen Einsatz. Sie ist ungeschützt. Wahrheit oder Rechthaberei? Urteil oder nur Meinung? Wenn wir das prophetische Amt aller Gläubigen heute ernst nehmen, dann verpflichten wir einander dazu, uns wechselseitig kritisch zuzuhören bei unserer Zeitansage. Jeremia ist da eindeutig. „Ihr sollt einer mit dem anderen reden und einander sagen: „Was antwortet der Herr?“ und „Was sagt der Herr“? Es braucht Leute, die sich mit Fragen hervorwagen, die als längst beantwortet gelten. Und auch dann das Wort zu erheben, wenn sich alle ganz einig sind. Wir brauchen den nachdenklichen Protest. Ja, vielleicht brauchen wir unter uns auch die Querulantinnen und Querulanten. Die, die uns in unserer politisch-theologischen Korrektheit stören. Und die Bremser, die unseren Überschwang mäßigen. Die, die uns mit ihren Rückfragen nerven. Wir brauchen auch einen Sinn für das Prophetische außerhalb der Kirche. In den Künsten zum Beispiel, die auf ihre Weise sinnliche Zeichendeutung der Wirklichkeit betreiben.

Außerdem gilt es dann daran zu erinnern, dass nicht die automatisch die wahren Propheten sind, die mit Lust die Welt eindunkeln. Untergangsprediger und die, die die Depression als einzige angemessene Lebensform verkünden, stehen nicht automatisch auf der Seite Gottes. Ganz im Gegenteil. Es gibt einen medial inszenierten Alarmismus und eine bisweilen obszöne Lust am Scheitern des Menschheitsprojektes. Ihre Prediger sind gar nicht an der Veränderung des Blicks interessiert. Sie feiern die Apokalypse. Nihilismus und Zynismus sind die Folgen. Das lähmt und macht mutlos. Hier ist besondere Wachheit gefragt, weil wir dann und wann eine Neigung haben, diesen professionellen Schwarzsehern eher zu glauben. „Alles wird schlecht“ – dieser Spruch ist nicht besser als das „Alles wird gut“. Propheten sind Unterscheidungskünstler, die sich nicht vom Augenschein austricksen lassen. Sie suchen den Abstand und die Ruhe. Sie sind ins Nachdenken verliebt wie Jeremia. Der zieht sich nämlich immer wieder zurück vom trubeligen Zeitgeschehen. Er nimmt sich die Freiheit, etwas zu verpassen. Weil er weiß, dass wir erst mit gehörigem Abstand Überblick gewinnen. Wir müssen die Geister unterscheiden lernen und immer wieder neue Unterscheidungen treffen. Damit unsere Zeitansage sich gemessen weiß am Wort Gottes, das auszulegen uns gemeinsam in jeder Situation neu aufgegeben ist.

Ein anderes Kriterium für die gottgewollte, heilsame Zeitansage gibt uns Jeremia heute mit auf den Weg. „Wem nützt die prophetische Rede?“ fragt er. Eine ganz schlichte Frage. Eine Frage, die wir vielleicht deshalb so selten stellen. Der Nutzen scheint doch ausgemacht. Schließlich wollen wir ja nur das Beste. Dabei verwechseln wir ja schon in Alltagssituationen oft genug das, was uns selber nützt, mit dem, was anderen nützen soll. Bei der Erziehung unserer Kinder etwa gehen oft genug unsere eigenen Wünsche mit uns durch. Die Klavierstunden, weil wir selbst so gerne gespielt hätten. Die Fußballschuh, weil wir selbst so gerne gebolzt haben. Gar nicht so einfach, zu klären, was anderen nützt, wenn wir selber involviert sind mit unseren Wünschen, mit unserer Perspektive auf die Welt, mit unseren uneingestandenen Träumen.

Doch Jeremia stellt diese Frage mit großem Nachdruck. Eine Prüffrage, auf die wir so genau wie möglich antworten können sollten. Wer profitiert von unserer Gegenwartsdiagnose? In wessen Namen formulieren wir unsere Kritik? Das ist auch die Frage, die wir auf unseren orangenen Schals gedruckt durch Köln tragen. „Was hilft es dem Menschen…?“ steht da in kräftigen Lettern. Wem hilft es? Was nützt es? Diese Frage des Jeremia an die falschen Propheten tragen wir so in die Fernsehbilder dieser Tage. Als Warnung an die anderen. Als Erinnerung an die, die das Maß des Menschlichen aus den Augen verlieren. Wir sollten uns auch selbst an dieser Frage messen lassen. Uns hängt sie um den Hals. Und wir sollten diese Frage zum Maßstab machen. Und sie miteinander beraten. Wir können unsere heimlichen Nutzenkalküle offen legen. Wir können uns eingestehen, dass wir bisweilen gar nicht weiter denken als bis zur der Frage, wie wir mal wieder richtig für Aufmerksamkeit sorgen. Oder für Schlagzeilen. In den Fallstricken von Eitelkeit und Durchsetzungswillen können sich auch Christen und Christinnen bisweilen verheddern. Da hilft es, wenn wir freundlich aufeinander aufpassen. Wenn wir unsere Motive hinterfragen und Rechenschaft geben von unseren Zielen. Den richtigen und den falschen. Dazu braucht es geschützte Räume, in denen wir ohne Häme offen miteinander sind. Das kann heilsam sein. Und es dient unserer Glaubwürdigkeit. Prophetische Wahrheit stellt sich oft nicht unversehens ein. Sie kommt nicht über uns wie eine Eingebung. Vielmehr will sie dann und wann auch errungen sein. Mit Gebet und analytischer Urteilskraft. Dann kann das Wort Gottes sich mit Macht Raum verschaffen und unseren Worten Eindeutigkeit verleihen.

Riechen Sie mal an ihren Fingern. Der Geschmack unseres Bibelarbeitstextes wird noch eine Weile daran haften bleiben. Lassen sie uns alle miteinander weiter an diesem Kräutlein reiben. So schmeckt Gottes Wort. Jede Menge Chili. Das macht wach! Lebendig und kräftig und schärfer.