Bibelarbeit auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag 2007 (Apostelgeschichte 17, 16-34)

Wolfgang Huber

Eine Verteidigungsrede wird zur Predigt. Dieser spannende Vorgang soll uns heute Morgen beschäftigen. Da verteidigt sich einer, indem er sagt, was ihm wichtig ist. Leute, die es darauf angelegt hatten, ihn zu verurteilen, fangen an, ihm zuzuhören. So wird aus der Verteidigungsrede eine Predigt, eine der berühmtesten und kürzesten Predigten in der Geschichte der Christenheit dazu. Es ist darüber hinaus die erste Predigt, die erkennbar und mutig in den Dialog mit der Kultur ihrer eigenen Zeit eintritt.
Der Ort der Handlung ist Athen, die geistige Hauptstadt des griechischen Denkens, der Prediger ist Paulus, der erste Repräsentant einer eigenständigen christlichen Theologie. Sein Ghostwriter ist Lukas, der die Szene in seiner Apostelgeschichte beschreibt.

Als Paulus in Athen auf seine Mitarbeiter wartete, ergrimmte sein Geist in ihm, als er die Stadt voller Götzenbilder sah. Und er redete zu den Juden und den Gottesfürchtigen in der Synagoge und täglich auf dem Markt zu denen, die sich einfanden. Einige Philosophen aber, Epikureer und Stoiker, stritten mit ihm. Und einige von ihnen sprachen: Was will dieser Schwätzer sagen? Andere aber: Es sieht so aus, als wolle er fremde Götter verkündigen. Er hatte ihnen nämlich das Evangelium von Jesus und von der Auferstehung verkündigt. Sie nahmen ihn aber mit und führten ihn auf den Areopag und sprachen: Können wir erfahren, was das für eine neue Lehre ist, die du lehrst? Denn du bringst etwas Neues vor unsere Ohren; nun wollen wir gerne wissen, was das ist. Alle Athener nämlich, auch die Fremden, die bei ihnen wohnten, hatten nichts anderes im Sinn, als etwas Neues zu sagen oder zu hören.
Paulus aber stand mitten auf dem Areopag und sprach: Ihr Männer von Athen, ich sehe, dass ihr die Götter in allen Stücken sehr verehrt. Ich bin umhergegangen und habe eure Heiligtümer angesehen und fand einen Altar, auf dem stand geschrieben: Dem unbekannten Gott. Nun verkündige ich euch, was ihr unwissend verehrt. Gott, der die Welt gemacht hat und alles, was darin ist, er, der Herr des Himmels und der Erde, wohnt nicht in Tempeln, die mit Händen gemacht sind. Auch lässt er sich nicht von Menschenhänden dienen wie einer, der etwas nötig hätte, da er doch selber jedermann Leben und Odem und alles gibt. Und er hat aus einem Menschen das ganze Menschengeschlecht gemacht, damit sie auf dem ganzen Erdboden wohnen, und er hat festgesetzt, wie lange sie bestehen und in welchen Grenzen sie wohnen sollen, damit sie Gott suchen sollen, ob sie ihn wohl fühlen und finden könnten; und fürwahr, er ist nicht ferne von einem jeden unter uns. Denn in ihm leben, weben und sind wir; wie auch einige Dichter bei euch gesagt haben: Wir sind seines Geschlechts. Da wir nun göttlichen Geschlechts sind, sollen wir nicht meinen, die Gottheit sei gleich den goldenen, silbernen und steinernen Bildern, durch menschliche Kunst und Gedanken gemacht. Zwar hat Gott über die Zeit der Unwissenheit hinweggesehen; nun aber gebietet er den Menschen, dass alle an allen Enden Buße tun. Denn er hat einen Tag festgesetzt, an dem er den Erdkreis richten will mit Gerechtigkeit durch einen Mann, den er dazu bestimmt hat, und hat jedermann den Glauben angeboten, indem er ihn von den Toten auferweckt hat.
Als sie von der Auferstehung der Toten hörten, begannen die einen zu spotten; die andern aber sprachen: Wir wollen dich darüber ein andermal weiterhören. So ging Paulus von ihnen. Einige Männer schlossen sich ihm an und wurden gläubig; unter ihnen war auch Dionysius, einer aus dem Rat, und eine Frau mit Namen Damaris und andere mit ihnen.

Glasklare Argumentation und spürbare Emotion verbinden sich in dieser Geschichte. Gleich zu Anfang heißt es, dass Paulus „ergrimmt“, und in der Folge wird heftig gestritten, wechseln Neugier und Skepsis, Aufmerksamkeit und Spott. Und dann eine Verteidigungsrede auf der Höhe der Zeit – und höchst kontroverse Reaktionen auf sie.
Lukas nimmt uns mit dieser Erzählung hinein in eine Etappe der zweiten Missionsreise des Apostels. In Kleinasien hat Paulus bislang das Evangelium verkündet – bis er Gottes Ruf nach Europa vernimmt. Über Philippi, Thessaloniki und Beröa gelangt Paulus nach Athen, wo er einige Zeit auf seine Begleiter warten muss. Das gibt ihm Zeit zu schauen. Was erwartet ihn dort? In sieben Schritten wollen wir uns verdeutlichen, was da in der geistigen Metropole der alten Welt geschieht und was es für uns Fragende in einer modernen Welt bedeutet.

1.
Athen, das ist ein klangvoller Name. Zwar hat die Stadt zur Zeit des Paulus in der Mitte des 1. Jahrhunderts nach Christus nicht mehr die weltpolitische Bedeutung, die sie in den Jahrhunderten zuvor gehabt hatte. Aber noch erinnern viele religiöse und säkulare Bauwerke an die große Epoche im 6. und 5. Jahrhundert vor Christus. Bis heute ist das so. Bis heute beeindrucken die Bauten auf der Akropolis, unter ihnen vor allem der Tempel der Athena Parthenos, der Schutzpatronin der Stadt. Athen galt als das geistig-kulturelle Zentrum der griechischen Welt. Auch wenn Athen seit der Eroberung durch die Römer im Jahr 86 v. Chr. von der neuen Weltmacht politisch abhängig war, behielt es doch die Privilegien einer freien Stadt; dem entsprach das Selbstbewusstsein seiner Bürger. Paulus kommt in eine Stadt, in der das Angebot an Kultur, Philosophie und Religionen groß ist.
Er muss dort auf seine Mitreisenden warten und nutzt die Zeit, um die Stadt wahrzunehmen. Was er sieht, lässt ihn allerdings „ergrimmen“: Politik und Religion sind eine unauflösliche Verbindung eingegangen. Auf der Agora, dem Markt im Zentrum der Stadt wird die römische Vorherrschaft auf einen Blick sichtbar: Insgesamt 13 Altäre für den gottgleich zu verehrenden Kaiser wurden dort errichtet. Das Stadtbild ist zudem angefüllt mit einer Vielzahl von Statuen, die Götter und Göttinnen, aber auch Personen aus der Geschichte der Stadt und andere geehrte Menschen darstellten. Reiche Einzelpersonen und Machthaber aus der ganzen Mittelmeerwelt finanzierten Bauwerke in Athen, um ihre eigene Größe zu demonstrieren. Götterverehrung und eigene Selbstdarstellung stehen mit ihren Symbolen nebeneinander und gehen nicht selten ineinander über.
Die Stadt als Schmelztiegel von Politik und Wirtschaft, Kultur und Religion. Auch heute stehen wie damals die unterschiedlichsten Symbole nebeneinander und auch in Konkurrenz zueinander: die alten Kirchen neben den „Konsumtempeln“ der Warenhausketten, die Rathäuser neben den – sie oft überragenden – Bankhäusern. Nicht nur der Apostel Paulus, der ja bekanntlich aus der römischen Provinz Palästina stammte und vermutlich in seinem Erstberuf ein einfacher Handwerker war, würde sich hier vielleicht zunächst eher verloren vorkommen. Die Pluralität der Angebote – an Waren und Unterhaltungsmöglichkeiten ebenso wie an Kontaktmöglichkeiten und Sinndeutungen – ist ja nicht einfach nur reizvoll, sie ist auch verwirrend. Der Markt der Möglichkeiten bei jedem Kirchentag ist im Vergleich zu dem Markt der Angebote in einer Metropole geradezu geordnet und überschaubar.
Die multikulturelle Stadt ist nicht neu. Schon Paulus sieht die Stadt in ihrer ganzen Pluralität. Er sieht die Fülle der Götterbilder. Er sieht die Fülle der nebeneinander aufgereihten Weltanschauungen, in der alles mehr oder weniger gleich gültig daherkommt. Und „sein Geist ergrimmt“.
Das spricht uns unmittelbar an. Denn was erleben wir heute? Über dem christlichen Abendland und dem Land der Reformation wölbt sich kein einheitlicher Sinnhorizont mehr. Längst herrscht der von dem Soziologen Peter L. Berger beschriebene „Zwang zur Häresie“, der Zwang zur Wahl, wie man „Häresie“ wörtlich übersetzen muss. Wir können also nicht nur zwischen unterschiedlichen Lebensentwürfen wählen, sondern wir müssen es. Die Freiheit, sich nicht einfach in Vorgegebenes einordnen zu müssen, sondern das eigene Leben selbstbestimmt zu gestalten, ist ein nicht zu unterschätzender Gewinn. Aber die sogenannte „Multioptionsgesellschaft“ ist zugleich eine Herausforderung, die beängstigend wirkt. Wenn junge Leute ein Jahr nach Neuseeland fahren, für „work and travel“, wie sie sagen, dann steckt dahinter manchmal auch der resignative Satz: „Ich weiß nicht, was ich will.“ Es ist unvermeidlich wahr: Mit jeder Entscheidung schließe ich so viele andere Möglichkeiten aus. Willensstärke bedeutet immer auch Verzicht. Wenn manche Singles jedes Alters immer wieder abwarten, an wen sie sich für ihr Leben binden wollen, dann mag dabei mitspielen, dass sie die vielen Möglichkeiten nicht ausschließen wollen, die doch zumindest theoretisch bleiben, so lange man sich nicht für einen bestimmten Menschen entscheidet. Die schier unendliche Fülle der Ratgeberliteratur profitiert von dieser Situation. Manchmal sprechen schon die Titel Bände: „Simplify your life“ – „Vereinfache dein Leben!“, das klingt wie die Verheißung einer lebensförderlichen Schneise durch den unübersichtlichen Dschungel der unzähligen Möglichkeiten.
Dann wird natürlich manchmal auch auf das falsche Pferd gesetzt. Die schönsten Nebensachen der Welt werden zu etwas, woran das Herz hängt. Selbst der Fußball kann auf diese Weise zum Götzen werden, zu einem Lebensinhalt, der mit dem Verlust der Meisterschaft auf den letzten Metern schwer erschüttert wird, wie wir das in den letzten Wochen erlebt haben. Auf religiösem Gebiet sprechen wir oft von „Patchwork-Religiosität“. Aus verschiedenen Elementen wird zusammengebastelt, woran unser Herz hängt. Möglichst exotisch soll es sein.
Paulus sieht das alles. Und es lässt ihn nicht einfach kalt. In seinem Ergrimmen ist wohl auch etwas von dem enthalten, was von Jesu Blick auf die Menschen überliefert wird. Die Nähe zu den Menschen kann Grimm ebenso auslösen wie Erbarmen. Jesu Grimm über die Händler im Tempel ist dem Grimm des Paulus nahe verwandt. Aber direkt daneben liegt das Erbarmen, von dem beispielsweise in der Geschichte von der Speisung der Fünftausend berichtet wird: „Und Jesus sah die große Menge; und sie jammerten ihn, denn sie waren wie Schafe, die keinen Hirten haben“ (Mk 6, 34). Jesu Blick richtet sich auf die, die inmitten von all dem, was da mit gleicher Gültigkeit auftritt, an einer lebensgefährlichen Gleichgültigkeit zu ersticken drohen.
Paulus bringt den Athenern in der Nachfolge Jesu nicht einfach eine zusätzliche neue Weltschauung. Er schaut die Stadt und ihre Menschen mit Jesu Blick an. Und so ist es nur konsequent, dass er das Gespräch mit ihnen sucht.

2.
Diskussionen auf dem Markt sind die Folge. Zuerst gelingt das mit der Bildungselite, mit Menschen in diesem Fall, die der epikuräischen und der stoischen Richtung anhängen, zwei bedeutenden philosophischen Schulen der damaligen Zeit. Die athenische Bevölkerung – so hören wir – ist geradezu sprichwörtlich dafür bekannt, dass sie sich für neue Gedanken interessiert und das Gespräch mit fremden philosophischen Richtungen sucht (V. 21).
Die Reaktionen auf die Gesprächsbeiträge des Paulus sind allerdings zwiespältig. Die einen verbergen ihre Skepsis erst gar nicht. Schnell haben sie die passende Bezeichnung für den Apostel parat. Das Wort, das Martin Luther mit „Schwätzer“ wiedergibt, kann man wörtlich mit „Saatkrähe“ übersetzen. Eine Krähe, die Körner pickt - kein schmeichelhafter Titel. „Sprücheklopfer, Besserwisser, Möchtegernphilosoph“, all das schwingt dabei mit. Andere haben Mühe, den Apostel überhaupt zu verstehen. Wenn er von „Jesus und der Auferstehung“ spricht, halten sie das für ein neues Götterpaar, das ihnen bisher noch nicht geläufig war (V. 18). Ob er für die beiden zwei zusätzliche Standbilder errichten will? So fragen sie.
Paulus schaut und hört, aber er gibt auch Auskunft. Er interessiert sich für die Weltanschauung der Athener, aber er hält mit seinem eigenen Glauben nicht hinter dem Berg. Der Dialog beschränkt sich nicht auf das, worin sich beide Seiten einig sind; auch die Verschiedenheiten kommen zur Sprache. Im Blick auf Paulus gibt es keinen Zweifel: Dialog und Mission schließen einander nicht aus. Aber über den eigenen Glauben und die eigenen Zweifel, über das, was einen an Hoffnung trägt und als Angst vielleicht umtreibt, redet man – zu Recht – nicht „mal eben so“. Gespräch und Dialog gelingen – gerade in religiösen Fragen – letztlich nur auf einer Basis gegenseitigen Kennens und Vertrauens.
Paulus selbst hat das in einem Brief an die Gemeinde in Thessaloniki, wo er vor Athen Station gemacht hatte, rückblickend so formuliert: „Wir waren bereit, euch nicht allein am Evangelium Gottes teilzugeben, sondern auch an unserem Leben“ (1 Thess 2, 8).
Grundsätzlich gesagt: Mission und Teilhabe am Leben gehören untrennbar zusammen. Bevor der Apostel redet, nimmt er wahr, hört er hin. Bevor die Kirche das Evangelium verkündigen kann, muss sie die wahrnehmen, die es hören sollen. Sie braucht das von dem liebenden Blick Jesu angeleitete Hinsehen und Hinhören. In der Bewegung zwischen dem Hören auf das Wort der Bibel und dem Hinhören auf unsere Gesprächspartner kann sich eine Sprache bilden, die die Herzen für das Evangelium öffnet, soweit das eben menschenmöglich ist.
Das gilt auch für das Gespräch zwischen den großen Weltreligionen. „Klarheit und gute Nachbarschaft“, so hat die Evangelische Kirche in Deutschland im Blick auf das Gespräch mit Muslimen gesagt, bedingen einander wechselseitig. Klarheit ohne Nachbarschaft wirkt abstoßend. Nachbarschaft ohne Klarheit ist anbiedernd. So entsteht schnell der Eindruck, dass man sich gegenseitig doch nicht wahr- und deshalb letztlich auch nicht ernst nimmt. In der religiösen Pluralität von Athen damals und in der von heute gibt es keine Alternative zum Gespräch, zum Dialog, wenn die Religionen einen Beitrag zum Frieden leisten wollen. Und das müssen sie. Zum Dialog gehört jedoch die Wahrhaftigkeit, die das Eigene nicht schamhaft versteckt und das Fremde am Gegenüber nicht vereinnahmt. Christen können mit anderen nicht über den Glauben nicht reden, ohne dass von „Jesus und der Auferstehung“ die Rede ist – selbst wenn das zunächst so klingt, als sollten zwei weitere Götterbilder aufgestellt werden

3.
Es wird ernst: Paulus vor dem Areopag. Noch in anderer Hinsicht geht es Paulus in Athen nicht viel anders als Jesus in Jerusalem. Es entstehen Zweifel, ob wohl politisch korrekt ist, was er vorträgt. Deshalb muss er vor dem Areopag Rede und Antwort stehen. Ganz eindeutig ist die Aussage nicht. Man weiß nicht so recht, ob Paulus nur auf den Areopag geführt wird, also einen Hügel oberhalb des Marktes, der schon seit alter Zeit als Versammlungsort diente, oder zu der gleichnamigen Behörde, die auf der Agora ihren Sitz hatte und in römischer Zeit über wichtige Belange der Stadt zu entscheiden hatte. Die Szene, die uns vor Augen gestellt wird, spricht aber eher dafür, dass Paulus sich vor dieser Behörde für seine Botschaft verantworten muss.
Denn der Areopag nimmt zu jener Zeit die Aufsicht über die offiziellen Heiligtümer der Stadt wahr; das athenische Stadtrecht liegt in seiner Hand. Das öffentliche Wort unterliegt seiner Kontrolle; der römische Kaiser hat mit der amtlichen Einschränkung der Redefreiheit dazu den Weg gebahnt. Zeitgenossen berichten von Spitzeln, die Leute verleiten, sich kritisch über den Weltherrscher in Rom zu äußern, und sie dann anzeigen. Die Apostelgeschichte selbst erzählt mehrfach von Konflikten mit städtischen Behörden, in die Paulus aufgrund seiner Verkündigung geriet.
So wird er also wohl auch in Athen einer letztlich politischen Befragung unterzogen. Enthalten seine Auffassungen eine Gefahr für die öffentliche Ordnung? Wendet er sich gegen die Verehrung der Gottheiten, deren Statuen er so interessiert betrachtet? Spricht er sich gar gegen den Kaiserkult aus? Stellt er mit seinem Bekenntnis die herrschende Religionspolitik in Frage oder bewegt er sich noch in einem vertretbaren Rahmen?
Wie wird die Antwort aussehen? Wird Paulus wie bei anderen Gelegenheiten sein großer Gegenspieler Petrus einfach darauf beharren zu sagen: „In keinem andern als in Jesus Christus ist das Heil“ (Apg 4, 12)? Wird er den nötigen Mut zu der Feststellung haben, die uns von Petrus überliefert ist: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Apg 5, 29)?
Der Anfang der Rede, zu welcher der Apostel ansetzt, überrascht: Statt auf Konfrontation setzt er auf Anknüpfung. Ja, er beginnt geradezu mit einem Kompliment an seine Zuhörer: „Ihr Männer von Athen, ich sehe, dass ihr die Götter in allen Stücken sehr verehrt“ (V. 22). Oder, wie Klaus Wengst in der „Bibel in gerechter Sprache“ übersetzt: „Ihr Leute von Athen, ich sehe, wie religiös ihr in jeder Hinsicht seid.“ Wo ist das Ergrimmen geblieben? Verbirgt Paulus seine wahren Regungen aus taktischen Gründen? Gibt er klein bei, weil die Machtverhältnisse klar sind: hier die oberste Behörde Athens, hinter der das römische Weltreich steht - und da der Jude Paulus, der sich zu Jesus Christus bekennt, der Anhänger einer kleinen Glaubensgemeinschaft in heidnischer Umwelt. Dazu ein Ausländer aus einer randständigen Provinz.
Zunächst lässt sich schwer ermessen, ob Paulus sich opportunistisch anpasst, um heil davonzukommen, oder ob er sich auf seine Hörer einlässt, um „den Griechen ein Grieche“ zu sein. Wir müssen diese Unklarheit aushalten; sie ist uns selbst nur zu gut vertraut.
Immer wieder in der Geschichte der Kirche sind Christen in Situationen gekommen, in denen sie öffentlich über ihren Glauben Rechenschaft ablegen mussten. Und jedes Mal stellt sich die Frage wieder neu: Was ist im schlechten Sinn „Anpassung“ – und was ist im guten Sinn „Einpassung“ in die Situation?
Im Rückblick kann man das unter Umständen besser einschätzen – wenn das rückblickende Urteil nicht mit dem Hochmut derer verbunden ist, die davon überzeugt sind, sie selbst hätten es in jedem Fall richtig gemacht. Hinterher ist man immer klüger; in der akuten Entscheidungssituation dagegen geht es nie ohne Wagnis ab.
Das wichtigste Bekenntnisdokument unserer Kirche aus dem 20. Jahrhundert, die Barmer Theologische Erklärung von 1934, ist dafür ein gutes Beispiel. Es ist für uns beispielhaft in der klaren Absage an jede Unterwerfung unter die nationalsozialistische Ideologie und an die Irrlehren der sogenannten „Deutschen Christen“. Und trotzdem bedauern wir manches Schweigen in diesem vorbildlichen und uns weiterhin prägenden Bekenntnis. Noch lange dauerte es nämlich, bis unsere Kirche der Entrechtung der Juden ein klares Bekenntnis zum ungekündigten Gottes mit seinem Volk entgegensetzte oder bis sie von der Freiheit eines Christenmenschen so leuchtend sprach, dass sie die Vorstellung von einem fürsorglichen Obrigkeitsstaat endgültig hinter sich ließ. Und wäre es nicht auch ein Ausdruck von Freiheit gewesen, wenn die Barmer Theologische Erklärung nicht nur gesagt hätte, die Kirche Jesu Christi sei eine „Gemeinschaft von Brüdern“, sondern sie als das bezeichnet hätte, was sie ist, nämliche eine „Gemeinschaft von Brüdern und Schwestern“? Selbst in einem so prophetischen Dokument wirft also der Zeitgeist noch seine Schatten.
Der Schritt von der Anpassung zur Einpassung ist nicht immer leicht zu gehen; uns allen widerfährt es immer wieder, dass wir statt der Einpassung in die Anpassung verfallen. So müssen wir uns auch in dieser Woche fragen: Beten wir eigentlich nur nach, was andere zur Globalisierung oder zum Klimawandel sagen? Oder wird auf unserem Kirchentag zu diesen großen Fragen ein eigener Ton laut? Anvertraut ist uns dieser eigene Ton im Bekenntnis zu Gott als dem Schöpfer und im Dank für die guten Gaben seiner Schöpfung. Anvertraut ist er uns im prophetischen Widerspruch gegen die hemmungslose Eigensucht derer, die alles für sich wollen und nichts übrig lassen für die, die nach ihnen kommen. Anvertraut ist er uns im Blick auf den leidenden Christus, der in uns die Fähigkeit zum Mitleiden und die Bereitschaft zur Solidarität weckt.

4.
Paulus auf der Grenze zwischen Einpassung und Anpassung. Wie geht er mit dieser Grenze um?
Zum ersten Mal in der Geschichte der Christenheit begegnet uns eine Rede, in der die christliche Botschaft in die philosophische Sprache ihrer Zeit „übersetzt“ wird. Paulus drückt wichtige Inhalte des christlichen Glaubens in Denkkategorien der Zuhörenden aus; er zitiert aus der zeitgenössischen Philosophie und nimmt wichtige Motive der griechischen philosophischen Theologie auf. Es handelt sich um den „ersten Versuch einer christlich-theologischen Inanspruchnahme nichtchristlicher Denküberlieferung“ (Ulrich Wilckens).
Paulus kritisiert die Religiosität der Athener zunächst nicht. Im Gegenteil: er respektiert sie: „Ich sehe, dass ihr die Götter in allen Stücken sehr verehrt“ (V. 22). Ins Zentrum rückt er die Inschrift eines Altars, auf den er bei seinem Rundgang durch die Stadt gestoßen ist. Dieser Altar ist einem „unbekannten Gott“ (V. 23) geweiht. Dieses Suchen nach dem unbekannten Gott nimmt er auf, um so seinen Hörern den Gott nahe zu bringen, der nach jüdisch-christlichem Glauben allein zu Recht Gott genannt und als solcher angebetet wird. „Nun verkündige ich euch, was ihr unwissend verehrt“ (V. 23). Mit diesem Übergang wird aus der Verteidigungsrede eine Predigt.
Vermutlich war der Altar für den „unbekannten Gott“ so eine Art Rückversicherung in religiösen Fragen. Es konnte ja nicht schaden, neben den Altären für die Götter, deren Namen man kannte, auch noch einen Altar zu haben, der im Zweifelsfalle verhinderte, das man eine Gottheit übersah, weil man sie (noch) nicht kannte. Bevor man sich ihren Zorn wegen Nichtbeachtung zuzog, richtete man lieber vorsorglich eine Art Universalaltar ein. Wer konnte wissen, ob das nicht zu etwas gut sein könnte?
Paulus hält seinen Hörern diese „Versicherungsfrömmigkeit“ nicht einfach vor. Er nimmt auf, was sich in ihr ausdrückt: die Sorge darum, es den Göttern recht zu machen. Wenn es denn einen Gott gibt, dann wäre es gut, ihn auf seiner Seite zu wissen und nicht gegen sich zu haben.
Bis zum heutigen Tag hat der Altar für den unbekannten Gott (agnostos theos) einer ganzen religiösen Richtung den Namen gegeben. Als „Agnostiker“ bezeichnen sich diejenigen, die auf die Gottesfrage weder mit Ja noch mit Nein antworten, sondern einfach sagen: ich weiß es nicht; Gott ist mir unbekannt. Aus einer solchen Haltung spricht nicht in jedem Fall Gleichgültigkeit. Aus ihr spricht oft auch ein Respekt vor der unbegreiflichen Größe Gottes. In ihr kann sich ein Suchen ausdrücken, das dem Zweifel Raum lässt. Solches Suchen verdient auch heute die Sympathie der Christen. Die Nähe zu den Zweiflern steht uns gut an. Wie viel besser lässt sich mit ihnen reden als mit den bekennenden Atheisten, für die keine Frage mehr offen ist. Wie viel besser lässt sich mit ihnen reden als mit allzu selbstgewiss Glaubenden, die meinen, Gott im Griff zu haben. Wer Gott die Ehre gibt, wird auch das Unbekannte und Unbegreifliche an Gott nicht leugnen.
Aber auch den „Versicherungsglauben“ gibt es heute natürlich. Auch heute sehnen sich viele Menschen nach einem Gott, der ihnen gewogen ist. Viele Menschen gibt es unter uns, die sich nicht unbedingt als Christen bezeichnen würden, aber mit einem Engelsglauben leben, der ihnen in ihrem Leben Halt gibt? Meinungsforscher erklären uns, heute glaubten mehr Menschen an Engel als an Gott. Sie versichern sich eines himmlischen Beistands, ohne das mit dem Ernst des Gottesgedankens oder gar des Bekenntnisses zu Gott verbinden zu wollen. Sonst sich sehr säkular gebende und verstehende Leute schmücken ihr Auto mit dem Aufkleber: „Fahre nicht schneller, als dein Schutzengel fliegen kann.“ Nur ein flotter Spruch?
Nein, es ist eher eine Reaktion darauf, dass wir alle auf die Grenzen dessen stoßen, was wir selbst machen oder beherrschen können. Das Pathos einer entzauberten Welt, die wir Menschen nach unserem Willen formen und die keinerlei Geheimnisse mehr kennt, erklingt nur noch selten.
„Nun verkündige ich euch, was ihr unwissend verehrt!“ Hier geht es um die Mission der Kirche, um unsere Mission als Christen. Nicht irgendeine Art von Bestandssicherung für den kirchlichen Betrieb ist der Antrieb für neue missionarische Initiativen. In der Mission der Kirche geht es vielmehr um die Menschen um uns, die ein Recht auf die Gewissheit des Evangeliums haben
Weder damals in Athen noch heute haben wir Christen dabei ein Monopol in Sachen Religion. Und wir haben zur Vermittlung unserer Botschaft nichts anderes als das, worin Paulus schon das Wesen seiner Tätigkeit sieht: „So bitten wir nun an Christi statt...“ (2. Kor 5, 20). Dass Menschen dieser Bitte Folge leisten, dass sie in den Glauben einstimmen, liegt in Gottes Hand. Das schützt Menschen davor, zu „Missionsobjekten“ der Kirche zu werden; es entlastet uns auch von falschem Erfolgsdruck und Bekehrungszwang. Das befreiende Wort Gottes findet dann eine Antwort, die selber Freiheit atmet, wenn der Geist Gottes in ihm wirkt. Er allein kann die Ohren öffnen und die Herzen wenden.

5.
Die Botschaft von dem einen Gott. Von der Suche der Athener nach dem „unbekannten Gott“ macht Paulus nun allerdings einen ziemlich ungescheuten Gebrauch. Er bedient sich ihrer Sprache, um mit großem Nachdruck das Evangelium von Jesus Christus zur Sprache zu bringen. Da wird aus der Anpassung ohne Zweifel Einpassung. Zwar benutzt er die Sprache der philosophischen Theologie seiner Zeit. So verwendet er zur Bezeichnung der Schöpfung neben der biblischen Formulierung „Himmel und Erde“ auch das Wort „Welt“: „Gott, der die Welt (griechisch: „kosmos“) gemacht hat...“. Von Gott sagt er, er sei keiner, „der etwas nötig hätte“ (V. 25); damit nimmt damit das Motiv der Bedürfnislosigkeit Gottes auf, das sich auch bei griechischen und römischen Philosophen findet. Dass Gott den ganzen Kosmos durchwaltet, sagt er in der Sprache der Dichter: „Denn in ihm leben, weben und sind wir“ (V. 28). Und schließlich zitiert er sogar ausdrücklich ein griechisches Gedicht: „Wir sind seines [also: Gottes] Geschlechts“ (V. 28).
Ein religiöser Umstürzler scheint das nicht zu sein, der so redet. Für diejenigen, die nur auf Neues aus waren, hört sich das vielleicht sogar zu vertraut an. Doch es ist unverkennbar: In Anknüpfung an den „unbekannten Gott“ wird der eine, wahre Gott verkündet, der Himmel und Erde gemacht hat und dem alle Menschen ihr Leben verdanken.  Dieser Gott „wohnt nicht in Tempeln, die mit Händen gemacht sind“ (V. 24). Er entzieht sich jeder menschlichen Verfügbarkeit. Und er ist himmelweit unterschieden von den „goldenen, silbernen und steinernen Bildern, durch menschliche Kunst und Gedanken gemacht“ (V. 29). Warum ist der Apostel sich dessen so sicher? Weil Gott sich in einem lebendigen Menschen offenbar hat, aus Fleisch und Blut, und sich in ihm erniedrigt hat, deshalb braucht niemand mehr sein Vertrauen auf Gottesbilder oder Tempel zu setzen, die von Menschenhand gemacht sind. Weil er den Gekreuzigten von den Toten auferweckt hat, kann jedem klar sein, vor wem allein wir Menschen letzte Rechenschaft schuldig sind: nicht vor dem Kaiser in Rom, nicht vor dem Areopag in Athen, sondern vor Gott selbst und vor ihm allein. Fordernd klingen solche Worte; doch vor allem befreien sie aus der Unterwerfung unter die selbst gemachten Götter. Die Verteidigungsrede vor dem Areopag wird zur Religionskritik im Namen des einen Gottes.
Christliche Verkündigung ist seitdem immer auch Religionskritik. Sie verwirft die religiöse Suche der Menschen nicht einfach, sondern spürt die Lebenssehnsucht auf, die aus ihr spricht. Denn Gott selbst hat die Sehnsucht in die Menschen gelegt, „ob sie ihn wohl fühlen und finden könnten; und fürwahr, er ist nicht ferne von einem jeden unter uns“ (V. 27). Oder wie es im Gebet des Kirchenvaters Augustinus heißt: „Gott, du hast uns geschaffen, und unser Herz ist unruhig, bis es Ruhe findet in dir.“ Wir Menschen suchen über uns hinaus; wir sind selbsttranszendente Wesen. Wir wollen nicht bei uns selbst bleiben; wir suchen die Gemeinschaft mit Gott. Denn es wäre ein Fluch für uns, wenn wir bei der Suche über uns hinaus immer nur auf uns selbst stoßen würden.
Darüber, ob das so ist, entbrennt auch heute der Streit. Auf der einen Seite geben viele Menschen ihrer religiösen Sehnsucht neuen Raum. Von Gott ist wieder die Rede, auch in alltäglichen Zusammenhängen. Dass Religion zu den grundlegenden Aspekten des menschlichen Lebens gehört, wird wieder anerkannt. Und es wird auch wieder öffentlich zur Geltung gebracht – in ziemlich vielfältigen und auch nicht nur in erfreulichen Formen.
Doch auf der anderen Seite wird auch die Feindschaft gegen die Religion laut. Es gibt Menschen, die genau dies für richtig halten: dass der Mensch bei der Suche über sich hinaus nur auf sich selbst stößt, dass der Mensch selbst das Maß aller Dinge und der Herr des Universums ist. Eine neue Bewegung radikaler Atheisten formiert sich. Was in den USA oder in Großbritannien schon Gestalt angenommen hat, wird sich vermutlich auch in Deutschland zu Wort melden. Schon der Gedanke, einen „Zentralrat der Nichtkonfessionellen“ zu gründen, weist in eine solche Richtung.
Im angelsächsischen Raum nennen sich die neuen Atheisten „the Brights“, die Aufgeweckten. Das war immer wieder der Ansatz: die Glaubenslosigkeit als das Aufgeweckte und den Glauben als das Rückständige anzusehen. Jetzt wird dafür auch die moderne Gehirnphysiologie benutzt. Da man meint, die Region im menschlichen Gehirn aufgefunden zu haben, in der religiöse Empfindungen ihren Ort haben, soll damit der Glaube selbst seinen Sinn verlieren; denn er ist nicht mehr als eine gehirnphysiologische Regung. Dabei wäre es merkwürdig, wenn unser religiöses Denken und Empfinden, unser Hören und Beten keine körperlichen Entsprechungen hätten. Doch wer meint, damit die Frage nach der Wahrheit des Glaubens zu beantworten, sitzt selbst einem Wissenschaftsglauben auf. Die Gottesfrage ist nicht in einem Hirnlappen versteckt. Sie lässt sich auch nicht durch das Messen von Gehirnströmen beantworten. Eine ideologische Selbstgenügsamkeit des Menschen ist keineswegs fraglos das Moderne; der Glaube ist keineswegs mit Selbstverständlichkeit als rückständig zu betrachten.
Der Glaube an Gott hat es auch nicht mit einer Determination durch physiologische Vorgänge zu tun. Er hat es vielmehr mit der Freiheit des Menschen zu tun. Der christliche Glaube jedenfalls versteht den Menschen nicht als abhängig von seinen Genen und Gehirnströmen. Er schenkt dem Menschen vielmehr die Freiheit, zu solchen Bedingungen seines endlichen Lebens ein eigenständiges Verhältnis zu entwickeln. Wer sich als Geschöpf Gottes versteht, tritt aus der Gefangenschaft im eigenen Selbst heraus. Er entdeckt die Würde, mit der Gott ihn selbst und alle anderen begabt hat. Er kann zu anderen wie zu sich selbst in Beziehung treten: „Liebe deinen Nächsten wie sich selbst.“ Diese Leitlinie eines Lebens aus Glauben hat darin ihren Grund, dass Gott selbst zu uns in Beziehung tritt, dass wir seine Liebe erfahren und ihn selbst lieben können: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften. Und: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Es ist kein anderes Gebot größer als diese“ (Mk 12, 32).
Die religiöse Sehnsucht der Menschen zu achten, ist das eine. Aber ebenso notwendig ist es, überall da die Stimme zu erheben, wo an die Stelle des lebendigen Gottes irgendwelche selbstgemachten Götter treten.
Martin Luthers berühmte Aussage, dass das, woran einer sein Herz hängt, sein Gott ist, leitet zu der kritischen Prüfung an, ob denn das, was das Herz in Anspruch nimmt, diesen Anspruch auch zu Recht erheben kann. Ob es den Menschen, der als Gottes Bild geschaffen und gewollt ist, seine Würde und seine Freiheit gewinnen lässt oder ob es ihn in neue Abhängigkeiten führt.
Hier zeigt sich, dass das Wort Gottes nicht nur lebendig und kräftig ist, sondern dass es auch mit seiner Schärfe zur Klarheit führt und zwischen Gott und Götze, zwischen Gott und Abgott zu unterscheiden hilft, wo immer das nötig ist. In der Verkündigung des Paulus in Athen gehören die Verkündigung des Schöpfers und die Kritik an weltlicher Herrschaft, die sich gottgleich gebärdet, deshalb unmittelbar zusammen. Wer es hören wollte, konnte es deutlich hören.
6.
Das Ende der Unwissenheit. Mit dem Aufruf zur Buße endet diese Predigt. Von Anpassung ist keine Rede mehr. Ganz direkt klingt ein Stichwort der Botschaft Jesu auf: „Die Zeit ist erfüllt und das Reich Gottes ist herbeigekommen. Tut Buße und glaubt an das Evangelium!“ (Mk 1, 14). Aber nun wird nicht nur diese Aufforderung Jesu wiederholt. Denn aus dem Verkündiger des Reiches Gottes ist der Verkündigte geworden. Das ist mit der Botschaft von der Auferweckung Jesu von den Toten gemeint. Die ermöglicht über die Generationen hinweg das Vertrauen auf Gott. Dazu mit seinen menschlichen Worten Hilfestellung zu geben, ist der Apostel berufen. Und wir sind es auch. Das meinen wir, wenn wir sagen, dass wir zum Zeugnis von Jesus Christus und in diesem Sinn zur Mission beauftragt sind. Der Respekt vor den Überzeugungen unserer Gesprächspartner wird damit nicht in Zweifel gezogen, er wird vielmehr vorausgesetzt. Keine Mission ohne Dialog. Das Gespräch mit Muslimen in Deutschland steht insofern unter den gleichen Bedingungen wie das Gespräch des Paulus mit den Philosophen von Athen. Es ist wie bei jedem Gespräch, das diesen Namen verdient: Der Respekt vor dem anderen und die Verpflichtung auf die Wahrheit gehören zusammen.
Deshalb stellt Paulus dieses Gespräch in den Horizont einer letzten Rechenschaft, eines letzten Gerichts. Damit baut er keine Drohkulisse auf. Denn das Evangelium von Gottes Gnade wird ja in sein Gegenteil verkehrt, wenn es im Sinn einer „schwarzen Pädagogik“ dazu benutzt wird, Menschen zu verunsichern und sie in Höllenangst zu stürzen. Wir sollten uns deshalb auch nicht an dem Wettstreit beteiligen, nach dem diejenige Religion die beste ist, in der die Hölle am grausigsten geschildert wird.
Denn dass Gott „den Erdkreis mit Gerechtigkeit richten will“ (V 31), ist keine Schreckensbotschaft, sondern ein Ausdruck der Hoffnung. Die Ungerechtigkeit hat nicht das letzte Wort. Mit der Auferweckung Jesu von den Toten ist schon mitten im Alten die Umkehrung der Verhältnisse angebrochen. Die Welt kann anders werden, so haben wir es in diesen Tagen auch angesichts von Klimakatastrophe und schreiender Armut in Afrika bekannt. Gott eröffnet für seine Schöpfung eine hoffnungsvolle Perspektive. Und er ermutigt uns, um diese Hoffnung zu beten und aus ihr zu handeln.

7.
Perspektivenwechsel. Die Folgen eines solchen Perspektivenwechsels sind vielfältig. Die Besinnung auf den Kern unseres Glaubens, zu der Paulus mit seiner Verteidigungsrede einlässt, hat Konsequenzen. Für jeden von uns bedeutet es, zu den Grundfragen und den Grenzerfahrungen des eigenen Lebens ein anderes, ein bewusstes Verhältnis zu entwickeln. Für uns als Kirche bedeutet es, die Unterscheidung zwischen Gott und den Götzen deutlich zu verkündigen und auch in die Streitfragen unserer Zeit einzubringen: gegen eine Vergötzung der Wirtschaft als Selbstzweck und damit für deren dienende Funktion, gegen das selbstsüchtige Hinausschieben der nötigen Schritte zur Eindämmung der Klimakatastrophe und damit für die Lebensbedingungen künftiger Generationen, gegen den Anspruch, über Anfang und Ende des Lebens verfügen zu können und damit für den Schutz des Lebens zu Beginn und für eine fürsorgliche Begleitung von Menschen am Ende ihres Weges.
Um dieser Aufgaben willen sind wir verpflichtet, der Gottvergessenheit zu wehren, auch soweit es um politische Verantwortung geht. Deshalb ist es der erste Auftrag der Kirche in der Öffentlichkeit, von Gott zu reden und das Schweigen von Gott zu durchbrechen, statt es zu verdoppeln. Das Wort Gottes soll immer wieder „lebendig, kräftig und schärfer“ laut werden.

8.
Und schließlich: die Wirkung. „Als sie von der Auferstehung der Toten hörten, begannen die einen zu spotten; die andern aber sprachen: Wir wollen dich darüber ein andermal weiterhören“ (V. 32). Keine große Zustimmung, bestenfalls – außer Spott – ein angedeutetes Interesse, das Gespräch „ein andermal“ fortzuführen.
Lukas berichtet nur von „einigen Männern“ (V 34), die sich Paulus anschließen, und nennt namentlich nur einen Dionysius, „ein Mitglied aus dem Areopag“ (wie es wörtlich heißt), und eine Frau mit Namen Damaris. In Athen ist der Missionsarbeit des Paulus ein großer, sichtbarer Erfolg versagt geblieben. Keine Gemeinde ist dort entstanden. Ist die Stadt ein „zu harter Boden“ für das ausgesäte Wort Gottes? Vereinnahmt der Markt der Angebote das Evangelium als eine Botschaft unter vielen?
Nun stehen die Namen Dionysius und Damaris nicht nur für zwei einzelne Menschen. Vielmehr repräsentieren sie auch unterschiedliche Gruppen, die sich zur urchristlichen Bewegung zählen. So steht Dionysius als Mitglied des Areopags sozusagen für die andere Seite, die mit ihm stellvertretend gewonnen wird. Und Damaris repräsentiert die vielen Frauen, die sich Paulus anschließen, wie wir das auch aus seinen Briefen wissen.
Dass das Wort Gottes, wie es beim Propheten Jesaja heißt, „nicht leer zurückkommt“ (Jes 55,11), ist aber offensichtlich nicht immer unmittelbar an dem abzulesen, was vor Augen sichtbar wird. In diesem Sinne stimmt es, dass „Erfolg keiner der Namen Gottes“ (Martin Buber) ist.
Die Erzählung von der Missionsreise des Apostels Paulus ist auch hier wieder ganz nah bei unseren Erfahrungen: Dass die Saat des Wortes Gottes aufgeht, ist die Hoffnung, die uns bei der Verkündigung des Evangeliums leitet. Aber wir wissen, dass die Umkehr der Herzen letztlich Gottes eigene Sache sind. Das kann uns vor Entmutigung bewahren. Unsere Aufgabe ist es nicht, nachzuzählen, wie viele Menschen das Wort Gottes erreicht hat. Unsere Aufgabe ist es, uns mit Paulus getrost auf den Markt der religiösen Angebote zu begeben und dort für das einzustehen, was uns selbst als befreiende Wahrheit widerfahren ist. Dazu werden wir heute Morgen ermutigt. Dass es gelingt, erhoffen wir von Gottes Geist.