Eingesperrt im goldenen Rahmen - Ein Geburtstagsbrief an die heilige Elisabeth von Thüringen

Petra Bahr

Ihre Religiosität und ihre Hingabe an Arme und Kranke faszinieren bis heute. Der 800. Geburtstag der Elisabeth von Thüringen wird in diesem Jahr begangen. Petra Bahr, Kulturbeauftragte der EKD, schreibt einen persönlichen Geburtstagsbrief.

"Hochwohlgeborene Frau – oder darf ich Schwester sagen? Ich vermute mal, wir müssen nicht beim distanzierten „Sie“ bleiben, haben Sie doch den Mägden in der Küche des berühmten Marburger Hospitals auch das Du angeboten. Zugegeben, es mag etwas verwundern, wenn ich zu deinem 800. Geburtstag so persönlich werde.

So viele Historiker, Mythenmacher und Fans haben versucht, mir in dicken oder dünnen Büchern dein Leben nahe zu bringen. Das Leben einer Heiligen. Große Bildhauer wie Tilmann Riemenschneider haben dir eine Skulptur gewidmet. Dein Antlitz prägt Münzen, Kirchenfenster zeigen dich in typisierter Samariterinnengeste – eine elegante hohe Dame, die sich zu den Armen und Kranken herunterbeugt. Du hast die Pathosformeln des Helfens in die Kulturgeschichte getragen. Unzählige Patronate über Stifte, Krankenhäuser und diakonische Einrichtungen tragen deinen Namen. Doch willst du mir einfach nicht näher kommen. Die Legendenbildung hat aus dir eine überirdische Ikone christlichen Lebens gemacht. Vieles an dir bleibt mir allerdings rätselhaft.

Genug der Bewunderung, habe ich mir deshalb gesagt. Ich will dir lieber ein paar ehrliche Fragen stellen. Um dich aus der Reserve zu locken oder zumindest aus dem goldenen Rahmen, in den wir dich eingesperrt haben. Ich vermute mal, es ist gar nicht so einfach, das Nachleben einer Heiligen zu führen. Schon fünfzig Jahre nach deinem Tod erschien die erste Heiligenvita über dich. Du musst die Menschen deiner Zeit sehr beeindruckt haben. Und das, obwohl du gerade mal 24 Jahre alt geworden bist. In deinem Jubiläumsjahr stellt man dich als Mischung aus Lady Diana und Mutter Theresa dar. Ein wenig Mette Marit ist auch dabei. Da ist es gar nicht so einfach, sich dir zu nähern. Das, was seit dem 13. Jahrhundert von dir an Quellen geblieben ist, sind lauter tote Dinge. Dokumente und Besitzurkunden, Siegel und Münzen. Dir hätte das alles vermutlich nichts bedeutet, weil dir Dinge nichts bedeutet haben.

Unsere einzigen Spuren von dir sagen nicht sehr viel. Dazu die Zeugenverhöre, die in dem Kanonisierungsverfahren zur Heiligenverehrung gesammelt wurden. Die meisten stammen von deinen ehemaligen Spielgefährtinnen, Hofdamen und Freundinnen und könnten deshalb aufschlussreich sein.

Die Namen deiner Freundinnen weisen ins ferne Reich des Mittelalters. Guda und Isentrud. Leider geben Zeuginnen nur auf die Fragen eine Antwort, die ihnen gestellt ist. So muss ziemlich viel offen bleiben. Dein Leben ist aus heutiger Perspektive auch ohne Legendenbildung und Wundererzählungen schon ziemlich fremd. Du wirst als ungarische Königstochter in eine Märchenwelt hineingeboren, in der es Minnesänger, Ritter und Burgen wirklich gibt. Deine Verwandtschaft besteht aus Bischöfen, Regentinnen und Äbtissinnen großer Klostergemeinschaften. So jemand wie du wächst mehrsprachig auf, denn deine Mutter ist Deutsche.

Mädchen bei Hof lernen in dieser Zeit Lesen und Schreiben. Für Jungen steht diese Art der Bildung nicht auf dem Programm. Sie lernen Fechten, Raufen und Regieren. Wie letzteres ohne Lesen und Schreiben gehen soll, ist mir schleierhaft. Ob da heimlich die Frauen beim Regieren helfen mussten? Schon die kleine Elisabeth soll der Putzsucht ihrer Freundinnen einen Riegel vorgeschoben haben, sagen die Hüter deiner Legende. Als Königstochter trugst du nur einfache Kleidung, hast auf Schmuck verzichtet und bist immer dann betend auf die Knie gefallen, wenn Spiel und Eitelkeit drohte. Selbstdisziplin und Demut sei deine liebste Kinderübung gewesen, heißt es. Ich kann nicht sagen, dass mir das sympathisch klingt. Eine neunmalkluge Spielverderberin, die den Freundinnen die Glanzbilder aus den Händen nimmt und in Fetzen zerreißt? Immerhin ist auch überliefert, dass du eine wilde Reiterin gewesen bist. Im Damensattel über das Anwesen der königlichen Pfalz zu jagen, das klingt gar nicht selbstdiszipliniert. Irgendwie beruhigend, dass sich ein paar Leidenschaften in dein Heiligenbild eingetragen haben. Schon als kleines Mädchen wirst du verlobt, aus politischem Kalkül, wie es üblich ist. Deshalb schickt deine Familie dich schon im Kindesalter an den Hof deines künftigen Mannes. Im fernen Thüringen wächst du nun auf, auf der Burg deiner späteren Schwiegereltern und deines zukünftigen Gatten, der da noch ein kleiner Junge ist. So weit weg von zuhause, nur begleitet von einem Onkel und einer Tante, hast du da nicht gelitten, aus Heimweh, aus Sehnsucht nach der eigenen Familie? Immerhin haben sie dir eine Spielgefährtin aus Ungarn mit auf die Reise geschickt.

Mit zwanzig Jahren heiratest du Ludwig, den Landgraf von Thüringen. Nach allem, was die Quellen sagen, war es eine Liebesheirat. Oder sollte ich besser sagen: wurde es eine Liebesheirat? Trotzdem ist ein Spruch von dir überliefert, bei dem du bedauerst, nicht im Stand der Jungfräulichkeit zu leben. Die tiefe Abwertung der Sexualität ist im frühen 13. Jahrhundert bekannt. Körperliche Nähe ist immer verdächtig. Nur zur Fortpflanzung kann sie widerwillig hingenommen werden. Und doch hast du mit deinem Gatten öffentlich Zärtlichkeiten und Küsse ausgetauscht. Ihr seid geradezu zum Idealbild der deutschen Minnedichtung geworden. Wie passt das zusammen? Sogar bei deinen nächtlichen Gebeten soll er dir die Hand gehalten haben, auch, damit du es nicht zu bunt treibst mit deinen geistlichen Übungen. Eine anrührende Vorstellung, finde ich, die sehr für deinen Ehemann spricht. „Am liebsten würde ich immer nur beten und mich damit von meinem Mann fortreißen“, sagst du einmal. Warst du so hin und her gerissen zwischen der Liebe zu deinem Mann und der Liebe zu Gott? Oder hat dein Seelsorger, Konrad von Marburg, dir den Konflikt nur eingeredet? Dieser Geistliche spielt nämlich eine mindestens so große Rolle in deinem Leben wie Ludwig. Und ich gebe zu, dass mich deine Beziehung zu ihm am meisten irritiert. Du unterwirfst dich seinem Befehl in einer Weise, die sonst gar nicht zu dir passt. Schon als junge Frau hast du einen wachen Sinn für die sozialen Probleme, vor allem für die Schere zwischen Arm und Reich, die sich in der mittelalterlichen Gesellschaft auftut. Du hast die Armut nicht als gottgegeben hingenommen und dich verantwortlich gefühlt, dafür, den Reichtum gerechter zu verteilen. Dabei bist du sehr planvoll vorgegangen. Die Hilfe, die du in Thüringen organisiert hast, hat mit großzügiger Almosengeste nichts zu tun. Natürlich bist du von den mächtigen Armutsbewegungen geprägt, die die Christenheit im 12. und 13. Jahrhundert erschüttert. Du wolltest die Zustände ändern. Dafür hast du auch auf starke symbolische Handlungen gesetzt. Du hast dich zum Beispiel geweigert, Dinge zu essen und zu trinken, die aus zweifelhafter Quelle, etwa aus der Ausbeutung der Bauern, stammt. Nur was die Güter und Ländereien direkt hergaben, wurde dir zur Speise. Damit hast du den Hof immer wieder gegen dich aufgebracht. Deine offen zur Schau gestellt Askese hat sie teilweise maßlos geärgert. Das ist ziemlich mutig von dir gewesen, finde ich. Und selbstbewusst. Deshalb verstehe ich nicht, warum du dich den immer radikaleren Speisegesetzen deines Beichtvaters Konrad auch noch dann unterwirfst, als du vor Schwäche fast vom Pferd fällst. Und dass du heimlich isst, erwischt wirst und dich dann von Konrad züchtigen lässt. Überhaupt ist mir diese Sehnsucht nach körperlicher Unterwerfung fremd. Sie stößt mich ab, auch wenn sie sich aus der Frömmigkeit der Zeit ohne weiteres erklären lässt. Ein blutiger Rücken als Zeichen der Gottesliebe, das will mir weniger einleuchten als dein diätetischer Lebensstil, deine Fähigkeit zum Verzicht und deine unermüdliche Hilfe für andere. Für dich gehört offenbar beides zusammen.

Du bist dabei, als Ludwig sein Kreuzfahrergelübde spricht. Mehrer Jahre lang versucht der Papst vergeblich unter Androhung der Exkommunikation, den jungen Regenten zum Waffenritt ins Heilige Land zu überreden. Jerusalem soll von den Sarazenen befreit werden. Blutvergießen wird da in Kauf genommen. Dein Ehemann stimmt zu. 1227 zieht er in den Krieg. Er „nimmt sein Kreuz“, wie es damals heißt. Eine gefährliche Umdeutung des Leidens Jesu, will mir scheinen. Eine Umdeutung, die das Weltbild deiner Zeit tief beeinflusst. Ich vermute, dass du ihn in dieser Entscheidung unterstützt, auch wenn dich das dem Witwenstand vermutlich näher bringt. Deshalb versprichst du schon einmal für den Fall der Fälle, nicht wieder zu heiraten und ein religiöses Leben zu führen, das ganz von Keuschheit und Armut geprägt sein soll. Drei kleine Kinder hast Du da schon, zwei Mädchen und einen Jungen. Der Abschied von Ludwig ist auf Münzen geprägt. Ludwig wird das Heilige Land nicht erreichen. Er stirbt kurz vor dem Ziel an einer Infektion. Du erfährst erst ein halbes Jahr später von seinem Tod. Kaum ist Ludwig weg, spinnt dein Schwager eine Intrige gegen dich. Er ist scharf auf den Regentenstuhl und schikaniert dich so, dass du die Flucht ergreifst. Nach einem Irrweg durch Deutschland gehst du endlich deinen eigenen Weg. Der führt dich nach Marburg. Vorher hast du deine Kinder weggegeben.

Trennung von den Kindern

Zu Verwandten den Jungen, in Klöster die Mädchen. Mit großem argumentativen Aufwand versuchen die – männlichen – Autoren deiner Biographie, diese Entscheidung zu erklären. Die Trennung von den Kindern ist der Preis für dein Engagement für die Armen. Keine Frage. Und doch ist es bemerkenswert, dass die gleichen Männer, die dich wortreich vor dem Vorwurf in Schutz nehmen, du seiest eine Rabenmutter, in unserer Zeit kaum ertragen, dass eine Frau ihre Kinder in eine Krippe gibt, um zu arbeiten. Die Trennung von deinen Kindern mag man nachvollziehbar finden oder nicht, ich kann mir nicht vorstellen, dass sie dir leicht gefallen ist. Aber du hast dich mit aller Kraft und all deinem Geld in den Aufbau des Hospizes gestürzt. Wieder kommt deine planerische Begabung zum Vorschein, dein Organisationstalent. Sie verbinden sich mit großer Menschenliebe zur großen Kraft. Ein Hinweis auf dich gefällt mir besonders gut. Du hättest die Kranken mit Lachen und Scherzen geheilt. Humor hattest du offenbar genauso wie die Fähigkeit zur Selbstdistanz. Um so mehr bleibt mir im Dunkeln, wieso du dich immer wieder von Konrads maßlosen Interventionen in der Leitung deines Krankenhauses beeinflussen lässt. Er schickt deine beiden Hofdamen und Freundinnen weg, um dir zwei nörgelnde, unzufriedene Frauen an die Seite zu geben – du fügst dich. Ich bin froh, dass es auch Indizien dafür gibt, dass du deinen leitenden Geistlichen mit weiblicher Finesse austrickst. Als er dir verbietet, den Armen mehr als einen Pfennig zu geben, gibst du jedem Notdürftigen mehrmals hintereinander einen Pfennig. Und als er dich daran hindern will, eine Kranke aufzunehmen, versteckst du sie in einem Schuppen und pflegst sie gesund. Dann wieder kommt es zu Szenen, die mir unerträglich sind. Etwa wenn Konrad von Marburg dich ohrfeigt „in Erinnerung an die Ohrfeigen, die Jesus einst erhalten hatte“. Diese Mischung aus großer Eigenständigkeit und unbedingtem Gehorsam auf der anderen Seite ist irritierend. Ich weiß nicht, ob man sie allein aus dem Zeitgeist erklären kann. Denn du hättest ja in deiner Zeit nicht für so viel Aufsehen gesorgt, wenn dein Verhalten üblich gewesen wäre. Immer wieder nimmst du Adelige und Könige in die Pflicht, damit sie Verantwortung übernehmen und die Ausbeutung der Abhängigen beenden. Die Königstochter, die in Lumpen geht, das macht Eindruck, weil Reden und Handeln übereinstimmen und symbolische Aktionen um einer größeren Sache willen geschehen. Du bist unterwürfig und stolz zugleich, einerseits unabhängig und dann wieder gehorsam bis zur Selbstverleugnung.

Vielleicht muss ich dich gar nicht verstehen. Vielleicht kann ich mich von deinem tatkräftigen Eigensinn faszinieren lassen, gerade weil du mir so manches Rätsel aufgibst. Am Morgen des 17. November 1231 stirbst du an den Folgen einer schweren Krankheit. Du hattest gerade erst begonnen, deine Projekte umzusetzen. Weil du so schnell zur Heiligen wurdest, vergisst man schnell, dass dein Leben schon nach 24 Jahren endete. Nach deinem Tod kamen Tausende aus allen Ecken und Enden Europas, um an dein Grab in Marburg zu pilgern. Du hast etwas bewegt. Das sollte mir genügen."