Fremde Orte - Die Kirche als Heterotopos in der Stadt

Petra Bahr

Vortrag in der Martinskirche zu Kassel

Kennen Sie „Google Earth“, dieses fabelhafte Spielzeug für Menschen mit Internetanschluss? Mit Google-Earth hat sich das Computerzeitalter einen Traum des Barock erfüllt. Der Universalphilosoph Gottfried Wilhelm Leibniz hätte feuchte Augen bekommen, wäre er bei einem kartographischen Überflug über die Welt dabei gewesen - mit Maus in der Hand und starrem Blick auf den Bildschirm. Einmal aus der Perspektive Gottes die Welt von oben sehen, vom Makrokosmos zum Mikrokosmos, das können wir Internetnutzer, dank der Kameraspione aus dem All, die uns ununterbrochen fotografieren. Erst erscheint die Erde wie eine Christbaumkugel in der dunklen Nacht der weiten Welt. Dann erscheinen Kontinente, später Länder. Der Betrachter wird geradezu magisch angezogen vom immer genaueren Bild. Und irgendwann kann man die eigene Patentante fast neben ihrem Swimmingpool winken sehen. Oder überprüfen, ob das gebuchte Hotel wirklich in Strandnähe liegt. Oder aber seine Heimatstadt lustvoll von oben anschauen. Beim kartographischen Blick über die Städte des Landes wird schnell klar, wie sehr die Kirchen als strukturgebende und ordnende Kraftzentren funktionieren.

Immer noch, auch nach mehreren Stadtentwicklungsepochen, spinnen sich Straßen und Wege als Stern oder Rasterform von den großen Kirchen zu - oder von ihnen weg - je nach Richtungssinn. Kirchen ordnen die Quartiere und Stadtteile. Und wo sie es nicht mehr tun, sieht man die Bausünden und die unmenschlichen Wohnareale schon von oben. Hier, wo die Zentren fehlen, fransen die Städte in Wohnsiedlungen und Bettenburgen aus, die wie Kirchtürme in den Himmel ragen und doch nichts mehr versprechen. Kein Wunder, dass auch unter den Stadtplanern unserer Zeit der Ruf nach zentrierenden Sakralbauten wieder lauter wird. Durch Bürgerhäuser, Stadtteilzentren und Mehrzwecksäle sind sie offenbar nicht zu ersetzen.

Es besteht kein Zweifel: Kirchen sind bedeutende architektonische Räume, die häufig die Geschichte einer ganzen Stadt in den Mauern tragen. Umbauten, Anbauten und Neubauten, Abrisse und Renovierungen legen sich übereinander wie die Schriften auf einem alten Palimpsest. Epitaphe und Bronzetafeln künden von traurigen Todesarten. Dort das adelige Fräulein, das im Kindbett stirbt und vom Vater, dem Patronat eine ewige Erinnerung an der Seite des Kirchenschiffs erhält. Hier die langen Namenslisten der Erichs, Gustavs und Karls, junge Männer, die ein paar Jahre früher noch die Namen der Angebeteten in die Kirchenbank geritzt haben und nun in der Hölle von Verdun ihr Leben ließen.

Kirchen in der Stadt sind auch die Stein gewordene Erinnerung der wechselvollen Religionsgeschichte. Die Spuren von Reformation und Gegenreformation, von Umwidmung, Profanierung und Resakralisierung, von Brandschatzung und Neuaufbau verweisen auf eine unruhige, ja bisweilen gewaltvolle Geschichte. Kirchen mögen für die Ewigkeit gebaut werden, unveränderlich oder gar unverletzlich waren sie nie. Bilderstürme und Kriegsbeute haben Lücken in die ausgestellten Kunstschätze gerissen. In vielen Kirchen werden sie die weißen Flecken noch erkennen. - Spuren des Verlustes oder der Zerstörung, die bis in die städteplanerische Abrissphase der 70er Jahre ragen, sind überall sichtbar. Hier hat einmal ein Bild gehangen. Hier stand eine Apostelbüste. Hier haben sie die Retabel zerstört, dort die Rückseite des Flügelaltars übermalt, da wiederum den Hochaltar herausgerissen, hier den zweiten Turm abgetragen oder die Glocken eingeschmolzen.

Viele Kirchen tragen auch schon eine eigene Umnutzungsgeschichte in ihren Mauern und manch eine Umnutzungsgeschichte ist schlicht Ausdruck eines großen Mangels. An Baumaterialien, an Metall, an Raum. Kirchen waren auch als heilige Räume niemals sakrosankt, sondern als Projektionsflächen und Austragungsorte von religiösen, ästhetischen und politischen Konflikten brisante Orte. Oft genug waren sie auch nur Experimentierflächen für wechselnde Geschmäcker oder die allmähliche Veränderung des religionsästhetischen Stilempfindens. Das ging nicht ohne Machtspiele und Intrigen ab. Viele Konflikte, die auf der Schwelle der Stadtkirchen tobten, entpuppten sich im Rückblick als Stellvertreterkonflikte. Der Pfarrer gegen die Bürgerschaft. Die eine Bürgerschaft gegen die andere. Die Christengemeinde gegen die Vertreter der weltlichen Hierarchie.

Wer mag heute noch glauben, dass sich die Gemeinde die Ohren zuhielt, als im 19. Jahrhundert ein Kantor auf die Idee kam, eine Kantate von Johann Sebastian Bach aufzuführen. Oder dass man sich im Mittelalter heftige und nicht immer nur theoretische Gefechte darüber lieferte, ob eine Christusfigur schön sein müsse, damit sie den Glanz des Göttlichen in der modernen Gestalt offenbare, oder hässlich und nackt, damit die Menschlichkeit Gottes auch vollendet zur Darstellung komme. Wer will sich heute noch vorstellen, welche Empörung ein Tafelbild von Conrad von Soest auslösen könnte. Mit tumultartigen Ausschreitungen auf dem Platz vor der Kirche. Oder mit welcher Brutalität im Ton im Heidelberg der 80er Jahre gegen die Schreiter-Fenster gekämpft wurde, die der Kirchenvorstand der Heiliggeistkirche an der Längsseite einsetzen wollte, um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass das Gotteshaus in einer Stadt der Wissenschaften steht. 

Oft - und Heidelberg ist geradezu ein Paradigma für die lange Geschichte von Kirchenkunstskandalen - ist nicht die Gemeinde im engeren Sinne der Ort, an dem der Konflikt sich anheizt. Oft sind es Kräfte von außen, die ihre Vorstellung von dem, wie die Kirche zu sein hätte, die man nie besucht, die zur Skandalisierung beitragen. Die Kirche in der Stadt, an der man Tag aus Tag ein vorbei läuft, möglicherweise, ohne sie überhaupt je zu betreten, lagert Wünsche und Hoffnungen an, die mit dem, was in diesem Gebäude selbst geschieht, nicht immer viel zu tun haben. Dieser Effekt, dass Kirchen Hoffnungen und Erwartungen schüren, ohne dass man selbst über die Schwelle ins Ungewisse tritt, zeigt sich augenblicklich auch im Osten dieses Landes. Unzählige Fördervereine setzen sich für den Erhalt ihrer Kirchen ein. Menschen, denen zwei Diktaturen den Zugang zur christlichen Botschaft gründlich verbaut haben, engagieren sich nun dafür, dass die Kirche im Dorf bleibt. Ein Dorf, das seine Kirche nicht aufgibt, hat sich selbst noch nicht aufgegeben, heißt es hier, wo längst Geisterstädte die Bundesstraßen säumen. Kirchen waren und sind als öffentliche Orte immer auch Orte, in denen sich die großen gesellschaftlichen Konflikte spiegeln - oft genug, bevor sie entschieden sind. Da sind zuallererst natürlich die theologischen Konflikte, etwa der Streit um die Bedeutung des Abendmahls, der sich sofort im Arrangement des Kirchraums niedergeschlagen hat. Und ja nach Bekenntniswenden wurde auch im Kirchraum wieder ordentlich umgestellt, herausgerissen, neu in Auftrag geben und neu möbliert. Wenn es heute manchmal so scheint, dass unsere Vorfahren ihre würdigen Gemäuer mit Respekt und Samthandschuhen angefasst hätten, so täuscht das.

Erst im 19. Jahrhundert, als der Historismus allmählich ein Geschichtskonzept populär macht, das das Heil in der Bewahrung des Alten sucht oder sich wenigstens um seine Imitation bemüht, wie die neugotischen Kirchen beweisen, die unser Land durchziehen, steigt auch der Respekt vor dem Hergebrachten. Vorher war man ganz lässig und ohne Hinterfrage davon überzeugt, dass jede Zeit ihre Kirchen, ihren Baustil, ihre Kunst und ihre Formen braucht, den alten Überlieferungen zum Trotz. Im 18. Jahrhundert, im Jahrhundert der emphatischen Vorwärtsstürmerei, konnte man sich mit dem Hergebrachten nur mühsam arrangieren. Wer das nicht glauben mag, kann einen anderen Beleg finden: die Gesangbuchredaktionen, die seit hunderten von Jahren kürzen und entfernen, modernisieren und korrigieren. Dass diese Neuerungswut im Namen des Fortschritts und der religiösen Sprachmoden durchaus fatale Auswirkungen haben kann, wissen wir heute. Heute versuchen wir mit kritischen Editionen, Urtexten auf die Spur zu kommen. Die Orientierung an historischer Rekonstruktion steht in eigentümlicher Spannung zur kurrenten Geschichtsvergessenheit - oder ist es nur die Rede davon? In den letzten Jahren ist die Klage über das mangelnde Geschichtsbewusstsein der Moderne zur beliebten Pathosformel der Krisenrhetorik geworden, nach der früher alles besser war. Was den Umgang mit den Kirchen und ihrem Inventar angeht, so korrigiert die seriöse Geschichtsschreibung diese These als Vorurteil und Sehnsuchtsbild. Der Denkmalschutz ist ein wichtiges kulturpolitisches und religionspolitisches Anliegen, mit dem Martin Luther vermutlich wenig hätte anfangen können. Der bewahrende und konservierende Umgang mit Sakralbauten, Kunst und anderen Kulturgütern ist eine Erfindung des 19. Jahrhunderts, in dem Museen heilige Orte rückwärtsbezogener Utopien werden. Doch Kirchen, auch nicht die, die einen Eintrag in den Listen von Weltkulturerbe und denkmalgeschützten Bauten gefunden haben, sind eben in evangelischer Perspektive keine Museen einer vergangenen Christentumskultur oder Ausstellungen ehemaliger Glaubenskraft. Sie sind Orte, wo Menschen von Heute dem Heute begegnen.

Kirchen sind mehr als Architektur, mehr als Marker in der Stadtlandschaft und ordnende Fixpunkte für den Städtebau. Sie sind auch mehr als bedeutende kulturelle Zeugnisse des Christentums. Wer die Bedeutung von Kirchen in der Stadt in seiner Reichweite erfassen will, darf Kirchen nicht auf ihre Baugeschichte, auf ihre Religionsgeschichte und ihre Kunst- und Musikgeschichte reduzieren. Kirchen sind immer auch symbolische Räume. Ihre Atmosphäre schürt Erwartungen, die den Alltag durchbrechen.

Die Gottesdienste, die manchmal schon seit hunderten von Jahren in einer Kirche gefeiert wurden, haben sich in den Mauern abgelagert wie feine Partikel, die den Raum zum Schwingen bringen. All die Gebete, verzweifelte und fröhliche, das Schweigen und das Reden ganzer Generationen, vollmächtige und belanglose Predigten, große Musik und kleine Hörmoden sind nicht einfach so vergangen. Sie strahlen ab. Von Vitruv ist ein schöner Dialog zwischen einem Baumeister und seinem Schüler überliefert: „Ich möchte, dass mein Tempel die Menschen bewege - sagt der Baumeister. „Und willst Du es mir gleichtun, dann studiere die Räume deiner schönen Stadt. Erkenne ihren Wert für die Menschen und suche das Geheimnis ihrer Wirksamkeit zu erkunden. Viele Häuser bleiben stumm; einige werden Dich ansprechen und wenige werden singen…“.

Stadtkirchen sind Gebäude, die singen - auch wenn die protestantische Theologie des sakralen Raumes erst lange nach Vitruv entstanden ist. Auf den ersten Blick ist das Bild natürlich schief. Ein Gebäude kann ja schließlich keine Töne von sich geben. Obwohl ein ordentliches Kirchgeläut die Umgebung schon mächtig in Schwingung versetzen kann. Doch wer je die Schwelle über ein altes Kirchenportal ins geheimnisvolle Innere getan hat, der findet das Bild ganz einleuchtend. Es ist, als beträte man einen weiten Resonanzraum. Singende Gebäude, das meint zu allererst: dieses Gebäude ist nicht verstummt im Laufe der Jahrhunderte, auch wenn es alt und bisweilen ziemlich gebrechlich ist. Es klingt. Es hat eine eigene Atmosphäre, die nicht muffig, sondern höchstens fremd riecht. Ein Gebäude, das singt, lebt ganz in der Gegenwart, so wie alte Musik auch heute noch Menschen bewegt. Orgeln und Chöre, der Gemeindegesang und die Stimme der Liturgen bringen den sakralen Raum allererst zum Schwingen und verbinden so die Klänge der Vergangenheit mit dem Sound der Gegenwart. Wie ein Schallraum versammelt ein evangelischer Sakralbau die Stimmen derer, die den Ort mit religiösen oder ganz weltlichen Erfahrungen erfüllt haben und verbindet sie in einem Generationenvertrag mit denen, die heute dort singen, beten, schweigen und reden. Sie, die Kirche, zeigt sich aber auch resonanzoffen für die Umgebung, in der sie steht. Kirche in der Stadt - das ist kein isoliertes Areal sondern ein Bezugsort, in dem sich die architektonischen und geistigen Nachbarschaften brechen. Ein Gebäude, das singt, ist kein Museum und keine Ausstellungshalle für vergangene Glaubenskraft, auch wenn die Spuren der Vergangenheit immer wieder beeindrucken - die Einbildungskraft und der künstlerische Sinn derer, die vor uns ihren Glauben gestaltet haben. Sakralbauten sind Orte, die fremd bleiben in der Welt der Tiefgaragen, Banken und Warenhäuser, weil sie von einem Versprechen zeugen, das den Blick weitet. Kirchen sind Steinzeichen des Unsichtbaren im Sichtbaren und überschreiten deshalb immer die Bedeutung, die Sie für die Topographie einer Stadt haben. In den immergleichen deutschen Innenstädten mit den auswechselbaren Ladenpassagen und Cityanlagen sind sie oft wie eine schiefe Nase im Gesicht der Stadt, durch die diese allererst einen Charakter erhält. Für die symbolischen Ablagerungen, die den alten Gemäuern Bedeutsamkeit verleihen, die weit über das materiell Fassbare hinausgehen, hat der französische Philosoph Michel Foucault eine hilfreiche Kategorie gefunden. In einem sehr dichten Radioessay unterscheidet er zwischen der Topographie, die unser Leben allerorten bestimmt, in dem sie durch Routen, Plätze, Straßen und Orte ein Ordnungs- und Orientierungsmuster zur Verfügung stellt, ohne das wir nicht leben könnten, und den Heterotopien. Heterotopien sind Orte, die, anders als Utopien, einen wirklichen, messbaren, physikalischen Platz in der Welt einnehmen, und doch viel mehr als das sind, was sie auf den ersten Blick verkörpern. Heterotopien sind Orte, sagt Foucault, die „einen genau bestimmbaren, realen, auf der Karte sich befindenden Ort besitzen und auch eine genau bestimmbare Zeit, die sich nach dem alltäglichen Kalender festlegen und messen lässt. Wahrscheinlich schneidet jede menschliche Zivilsation aus dem Raum, den sie besetzt hält und in dem sie wirklich lebt und arbeitet, utopische Orte aus und aus der Zeit, in der sie ihre Aktivitäten entwickelt, chronische Augenblicke. Wir leben nicht in einem leeren, neutralen Raum. (…) Es gibt Durchgangszonen wie Straßen, Eisenbahnzüge oder Untergrundbahnen. Es gibt offene Ruheplätze wie Cafés, Kinos, Strände oder Hotels. Und es gibt geschlossene Bereiche der Ruhe und des Zuhauses. Unter all diesen verschiedenen Orten gibt es nun solche, die vollkommen anders sind als die übrigen. Orte, die sich allen anderen widersetzen und sie in gewisser Weise sogar auslöschen, ersetzen, neutralisieren oder reinigen wollen. Es sind gleichsam Gegenräume.“ Und nun kommt Michel Foucault zu einer, wie ich finde, hinreißenden Erklärung, die noch einmal genauer fasst, was er meint, wenn er von Gegenorten redet. „Die Kinder kennen solche Utopien. Das ist natürlich der Garten. Das ist der Dachboden oder eher noch das Indianerzelt auf dem Dachboden. Und das ist - am Donnerstag - das Ehebett der Eltern. Auf diesem Bett entdeckt man das Meer, weil man zwischen den Decken schwimmen kann. Aber das Bett ist auch der Himmel, weil man auf den Federn springen kann. Es ist der Wald, weil man sich darin versteckt. Es ist die Nacht, weil man unter den Laken zum Geist wird. Und es ist schließlich die Lust, denn wenn die Eltern zurückkommen, wird man bestraft werden.“ Wer die Philosophie Michel Foucaults kennt, wird in diesem Zitat mit all den regressiven Träumen die ganze Philosophie in nuce finden. Nur lasse man sich nicht täuschen. Foucault sieht das Heterotopische nicht in der Regression. Die Kinderseele ist ihm nicht die Rettung vor der erwachsen gewordenen Moderne. Es geht ihm hier um die Mehrfachbesetzung eines Ortes. Dafür ist das Elternbett ein gutes Beispiel.

Foucault präzisiert weiter: Gegenräume sind durch den Umgang mit zeitlichen Brüchen gekennzeichnet. An ihnen hängt ein anderes Zeitverständnis. In der Tat, ohne das Kirchenjahr in all seinen bedeutungsvollen Ausfaltungen wären die Kirchen nicht, was sie bis heute sind, auch wenn die meisten Städter sich halbwegs souverän nur noch auf ihr Weihnachtschristentum beziehen können. Kirchen in der Stadt halten diesen anderen Zeitensinn offen. Heterotopien verbinden sich nach Foucault mit einem Festzyklus. Sie fordern das überschreiten einer Schwelle und eröffnen einen Raum, in der noch der Vertrauteste fremd bleibt, weil das Fremde nicht als etwas zu überwindendes gilt. Es hat vielmehr buchstäblich Methode. In der Tat: Kirchen eröffnen einen Weg zum Heiligen, das auch als menschenzugewandte Botschaft fremd bleibt - gegenüber seinem Verbrauch unter Nützlichkeitserwägungen, ja gegenüber seiner Fasslichkeit als solcher. Und je näher es uns kommt, desto fremder wird es. Gegenräume, so Foucault, stellen andere Räume in Frage. Sie befragen nicht nur deren Funktion, sondern ihren Sinn für den Menschen. Als Gegenräume sind sie deshalb nicht einfach nur Räume des Kontrastes und der abgeschlossenen Reinheit vor der Welt - das wäre ja auch ganz und gar unevangelisch. Gegenräume können sie nur sein, wenn sie mit ihrem Umfeld kommunizieren. Das Gegen braucht ein Gegenüber. Es lohnt sich meines Erachtens, neuere Ekklesiologien und kirchenreformerische Überlegungen zu einer Kirche der Orte jenseits der Parochie einmal vor der Folie des Foucaultschen Modells zu untersuchen. Dann wäre die Leitfrage weniger an Strukturmodellen denn an inhaltlichen Orientierungen entlang zu stellen: wie kann eine Stadtkirche, ob mit oder ohne Ortsgemeinde, heterotopischen Charakter behalten? In den notae ecclesiae, also in den Zeichen, die einen evangelischen Ort im Vollsinn zur Kirche machen, liegt meines Erachtens, recht verstanden, das Heterotopische schon verborgen. Ich kann mir keine Stadtkirche vorstellen, weder als City- noch als Kultur- noch als Wegkirche, in der keine Gottesdienste gefeiert werden. Doch braucht es andere Heterotopieverstärker, damit wir selbst den heterotopischen Charakter neu verstehen. Kunst ist ein Heterotopieverstärker. Bildende Kunst, wenn sie gut ist, bringt den heterotopischen Charakter der Kirche in der Stadt zum Leuchten und zum Klingen. Damit riskieren natürlich die, denen ihr Kirchraum lieb und teuer ist, bisweilen eine Brüskierung. Ist die Brüskierung mit einer künstlerischen Botschaft verbunden, die mehr ist als der Tabubruch um des Tabubruchs und des medialen Effektes willen, dann gehört der Prozess des „Wiederfremdwerdens“ des Vertrauten geradezu zu den notae ecclesiae, weil die Verkündigung der christlichen Heilsbotschaft ohne Irritation und geistliche Herausforderung nicht auskommt. Wer die Predigt auf die Beglückung des frommen Gefühls reduziert, hat das Heterotopische des Evangeliums schon verraten. Das muss übrigens nicht heißen, das der Gegenraum immer anstrengend ist. Für Foucault sind auch das Gelächter und der Humor, die wiedergewonnene Leichtigkeit in allem Schweren ein Moment des Heterotopischen, genau wie das Fest eine Auszeit von den üblichen Zeitzwängen ist. Und seien wir ehrlich, tief berühren uns nur die Dinge, die uns überraschen und mit denen wir nicht gerechnet haben. Hier in der Karlskirche ist im Augenblick ein Kunstwerk ausgestellt, das wie kein anderes zum Heterotopieverstärker für dieses Gotteshaus wird. In den sinnlichen Paradoxien der Installation von Ives Netzhammer bricht sich auch der die Installation umgebende Raum. Er wird in den Spiegeln nicht nur zerstört, sondern auch aufs Schönste neu zusammengesetzt. Spielerisch und mit der Freiheit der künstlerischen Form, die keinen Sinn machen muss, stellt sich das Heterotopische neu ein, auf vielen Ebenen: in den Bildgeschichten, die ohne Logik sind, aber auch ohne tragischen Ausgang. In der Bewegung, die ziellos bleiben darf. In den Arabesken und Figuren, die nur so tun, als erzeugten sie ein Bild. Sogar die Himmelskörper kommen nicht von oben herab. Die Installation funktioniert wie eine künstlerische Heterotopie, die auch die religiös-sakrale Heterotopie des Kirchraums neu zu entdecken hilft, ja, ihn auf geheimnisvolle Weise auch ganz neu weckt. Deshalb ist das Kunstwerk von Netzmacher die vielleicht sinnfälligste Beglaubigung von Foucault. Sogar Kinder haben ihren Spaß daran. Wer weiß, was sie noch für Momente entdecken, die uns verborgen bleiben.

In Abwandlung des Anschlusszitats, mit dem Foucault seine Rede beschließt, gilt deshalb:

„Gesellschaften, deren Kirchen keine Heterotopien mehr sind, sind wie Kinder, deren Eltern kein Ehebett haben, in dem sie spielen können. Dann versiegen ihre Träume. An die Stelle des Abenteuers tritt dort die Bespitzelung und an die Stelle glanzvoller Freibeuter die Polizei“. In der Sprache Martin Luthers gesagt: wenn die Kirchen keine Orte der fides creatrix, keine Räume für die Entfaltung der Kreativität des Glaubens in der Gegenwart mehr sind, dann treten an die Stelle der Glaubensabenteurer, die sich fröhlich und getragen dem ungesicherten Leben zuwenden, die Wächter von Kirchenanstand und Rechtgläubigkeit ohne persönlichen Lebensgewinn und Orientierung.