Über die Schwelle – die Wiederkehr der Rituale - Vortrag zur Eröffnung von zeitfenster – IV. Biennale Alter Musik im Konzerthaus Berlin

Petra Bahr

Rituale hatten lange einen schlechten Ruf. Mit ihnen verband sich alles, was eine Zeit lang ziemlich unmodern war: Ordnung und festgelegtes Verhalten, Wiederholung, Äußerlichkeit und Tradition. In der Moderne sollte es doch frei zugehen, spontan und individuell. Da schienen Rituale und hergebrachte Gebräuche nicht recht zu passen. Mit dem Muff unter den Talaren verschwanden so die exponiertesten Rituale: Akademische Abschiedsfeiern in großem Ornat, der Osterschmaus mit Fastenbrechen bei Oma, die Kleiderordnungen für den besonderen Anlass, die großen Feste des Kirchenjahres. Stattdessen kam das Selbermachen groß in Mode – eine Art großgesellschaftliches Bastelfieber, bei dem alles immer wieder neu und nach eigenem Gusto zusammengeklebt werden sollte.

Manche Rituale konnte natürlich niemand so recht abschaffen. Aber etwas verschämt kamen sie nun doch daher, als wollten sie sich ganz klein machen vor der Innovationslust der 70er und 80er Jahre: die Staatszeremonien der Bonner Bundesrepublik etwa, immer darauf bedacht, sich ja nicht zivilreligiös aufzuladen. Auch die Kirchenfeste machten sich frei vom scheinbaren Ballast alter Traditionen. Der Sinn für alte liturgische Zeichen und Symbole verblasste ebenso wie die Einsicht in die Heilsamkeit von Zeitordnungen, die man sich nicht selber ausgedacht hat. Alles Rituelle wurde diffamiert. Bis auf die Rituale im Fußball.

Die Mahner vor zu viel Ritualität hatten ein echtes Totschlagargument in der Hand, unter dem sich alles wegduckte. Hatte nicht der Nationalsozialismus mit seinen politischen Ritualen, seinen Fackelläufen und Masseninszenierungen gezeigt, dass das politische Großritual nicht in eine demokratische Gesellschaft passt? Ein Blick über die Mauer schien denen recht zu geben, die sich gegen alles Rituelle im öffentlichen Raum verwahrten: Fahnenappelle vor Schulanfang, Militärparaden und andere förmliche Inszenierungen hatten doch vor allem eines im Sinn, Macht zu demonstrieren und Menschen gleichzuschalten. Die Einheitlichkeit der Gesten und Zeichen sollte zur Einheit im Denken führen. Die gemeinsame Inszenierung sollte den Einzelnen im Kollektiv verschwinden lassen. Gruppenzwang und Äußerlichkeit – so lauteten die Verdikte gegen das Ritual.
 
Wenn erst einmal so ein Verdacht ausgesprochen ist, ist es schwer, das Ritual zu rehabilitieren. Doch längst macht sich ein neues Interesse an Ritualen breit. Es ist fast so, als seien wir der ständigen Neuerfindung, dieser auf Dauer gestellten Kreativität, müde geworden. In einer Welt, die unübersichtlicher nicht sein könnte, die ständig Anforderungen an unsere Spontaneität stellt, an Reaktionsschnelle, Eigensinn und Improvisation im Rahmen bestehender Verhältnisse, ist die Sehnsucht nach Ordnungen größer geworden, die unser Leben entlasten, an einen Rahmen, in den sich einzufügen heilsam und beruhigend ist. In einer x-beliebigen Buchhandlung stehen die Zeichen der Neubesinnung Deckel an Deckel: »Kinder brauchen Rituale«, »Unser Hochzeitsfest«, »Rituale heilen«, die „Wiederentdeckung des Festkalenders“.

Auch der öffentliche Raum geht wieder ungehemmter mit Ritualen um. Die Berliner Republik ist feierlicher geworden. Rote Teppiche, Empfänge und politische Großereignisse passen wieder ins Bild. Und manch ein Parteitag mutet in seiner perfekt durchgestylten Inszenierung wie eine Art säkularer Gottesdienst an, mit eigener Liturgie.

Ohne Rituale geht es nicht. Das wissen die Ethnologen schon lange. Sie sind im 19. Jahrhundert in die Welt ausgeschwärmt und haben an den exotischsten Orten gefragt, was eine Gemeinschaft zusammenhält. Da war die noch junge Moderne gerade in die erste Krise geraten. Die Gesellschaft schien auseinanderzubrechen. Bei Urwaldstämmen und in Wüstendörfern haben die Fernreisenden dann entdeckt, dass Rituale den Alltag strukturieren und den Festen Kontur geben. Dass sich in ihnen Traditionen immer neu Geltung verschaffen und dem Einzelnen helfen, sich in einem großen Zusammenhang wiederzufinden. Das erzeugt Bindungskräfte und hilft, Unsicherheiten und Krisen zu überwinden – oder zumindest zu begleiten, damit kein Chaos ausbricht. In Ritualen lassen sich Übergänge und Brüche des Lebens so gestalten, dass nicht alles aus den Fugen gerät. Sie sind eine Art Geländer in unwegsamem Gelände, das stabilen Halt und Orientierung verleiht. Was auf den ersten Blick nur wie eine äußerliche Disziplinierungsaktion aussieht, hat so auch für den Einzelnen eine ganz individuelle Bedeutung. So mögen Beerdigungsrituale vielleicht von außen immer gleichförmig aussehen, für den, der trauert, gewinnt es eine eminent persönliche Bedeutung, die mit den Beerdigungen, die er selbst als Zaungast beobachtet hat, nur wenig zu tun hat. Es ist vor allem diese Entlastungsfunktion, die die bleibende Attraktivität von Ritualen erklärt. Und ohne diese Entlastung können wir nicht leben. Deshalb wundert es auch nicht, dass die Ethnologen irgendwann von ihren Expeditionen in der Fremde zurückkamen, um mit den ausgefeilten Methoden der Ritualforschung im Gepäck fortan auch die eigene Gesellschaft zu untersuchen.

Schon im Säuglingsalter beginnt die Ritualisierung des Lebens. Ohne sie würde sich Vertrauen und Geborgenheit nicht aufbauen. Schon früh versuchen Eltern, die zeitlichen Rhythmen des Kindes auf die eigenen Zeitrhythmen zu beziehen. Die Unterscheidung von Tag und Nacht ist eine Lernerfahrung, die durch rituelles Handeln begleitet wird. Kinder ohne Gute-Nacht-Rituale, das ist mittlerweile erforscht, haben es schwer, einen Tag-Nacht-Rhythmus zu finden, sie schlafen schlechter ein und haben Angst vor der Dunkelheit. Der ritualisierte Umgang mit der Zeit hilft hingegen Eltern wie Kindern, ihren Alltag in der neuen Situation zu strukturieren. Mit einem Lied oder Gedicht, einem Gebet und der immergleichen Formulierung »Gute Nacht, mein Schatz« entsteht ein kleiner Schwellenraum, eine winzige Inszenierung, an die sich nach und nach Gefühle der Geborgenheit binden. Schnell wird an diesem Beispiel deutlich, dass Wiederholung, Routine und die ewig gleichen Zeichen nicht im Widerspruch stehen zu intensiv erlebter Innerlichkeit. Im Gegenteil. Rituale sind die Stützräder der Innerlichkeit. Sie sind eine Übung in der Selbstbegegnung, die spontan gar nicht leicht zu finden ist.

Vertiefen sich die Rituale mit religiösem Sinn, ermöglichen sie über die Selbstbegegnung hinaus eine Begegnung mit einer Dimension, die größer ist als alle Vernunft. Rituale schaffen Anlässe der Einkehr, sie geben Zeitrhythmen vor, sie helfen mit Zeichen aus, auf die man sich auch dann verlassen kann, wenn die eigenen Worte fehlen. Rituelle Inszenierungen sind keine formalen Äußerlichkeiten ohne innere Beteiligung, sondern im Gegenteil hochemotionale Angelegenheiten, in denen sich Gefühle indes nicht selbst ausgeliefert sehen. Bei einer Beerdigung kann auch geweint und geschrien werden. Aber in den Gesten und Worten, Liedern und Zeichen verwandelt sich das überwältigende Gefühl der Verzweiflung oft in Trauer, die den Abschied möglich macht. Das inszenierte Handeln hilft den Emotionen, überhaupt zu einem Gefühl zu werden, das man aushalten kann. Der Verdacht gegen das Äußerliche, bloß Konventionelle kommt also oft zu früh, noch öfter ungerechtfertigt.

Unsere Kultur steht, allen Säkularisierungsphasen zum Trotze und durch sie hindurch in einem rituellen Zusammenhang, der durch das Christentum geprägt ist. Selbst, wenn der Sinn vieler Elemente des Kirchenjahres vergessen ist, ist das Kirchenjahr, also der christliche Festkalender, immer noch so etwas wie die rituelle Tiefenimprägnierung unserer Kultur. Man stelle sich unsere europäische Kultur ohne Weihnachten vor, ohne Passionszeit, ohne Ostern, ohne Pfingsten – vor allem: ohne Sonntag. Man muss kein engagierter Christenmensch sein, um sich klar zu machen, wie anders unsere Welt aussähe ohne diese Gestaltung religiöser Übergänge, die sich an der Geschichte Jesu Christi und seiner Kirche entlang bilden.

Der Grad der religionskulturellen Amnesie ist oft beklagt worden. Schnell kommt einem die Liste der Dummheiten in den Sinn, die sich im Umkreis des christlichen Festkalenders beobachten lassen und die doch nur darauf hindeuten, wie groß das Bildungsdefizit in Sachen Religion mittlerweile ist. Ostereiersuchen am Gründonnerstag, Schokoladenweihnachtsmänner Ende September, Halloween statt Buß- und Bettag, und – horribile dictu - die Aufführung von Bachs Weihnachtskantaten am 3. Advent. Wenn in Berlin der Sonntag als gemeinsamer kultureller Rhythmus einer ansonsten hochgradig disparaten Gesellschaft immer stärker in Frage steht, steht auch kulturell enorm viel auf dem Spiel. Deshalb ist die Erinnerung an die christlichen Rituale und Bräuche im Horizont der Musik bei der diesjährigen Biennale ein wichtiger Beitrag zur Erinnerung an eine Kultur, die nicht nur unsere Vergangenheit prägte. Sie ist auch der Boden, von dem aus wir unsere Zukunft gestalten, so wie in der Alten Musik die Keimzelle musikalischer Innovationen steckt.

Das Kirchenjahr und sein Festkalender sind ohne Musik gar nicht auszudenken. Die enge Verschmelzung von Klang, Bewegung und Wort ist seit der Antike der Schlüssel zur inneren Beteiligung. Musik ist deshalb das vorzügliche Medium, das immer gleiche Thema des Kirchenjahres so zu vergegenwärtigen, dass es heute existenzielle Bedeutung haben kann. Weil Musik Intellekt und Herz gleichzeitig in Bewegung setzt. Die Fäden, mit denen vor allem die alte Musik mit dem Kirchenjahr und seinen Festen und Ritualen verwebt ist, werden im Konzertsaal allerdings oft gekappt. Sie baumeln lose am isolierten Kunstereignis in bürgerlichem Ambiente. Der Konzertsaal ist seit dem 19. Jahrhundert der säkularisierte Gottesdienstraum. Kunstreligiöser Schauer mag sich auch hier einstellen, aber der liturgische Zusammenhang geht verloren. Uns entgeht damit eine Dimension, die in der Musik zum Klingen kommt: Musik als Mitgestalterin und Interpretin einer existenziellen Schwellensituation, Musik als Ordnungsprinzip im Ritual selbst, Musik als Affektverstärkerin, Musik als Weg zu Selbst- und Gottesbegegnung, Musik als veritable Auslegerin religiöser Texte in die jeweilige Gegenwart ihrer Zuhörer. Wenn das Kantatenwerk Bachs in Leipzig den Gottesdienst strukturierte, so mag die liturgische Bedeutung der Musik im Laufe der Aufführungspraxis im bürgerlichen Konzertambiente verloren gegangen sein. Aber sie ist immer noch da, als latente Kraft, die sich jederzeit wieder abrufen lässt.

Der Philosoph Hans Blumenberg hat in seinem wundervollen Essay „Matthäuspassion“ beschrieben, wie diese rituelle Dimension des Bachschen Passionswerks den Kunstgenuss für eine Dimension öffnet, die über die Kunst hinaus drängt. Er, der Agnostiker und Zweifler von Beruf, der gottungläubige Jude, findet sich für die Zeit einer Passion als Gläubiger wieder, der sich in die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu immer wieder neu verwickeln lässt – als wäre er dabei gewesen, entsteht im Hören eine innere Beteiligung, eine Art Gottesdienst ohne dogmatische Kontrolle und Prüfung der Rechtgläubigkeit. Der strenge Wechsel zwischen Ariendichtung und Evangeliumslesung erlaubt dem Hörer eine Freiheit der Aneignung, mit der er selbst nicht gerechnet hätte. Und das jedes Mal wieder neu. Dabei leugnet Hans Blumenberg nicht die Gräben, die sich zwischen uns und den Passionen auftun. Noch größer als der Graben zur Glaubenswelt der Komponisten mag der Graben zur Historie von Jesu Sterben und Auferstehen selber sein. Beim Blick ins Programmheft mag sich schnell der Gedanke festsetzen, was für eine fremde Textwelt uns die Musik doch heute zumute. Doch spätestens mit der ersten Arie ist es oft genug um uns geschehen. Wir lassen uns in das Passionsgeschehen Jesu verwickeln, als seien wir dabei gewesen. Mit klopfendem Herzen und weitem Gewissen.

Die Komponisten der alten Musik sind Verführer, die mit den Mitteln der musikalischen Affekte auch noch den ungläubigsten Thomas oder Hans so nah an die Passion Christi heranführen, wie es nur möglich ist. Für die Zeitspanne einer Passionsaufführung bin ich ein staunend Glaubender, stellt der Philosoph verwundert fest. Das Ritual eröffnet so einen intimen Raum, in dem eine religiöse Erfahrung möglich wird, auch wenn man es auf eine ästhetische Erfahrung angelegt hat.

Der säkularisierte Zeitgenosse, der durch alle Feuer der Christentumskritik geläutert ist, durch die klugen und die dämlichen Einwände, durch die historische Kritik und den dumpfen antireligiösen Zeitgeist, er, der Aufgeklärte, reibt sich irritiert die Augen und sieht sich für die Dauer der Passion selbst als Passionierter. Und wir mit ihm. Längst ist uns das distanzierte Zuschauen vergangen. Bach etwa schafft es, so die Erfahrung Blumenbergs, uns tief in die Geschichte zu verwickeln, die zu der Grunderzählung des Abendlandes zählt und in der wir plötzlich leise „ich“ sagen müssen, eh wir uns versehen. Auch wenn das Befremden bleibt. Wir werden unwiederbringlich in die Affäre des Gottessohns gezogen, der den Tod hinnimmt, der uns gelten sollte. Die Hässlichkeit des Geschehens verwandelt sich in der Passionsmusik nicht deshalb in das Erhabene, weil er den Schrecken ästhetisiert. Bach ästhetisiert vielmehr die heilsame Botschaft des christlichen Glaubens. Nein, wir müssen nicht geopfert werden. Das Opfern und Töten kann ein Ende haben. Die Sprache zwischen Gott und Mensch ist nicht die der Gewalt, sondern die der Macht der Liebe. Deshalb können die aufwühlenden Passagen des Schreckens abwechseln mit arischen und chorischen Passagen von ungeheuerlicher Intimität. Und die alten Komponisten sind Verführer auch hier. Sie überreden mit den rhetorischen Zeichen der Musik, wo theoretische Überzeugung chancenlos wäre. So erzeugt sie für die möglichen Hörerinnen und Hörer einen Schwellenraum zwischen Religion und Kunst, zwischen religiöser und ästhetischer Erfahrung. Im Raum dieser theologischen und künstlerischen Ungenauigkeit, die uns Spielräume anbietet, die keine Gewissensprüfung ausloten kann, können wir dem christlichen Bekenntnis in großer Freiheit begegnen. Wir selbst bestimmen Nähe und Distanz. Wir selbst entscheiden, wie viel wir glauben, wie viel wir genießen und wie viel wir beides zugleich haben können: Glaubensgenuss. Ein heilsamer Übergang. Und das kollektive Ritual wird zu einem sehr intimen Wunder. Diese schöne Ungenauigkeit der Passion am Ort des Kirchenjahres erlaubt es uns, in der Musik auch eine Erfahrung mit uns selbst zu machen, die neu und waghalsig sein kann.

Sicherlich haben Sie sich selbst schon bei einer rituellen Handlung erwischt. Denn auch ein Konzertbesuch kommt ohne rituelle Dimension nicht aus. Das beginnt vor dem Kleiderschrank, geht weiter im Foyer und endet mit dem Applaus am Ende der Vorführung. Stellen Sie sich vor, sie verzichteten auf dieses Ordnungsprinzip. Sie kämen im Schlafanzug, äßen im Foyer noch schnell einen Nudelsalat und klatschten, wann immer Ihnen zumute wäre. Das, was vorderhand Freiheit von der Form gewährt, führt in Wahrheit in ein unsicheres Experiment mit ungeahnten Folgen. Rituale ermöglichen es dagegen, der Freiheit eine soziale Form zu geben. Sie öffnen in ihrer strengen Gestalt einen Horizont, den man sich selbst niemals allein eröffnen kann. Und dahinter: eine grüne Wiese.