Krimis als Erlösung.

Petra Bahr

Vortrag zur Eröffnung einer neuen Reihe von Bibelkursen unter dem Motto: „Erlesen! Aus den Quellen schöpfen“ der von Cansteinschen Bibelanstalt und der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Erwachsenenbildung im Filmmuseum Potsdam

Kennen Sie diese Krimireihe? Auf Seite 6 kommt es zum ersten Mord. Ein Bruder bringt den anderen um. Aus Missgunst und aus Selbstmitleid. Dann geht es um einen Streit auf Messer und Blut. Um fruchtbares Land, um Wasserquellen. Ein Umweltthriller in einer Region, in der Wasser wie Gold wiegt. So geht es dann weiter. Mit Ehebruch. Mit Betrug. Mit schändlicher Vergewaltigung und mit Ehrenmord und mit feigem Rufmord. Ein Sohn stielt dem anderen das Recht des Erstgeborenen und kommt scheinbar ungeschoren davon. Und seine Mutter hilft ihm noch dabei. Ein Bruder wird entführt und verkauft, weil die Geschwister seine Bevorzugung durch den Vater genauso wenig ertragen wie seine Eitelkeit. Später dann, etwa in der Mitte des dicken Wälzers, bringt ein Regierungschef den Ehemann der Frau um, die er gerne als Geliebte hätte. So geht es weiter. Das Buch entführt seine Leser und Leserinnen in ein Panoptikum der Abgründe menschlicher Seelen. Was Menschen Menschen antun können – aus verletztem Gefühl oder aus Neid, aus dem Eindruck, zu kurz zu kommen, aus Raffgier, aus Gemeinheit oder aus der reinen Lust am Blutrausch, hier ist es ausgestellt und in Geschichten verwoben, die an Spannung nicht zu überbieten sind. Den Höhepunkt findet die Krimireihe in einem Politthriller mit grausigen Verwicklungen und einem prominenten Folteropfer. Und die Verbrechen hören nicht auf. Da wird gestohlen, verraten, gelogen. Kennen Sie diese Krimireihe? Na, ich hoffe doch. Schließlich rede ich - Sie haben es längst gemerkt - von der Bibel. Vielleicht habe ich zu viele Krimis gelesen, aber es geht mir oft so, wenn ich abends zu meinen liebsten Einschlafhilfen greife: während ich vor Spannung gar nicht aufhören kann, zu lesen, kommen mir die Grundkonstellationen der Krimis, die ich meterweise verschlinge, oft bekannt vor. Es sind die Szenen, die auch das Grundgerüst für viele biblische Geschichten bilden. Vielleicht ist es deshalb auch kein Wunder, dass neben all den Kriminalisten, den Profilern, Anwältinnen, Polizisten und Privatdetektivinnen Geistliche zu berühmten Ermittlern wurden. Schließlich gelten sie auch in unserer Gesellschaft noch als Experten für die Abgründe des menschlichen Lebens. Pater Brown ist nur der Berühmteste unter ihnen. Es ermitteln auch Großstadtrabbiner und amerikanische Landpfarrerinnen, ehemalige Bischöfe und alternde Theologieprofessorinnen. Oder der Polizist hat eine religiös verständige Frau an seiner Seite, wie Peter Decker seine Rina in Fay Kellermans harten Großstadtkrimis. Sie ist orthodoxe Jüdin und hat immer eine ganz eigene Perspektive auf die Fälle ihres Mannes.

Aber auch Krimis, die auf den ersten Blick ganz ohne Anspielung auf religiöse Deutungen auskommen, leben von den Grundskripten des Abendlandes, die immer wieder neu variiert werden. Und das sind neben den antiken Stoffen der griechischen Tragödie die biblischen Überlieferungen. Ja, ich wage sogar, zu behaupten, dass die Bibel sich als Hintergrundtext für Krimis viel besser eignet als die Tragödienliteratur, weil sich in der Bibel nicht nur ein blindes Schicksal erfüllt, sondern Auswege gesucht werden. Ernstzunehmende Medienwissenschaftler gehen so weit, dass der Fernsehkrimi, allen voran der „Sonntag“, in unserer Gesellschaft religionsähnliche Züge habe. Schon die Ausstrahlungszeit – jeden Sonntag um Viertelnachacht – hat die Dimension eines Rituals. Es soll Leute geben, die darf man in dieser „Heiligen Zeit“ nicht anrufen und auch sonst nicht stören. Vor allem aber sind es die Geschichten selbst, die für manchen eine Dimension haben, die dem Religiösen sehr ähnlich sieht. Dabei mag man sich schon mal fragen, was denn quer durch die Gesellschaft so attraktiv daran ist, Woche für Woche anderen – zumindest fiktiv – dabei zuzuschauen, wie sie sich auf die Spur der Abgründe geben, die hinter den Fassaden der Villen und Hochhäuser, der Kirchen und der Rechtsanwaltskanzleien, der Sozialämter und der höchsten Gerichte lauern. Sind wir so brutalisiert, dass wir unsere Lust an Mord und Todschlag auf diese Weise ausleben? Da mag etwas dran sein. Hier können wir unsere eigenen bösen Gefühle anschauen, im Bild einer Fiktion, unter fremdem Namen, in einer fremden Geschichte. Hier können wir all das zulassen, was wir uns selbst nie eingestehen würden. Die Lust am Verrat, den beißenden Neid, den heimlichen Wunsch, einem anderen möge es schlecht ergehen. Hier können wir den Mordgelüsten nachgeben, ohne ihnen im wirklichen Leben nachgeben zu müssen. Medienwissenschaftler haben nachgewiesen, dass die Sympathie der Zuschauer nicht nur den Helden gehört, den Guten, die auf der richtigen Seite stehen. Ein Krimi scheint dann gelungen zu sein, wenn die Täter so dargestellt werden, dass auch sie ein Fünkchen Sympathie gewinnen, weil ihre Tat plausibel wird. Der Schurke ist nur dann wirklich interessant, wenn die Geschichte, die zur gemeinen Tat führt, glaubwürdig ist. Und diese Geschichte ist oft genug eine Geschichte aus Vernachlässigung und Verletzung, aus Zurücksetzung oder Verzweiflung. Gut ist ein Krimi dann, wenn er das Verbrechen trotzdem nicht entschuldigt. Krimis sind deshalb eigentlich populäre Lehrstücke über das Wesen des Menschen.

Ich glaube aber, der Krimi als Genre ist deshalb so beliebt, weil er nicht nur schonungslos die Schattenseiten des menschlichen Zusammenlebens beleuchtet – und das, wie im Falle des Tatorts, sogar noch mit tagesaktueller und oft politischer Brisanz – sondern weil er auch einen Ausweg verspricht. Das Böse siegt in der Regel nicht. Und der Mörder wird gefasst. Die Familiengeheimnisse werden gelüftet und die Verlierer finden Gehör. Das ist das Versprechen, das in jedem Krimi steckt. Der Krimi verheißt durch alle Spannung und Anspannung hindurch die ultimative Entlastung. Der Fall ist gelöst. Bis zum nächsten Sonntag. Oder bis zum nächsten Buch. Deshalb sieht man die Ermittler nach getaner Arbeit so oft mit Freunden und Kollegen beim Essen. Die Gesellschaft mag auseinanderfallen, die Risse des Sozialen mögen tief sein, aber es gibt sie noch, die Geselligkeit, in der Menschen es sich und einander gut gehen lassen. Achten Sie mal darauf, wann in Krimis gemeinsam gegessen wird. Tischgemeinschaften stehen für das gelingende Leben, in dem Liebe und Sympathie herrschen statt Missgunst und Hass. Ein heiteres Gegenbild, eine Art Utopie am Ausgang des Todes.

Auch das ist übrigens ein biblisches Motiv. Gute Krimis machen es sich dabei nicht einfach. In ihnen agieren Protagonisten, die deshalb glaubwürdig sind, weil sie nicht Schwarz-Weiß gezeichnet sind. Wer kennt sie nicht, die zynischen Ermittler, die nicht mehr an das Gute glauben und schon gar nicht an die Gerechtigkeit des Systems? Die Polizistinnen, die immer wieder selbst gegen Eitelkeit, starke Gefühle und eigenen Ehrgeiz ankämpfen müssen, um einen Fall zu lösen? Kommissario Brunetti ist so einer. Immer wieder funkt sein turbulentes Familienleben in seinen Beruf. Er ist sympathisch, aber gegen Vorurteile und unerlaubte Gefühle nicht gefeit. Die Helden der modernen Kriminalgeschichten sind gebrochene Figuren. Sie sind hin- und hergerissen zwischen dem Dunkel, in dem sie täglich herumstochern und dem Licht, das sich mit ihren Rollen verbindet und das sich doch nicht einstellen will. Auch hier könnte man ohne Not auf die Bibel verweisen. Die Bibel ist skeptisch, wenn es darum geht, dass Menschen das Übel der Welt selbst loswerden. Das biblische Menschenbild zeigt realistisch, wie noch die Guten und Gerechten sich in den Fallstricken ihrer heimlichen Wünsche verheddern – und selber schuldig werden. Die Helden selbst werden zu Verrätern, zu Lügnern, ja, zu Mördern. Wie Isaak oder David oder Petrus. Dem Krimi des eigenen Lebens entkommt keiner, auch wenn es in den seltensten Fällen blutrünstig endet. In ihrem großartigen Essay „Suspense“ beschreibt die berühmte Kriminalautorin Patricia Highsmith, eine Expertin in den Abgründen der Seele, wie ein guter Thriller gelingt: Die Leser muss sich ertappt fühlen. Sie sollen mehr ahnen als sich eingestehen, dass die ganze Zeit von ihnen die Rede ist. Wer Krimis liest oder im Fernsehen sieht, der erfährt oft mehr über sich selbst, als ihm lieb ist. Das ist auch mit den biblischen Geschichten so. Wir können uns die Kains und Isaaks, die Davids und den Petrus schon deshalb nicht vom Hals halten, weil sie uns im Nacken sitzen mit ihrer Ähnlichkeit zu uns. Sie sind wie ein Spiegel unserer selbst. Da ist es doch entlastend, dass nun endlich auch der Gott der Bibel ins Spiel kommt, der sich von der Fratze des Menschen nicht abschrecken lässt. Uns verheißt er Entlastung von den Abgründen, die in uns selber lauern. Dafür braucht es keine Profiler und keine Detektei. Wer die Bibel liest, wird im Lesen selbst überführt. Er wird aber auch entlastet und kann so neu beginnen. Das ist die kriminalistische Sprache des Martin Luther, mit der er über Gesetz und Evangelium schreibt. Wir werden entlastet von allen Indizien, die gegen uns sprechen. Alles ist wieder möglich. Das ist Evangelium. Bis zum nächsten Sonntag.