„Sinn und Geschmack des Unendlichen“

Petra Bahr

Vortrag anlässlich des gemeinsamen Kolloquiums der UNESCO-Welterbestätten zum Thema „Genuss“, Schloss Mosigkau bei Dessau-Roßlau am 7. Juni 2008

Genussfeindlichkeit. In diesem Wort bündelt sich das hartnäckigste Vorurteil gegenüber dem Christentum. Vor lauter Eifer der Christen, im Jenseits Punkte zu sammeln, so die vulgäre Variante dieses Vorurteils, verlaufe ihr Leben im Diesseits nach dem Maßstab des Verzichts, der bis zum Weltekel reicht. Ausgemergelte Gestalten mit Betroffenheitsfalten im Gesicht und Kleidern, die der Mode immer zehn Jahre hinterherhinken, kein Sex, oder wenigstens keinen vor oder neben der Ehe und allerlei Formen moralischer Selbstdisziplinierung und als vorläufiger Höhepunkt für Genussfeindlichkeit: Sonntagsgottesdienst mit einem Häppchen Brot und einem Schlückchen Wein, während der Rest es sich beim ausgiebigen Brunch gut gehen lässt. Ab 11 Uhr selbstverständlich, denn vorher wird natürlich ausgeschlafen. Genussfeindlichkeit – dieser Verdacht hat auch eine anspruchsvolle wissenschaftliche Variante, die durch den Sozialtheoretiker Max Weber zu Beginn des 20. Jahrhunderts in die Welt gesetzt wurde. „Innerweltliche Askese“, eine Lebensform des permanenten Aufschubs, der sich in äußerster Sparsamkeit und strenger Arbeitsdisziplin äußert. Für Max Weber verbindet sich mit der Rede von der innerweltlichen Askese immerhin eine Theorie über die Geburt des Kapitalismus aus dem Geist einer bestimmten Fassung des Protestantismus. Doch nachdem dieser Teil schon längst bestritten und vergessen war, blieb das Gerücht von der Genussfeindlichkeit in der Welt. Mit einer vorderhand plausiblen Begründung. Wer sich ans Jenseits hält, entwertet das Diesseits. Er entwertet die Lüste und das Begehren, die Sinne und den Leib, weil er mit dem Kopf schon längst im Himmel ist. Gerne werden in das Vorurteil konfessionelle Scheidewände eingezogen. Hier die immerhin sinnenfreundlichen Katholiken, bei denen es von Gerüchen und Bildern nur so wimmelt. Dickbäuchige Mönche mit schweren Bierkrügen in der Hand sind geradezu ein Emblem deutscher Brauereikunst. Wenn da die ständigen Gebetszeiten nicht wären und die kargen Klosterklausen. Und natürlich das Zölibat, jene Extremform innerweltlicher Askese, die als bewusste Lebensform in einer hochsexualisierten Gesellschaft vollends auf Unverständnis stößt. Eine Religion, die ihren Höhepunkt in der Hingabe eines Menschen am Kreuz hat, lässt sich offenbar nur schwer mit der Kunst des guten, genussvollen Lebens verbinden. Und wie immer liegt in jedem Vorurteil auch ein Fünkchen Urteilskraft. Es gibt sie, die blutleeren Gottesdienste und die moralische Besserwisserei ohne Bodenhaftung, die Predigten, die den bösen Konsumismus des modernen Menschen als Leitklischee perpetuieren und die Pfarrer, die Gesundheitslatschen zum Anzug tragen. Es gibt sie, diese humorlosen, grauen Gestalten, die von einem besseren Leben faseln wie Blinde von der Farbe. Wer könnte nicht mit einer kleinen Erfahrung aufwarten, um die These von der Genussfeindlichkeit des Christentums zu bestätigen. Wer jetzt zu einer großen Verteidigungsrede ansetzt, hat es in der Tat schwer. Es sei denn, es stellte sich noch einmal neu die Frage, was um Himmels willen denn gemeint sei mit dem Genuss.

Die selben Menschen, die eben noch mit Eifer über die repressiven und lustfeindlichen Elemente des Christentums geschimpft haben, finden nämlich gar nichts dabei, ein paar Minuten später mit gleicher Intensität über die neueste Diät zu reden. Die fünfundzwanzigste, wenn ich die Gesprächsfetzen vom Nachbartisch richtig deute. Der Boom der Kochshows, die Slowfood-Bewegung und die Hochsaison für aufwendige Kochbücher können nicht darüber hinwegtäuschen: Mit dem Essen scheint sich längst nicht mehr vor allem der Genuss zu verbinden. Disziplin, genaue Kenntnis der Inhaltsstoffe und Nährwerte schieben sich vor die Lust am sinnlichen Ereignis. Staatlich verordnete Abspeckkuren sollen ein verfettetes Volk gesünder machen. Ist das Genuss? Gammelfleisch und eine globalisierte Lebensmittelindustrie haben das Essen längst zu einem Politikum gemacht. Und das schlechte Gewissen begleitet jeden Einkauf. Kalorienarm? Fair gehandelt? Aus der heimischen Region? Ohne Zuckerzusatz, Alkohol und künstliche Aromastoffe? Fastenregeln verbinden sich heute kaum mehr mit einer religiösen Lebensform, sondern mit den Empfehlungen der Frauen- und Apothekenzeitschriften. Einer Gesellschaft, die den Hunger nur noch an ihren Rändern kennt, scheint der Geschmack gründlich verdorben zu sein. Und hemmungslosen, atemberaubenden Sex scheint es, glaubt man jüngsten Umfragen in deutschen Schlafzimmern, auch nur noch abends im Fernsehen zu geben. Die neueste Form des Outings heißt: Kein Sex, nicht als Bekenntnis zu einer Lebensform, sondern als Markierung eines verbreiteten Unwillens, der bis zum Ekel geht. Körperlichkeit mag zum Dauerthema geworden sein, ein genießerisches Verhältnis zum eigenen Leib war offenbar nicht zwangsläufig die Folge. Hingabe und die Fähigkeit, sich selbst zu verlieren, gehen unter im sexuellen Leistungsstress nach vorgestanzten Bildern. Ein Fünfzigjähriger mit grauen Schläfen berichtet von seinem ersten Berlinmarathon: Die Qual der Vorbereitung und die ständige Versuchung, aufzugeben. Das tägliche Training morgens um sechs, wenn der Rest der Familie in den Federn lag. Und dann dieses unglaubliche Glücksgefühl. Zwischendurch, sagt er, habe er jeden Schritt genossen. Es sei wie ein Rausch gewesen. Der perfekte Moment, gedehnt auf die Zeit einer halben Ewigkeit. Zum ersten Mal im Leben. Die neue Körperreligion kommt offenbar ohne innerweltliche Askese nicht aus. Die Beispiele dienen nicht einer säuerlichen Kulturkritik, nach dem Motto: hättet ihr Euch an die Formen des christlichen Lebens gehalten, wäret ihr jetzt nicht so verkorkst. Sie zeigen indes zweierlei. Erstens wird Genuss in der Regel auf Essen und Sex, also auf unmittelbare körperliche Bedürfnisse bezogen. Schon der Kunstgenuss hat einen schlechten Ruf, soll Kunst doch allenfalls verstören und irritieren. Wer eine Sinfonie oder ein Bild genießt, steht schon unter Kitschverdacht. Diese Engführung verhindert ein vertieftes Nachdenken über das Genießen. Zweitens braucht der Genuss offenbar immer den Verzicht an seiner Seite. Diese Einsicht ist kein Privileg des Christentums. Und sie führt schon gar nicht zur Genussfeindlichkeit. Im Gegenteil. Überfülle und ständiger Zugang zu allen möglichen Freuden erzeugen nicht Dauergenuss sondern Überdruss! Das Erlebnis von Fülle braucht die Erfahrung von Knappheit, ein Höhepunkt braucht Erwartung und Verzögerung. Diese Einsicht ist zutiefst ins Christentum eingeschrieben. Askese als gestalteter Verzicht zugunsten gesteigerter Freuden versperrt also nicht den Weg zum Genuss. Als Haltung einer ganzheitlichen Diätetik erschließt sie vielmehr Formen des Genusses, die in unserem Leben verloren gegangen sind. Die standardisierte Lästerei über die Genussfeindschaft des Christentums markiert deshalb vor allem eines: das verlorene Wissens über das, was christliche Existenz bedeuten kann in einer Zeit, in der allerlei Pathologien der Genussfähigkeit zum Dauerbrenner geworden sind.

Legt man hinter einem in Küche und Schlafzimmer eingesperrten Begriff von Genuss andere Dimensionen frei, so lässt sich aus der Perspektive des Christentums viel für das erkennen, was Genuss als ein Aspekt des guten Lebens sein kann. Ein solches, vertieftes Verhältnis zum Genuss kann außerdem zeigen, wie sehr das Christentum geradezu zu einer Lebenskunst des Genießens einlädt. Der Genuss braucht eine bestimmte Zeitstruktur. Genuss lässt sich nicht auf Dauer stellen. Er braucht besondere Zeiten und Orte, er braucht buchstäblich Höhepunkte. Mit Erwartung und Erfüllung sind die beiden Schlüsselworte benannt, die die christliche Kultur, die auch unsere Gegenwart immer noch als Tiefenimprägnierung prägen. Das Kirchenjahr ritualisiert diese Zeitstruktur. Vom ersten Sonntag im Kirchenjahr in der dunklen Jahreszeit über die Adventsonntage in der mal traurigen, mal fröhlichen Erwartung auf das Heilsgeschehen, in der Passionszeit als Zeit des Fastens und Nachdenkens bis zum Ostermorgen, der als festlicher Aufbruch des Lebens gefeiert wird, vom Buß- und Bettag als Moment des Einblicks in die eigenen Abgründe bis zum Erntedankfest als Würdigung der Lebensmittel. Im Kirchenjahr verbinden sich aufs Elementarste geistliche und weltliche Dimensionen. Sinnlich wird es nicht nur durch die Abfolge von Fest und Alltag, von Trauer und überberstender Freude, von Dunkelheit und Licht. Es gehört zur christlichen Zeitkultur, dass der religiöse Sinn sinnlich wird. Das opulente Ostermahl unterscheidet sich von der kargen Mahlzeit am Karfreitag. Die Gelage zum Erntedankfest waren ursprünglich nicht Kompensation eines genussfeindlichen Lebens sondern im Gegenteil Ausdruck eines Lebensgenusses, der weiß, dass alles seine Zeit hat. Dem Kanon der geistlichen Musik Johann Sebastian Bachs ist die Weisheit abzulauschen. Dem schlichten Arioso einer Altstimme, begleitet nur von einer Viola d’Amore folgt der volle Klang der Barocktrompeten in verschwenderischer Kraft. Beide eröffnen dem Ohr je eine andere Art von Genuss. „Erwischt!“, mag man jetzt sagen. Da ist die Erweiterung des Genussbegriffs. Eingeschmuggelt durch die geschickte Platzierung des gefragten Begriffs. Doch genauso wollte Bach seine Musik verstanden haben. Als Teil des Gottesdienstes und nur so als Element des „geistlichen Genusses“. Von geistlichem Genuss redet vor allem das 17. Jahrhundert, das auch in der Theologie den „ganzen Menschen“ bedenkt. Genuss, so verstanden, ist eine Haltung der Aufmerksamkeit und Konzentration. Wer sich so verhält, macht Platz für eine Überwältigung. Er lässt sich ergreifen und entführen in einen Moment, in dem ekstatische Selbstfremdheit und die Erfahrung des „Ganz-bei-sich-Seins“ sich überblenden. Eine wahrhaft religiöse Erfahrung. Das fand jedenfalls der große protestantische Theologe, Prediger und Kulturpolitiker Friedrich Daniel Schleiermacher. Wahre Religion sei Sinn und Geschmack fürs Unendliche, schreibt er in seinen großen „Reden über Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern“ im Jahr 1799. Ein revolutionärer Text, der aufräumt mit dem Vorurteil seiner Freunde und Freundinnen, der christliche Glaube reduziere sich auf Moralisiererei. Der Verdacht der Genussfeindlichkeit wurde auch in den frühromantischen Salons gehegt und gepflegt. So konnte man den tieferen Anfragen des Christentums an die eigene Existenz gepflegt aus dem Weg gehen. Schleiermacher findet diesen wunden Punkt. Er verarztet ihn in einem großartigen Text, der zu den Klassikern der Theologie und zu den Klassikern europäischer Geistesgeschichte gehört. Weil er die Erfahrung des christlichen Glaubens als vertieften Genuss der menschlichen Existenz begreift. Für Schleiermacher ist es ein religiöser Genuss, sich seiner selbst als eines von Gott geliebten Geschöpfes zu vergegenwärtigen, ein Genuss, der das ganze Leben in einen neuen Horizont rückt. Die Intensivierung des Lebens, die im Genießen liegt, eine Intensivierung, in der Geist und Sinn aufs höchste alarmiert sind und der Herzschlag sich trotzdem beruhigt, diese Intensivierung hat für Christinnen und Christen einen Grund, der nicht im eigenen Leben selbst liegt. Wer genießen will, muss sich anrühren lassen. Es braucht eine Form der Passivität, die die Ängste des Kontrollverlustes ebenso hinter sich lässt wie die Sorge, für einen Moment nicht der Souverän des eigenen Lebens zu sein. Diese Art des geistlichen Lebensgenusses verschafft sich in anderen Genüssen ein Gleichnis. Für Schleiermacher sind deshalb die weltlichen Genüsse – ein gutes Glas Wein, ein köstliches Dessert, ein Jazzstück, das in die Füße geht, eine Formulierung, die unvergesslich bleibt, die Berührung durch einen anderen Menschen – Zeichen dieses Lebensgenusses aus dem Geiste des Christentums. Für Bach, den Leipziger Protestanten, hatte übrigens die Tabakpfeife diesen Effekt. Der große Künstler der Herzensüberwältigung, der noch bekennende Atheisten wie den Philosophen Hans Blumenberg für einen Moment lang zum Gläubigen macht, der vielleicht wichtigste Vertreter des musikalischen Weltkulturerbes, der fromme Lutheraner, findet im Rauchen einen Moment des himmlischen Genusses. Die ganz profanen Genüsse des Alltags sind also in christlicher Perspektive keine Fluchtwege aus der geistlichen Welt sondern nachgerade Zeichen ihrer Existenz. Was genau aber ist der Kern des geistlichen Genusses, der in der Vergegenwärtigung der eigenen Geschöpflichkeit liegt?

Ein Christenmensch ist für Schleiermacher ein Mensch, der sich so geliebt weiß, dass er sich selbst ohne Wenn und Aber lieben kann. Das führt zu einem anderen Selbstverhältnis. Der geistliche Genuss der religiösen Erfahrung macht das Individuum allererst zu einem Individuum, zu einem einzigartigen, unvergleichlichen Wesen. Ein Individuum ist für Schleiermacher jemand, der so um seine Einzigartigkeit weiß, dass er nicht ständig jemand anders sein will. Mit sich im Reinen sein, würden wir heute sagen. Das fremde Bild, das der christliche Glaube von dem eigenen, unzulänglichen Spiegelbild erzeugt, wird zum Selbstbild.

Heute wissen wir aus der Psychotherapie, dass diese Form nichtnarzistischer Selbstliebe die Voraussetzung für die Genussfähigkeit des Menschen ist. Nur so lassen sich selbstbewusste Zeiten des Verzichtes wie Zeiten der Fülle gestalten, Zeiten der Verausgabung an den Anderen und Zeiten mit sich allein. Nur so machen auch die eigene Sexualität Spaß und ein opulentes Essen. Wer mit sich selbst im Reinen ist, weil er sich von woandersher geliebt weiß, kann das Leben genießen. Weltverachtung ist theologisch gesprochen keine Folge des Glaubens sondern die Konsequenz des Unglaubens oder des Kleinglaubens, der dann und wann auch Menschen betrifft, die sich selbst als religiös bezeichnen. Es ist übrigens noch nicht jeder Rückzug von der Welt ein Zeichen ihrer Verachtung. Im Gegenteil. Wer sich nicht in jeden Trubel stürzen muss, wer nicht jede Mode mitmacht, wer nicht nur das tut, was alle tun, erweist sich unter Umständen als unbestechlich und frei. Eine Diätetik aus dem Geiste des Christentums müsste wohl neu geschrieben werden, in der Überdruss und Genussunfähigkeit sich nicht wie ein Infekt vermehren. Zu ihr gehört zum Beispiel eine erneuerte Kultur des Sonntags als Tag geistlicher und weltlicher, sozialer und kultureller Genüsse. Hierzu mag aber auch die Wiederentdeckung geistiger Genüsse gehören. Wer sagt denn, dass eine philosophische Frage öde ist oder ein anspruchsvoller Roman schlechte Laune macht? Die Knobelei des Kopfes kann große Lust bereiten. Und bei der Arbeit an der Sprache kann sich ein überschwängliches Vergnügen einstellen, das Zeit und Raum vergessen lässt. Martin Luther konnte deshalb sogar von der Bibellektüre als einer überaus genießerischen Tätigkeit reden, selbst da, wo er sich an griechischen Vokabeln die Zähne ausbiss. Was wäre, wenn wir unseren Kindern vermitteln könnten, dass man lernen auch genießen kann, weil der Moment des Übersichhinauswachsens etwas Orgiastisches hat? Genuss und Anstrengung können durchaus Freunde sein, wenn sie als Intensivierung des Lebens erfahren werden. So wie sich bei der Verausgabung an den Nächsten große Zufriedenheit einstellen kann.

Der Rückgriff auf das Christentum ist also bei Lichte besehen nicht das schlechteste Palliativ gegen den allgemeinen Lebensverdruss. Denn der christliche Glaube ist zutiefst antifatalistisch und antidepressiv. Wer seine Existenz in seinem Lichte sieht, wird Gelassenheit und Gewissheit gewinnen, die die Voraussetzung ist für gesunde Genüsse aller Art. Im Bett und in der Küche und im Sportstudio und im Museum und in der Kirche.