„Verantwortete Freiheit - Reformatorisches Erbe in aktuellen Spannungen“ - Vortrag zum Epiphaniasempfang in der St. Johanniskirche in Lüneburg

Petra Bahr

Die verramschte Freiheit

Es ist Schlussverkauf, haben Sie es schon gemerkt? Auf den Schaufensterfronten in der Lüneburger Innenstadt kleben große rote Punkte. Sale. Alles muss raus. Diese Tage sind eine Hochzeit für Pfennigfuchser und Schnäppchenjägerinnen. Da kann man gut und gerne 50 Prozent sparen und das Weihnachtsgeld auf den Kopf hauen. Und seit der Konsum als bürgerliches Engagement in Zeiten der Krise verordnet wird, kann man bei der Jagd nach dem preisgünstigsten Angebot auch noch ein richtig gutes Gewissen haben. Nicht nur Skijacken, Winterstiefel und Flachbildschirme lassen sich zu Schleuderpreisen verkaufen. Was gestern noch begehrt und mit glänzenden Augen aus der Ferne bewundert wurde, ist heute schon im Übermaß vorhanden. Dieses Schicksal bleibt auch großen Ideen nicht erspart. Sie verlieren an Wert und landen auf dem Grabbeltisch.

Es scheint, als würde gegenwärtig auch das große abendländische Erbe der Freiheit verramscht. Freiheit ist längst kein knappes Gut mehr, das wie ein Schatz gehütet und geschützt wird. Freiheit scheint im Gegenteil im Übermaß vorhanden zu sein - wie die Winterkleidung vor der Frühjahrssaison. Pathos und Glamour sind verbraucht wie die Mode von gestern. Ihren Kredit, um ein Bild aus der Weltwirtschaftskrise zu entleihen, hat die Freiheit in den letzten Monaten selbst verspielt. Auf freien Geldmärkten verzockt, steht sie nun ziemlich kümmerlich da. Andere Leitworte stehen hoch im Kurs. Ordnung etwa, die der Freiheit Grenzen gibt. Oder Sicherheit, die ein Netz über ihren Abgrund spannt. Kontrolle, die die Freischärler domestiziert. Wenn in diesen Tagen von der Freiheit die Rede ist, dann von ihren Gefahren. Zynisch lautet die Bilanz der Freiheit, wie sie sich augenblicklich darstellt so: „Die Freiheit der Wölfe ist der Tod der Schafe“.

Das Thema „verantwortete Freiheit“, das über diesem Epiphaniasempfang steht, könnte deshalb selbst wie ein Ladenhüter auf Sie wirken, den auch bei massiven Preisnachlässen keiner haben will. Haben wir keine anderen Sorgen, als ausgerechnet über Freiheit nachzudenken? Müsste die evangelische Kirche in Lüneburg das Jahr 2009 nicht mit einem Thema eröffnen, das den Nerv der Zeit trifft? Vielleicht haben Sie eine Rede über Vertrauen erwartet. Etwas Grundsätzliches. Über das enttäuschte, diskreditierte und korrumpierte Vertrauen in die Werte und Lebensziele, denen wir uns mit Haut und Haaren ausgeliefert haben. Und über die Frage, wie der christliche Glaube als Ressource für neues Vertrauen in Gott und die Welt entdeckt werden kann. Manch einer von Ihnen hat vielleicht auf ein paar ermutigende Ausführungen über die Hoffnung gesetzt, die neue Zukunft schafft. Etwas Aufrüttelndes. Etwas Ermutigendes. Das erwartet man in diesen Tagen doch von Kirche und Theologie. Andere mögen sich auch neue ethische Impulse aus christlicher Perspektive erhofft haben. Wirtschaftsethische Überlegungen. Friedensethische Überlegungen. Etwas Praktisches. Und wenn es schon unbedingt die Freiheit sein muss, dann bitte schön etwas über ihre Grenzen. Wo liegen die Schranken der Freiheit? Nach welchen Maßstäben wollen wir unsere Gesellschaft und die Weltgesellschaft künftig gestalten? Wo kommt die Orientierung her für unseren Umgang mit Geld, mit Macht, mit Wissen? Ja, das wäre ein Impuls, mit dem Christinnen und Christen, Bürger und Bürgerinnen dieser Stadt gefasst und froh ins Jahr gehen könnten.

Die überforderte Freiheit

Ich bin der festen Überzeugung, dass all dies: die Frage nach dem Vertrauen, die Suche nach der Hoffnung und die Sehnsucht nach Orientierung in dem Thema verborgen sind, das Sie mir gestellt haben. Grundsätzliches, Ermutigendes und Praktisches verbinden sich in beiläufiger Eleganz. Deshalb freue ich mich sehr, heute zu Ihnen über ein Thema sprechen zu dürfen, bei dem es um nicht weniger als um das Selbstverständnis evangelischer Christinnen und Christen heute geht. „Verantwortete Freiheit. Reformatorisches Erbe in aktuellen Spannungen leben“. Auch der Nachsatz hat es in sich. Er hindert mich daran, Ihnen einen kirchengeschichtlichen Vortrag zu halten. Natürlich ist es nötig und hilfreich, sich der historischen Bedingungen der Reformation und ihrer ursprünglichen Einsichten immer wieder zu vergegenwärtigen. Bis zur Fünfhundertjahrfeier der Reformation im Jahr 2017 ist es ja nicht mehr weit. Dieses Ereignis hat keinen Lebensbereich unberührt gelassen. Was und wie wir heute leben, ist zutiefst beeinflusst von der Bewegung, die in der frühen Neuzeit ihren Ausgang in der kleinen Universitätsstadt Wittenberg nahm. Gerade deshalb lohnt es sich aber, nach der Bedeutung des reformatorischen Erbes für heute zu fragen. Wenn das Reformationsjubiläum, auf das wir zugehen, mehr sein will als eines der unzähligen Gedenkereignisse, in denen wir uns großer religiöser, kultureller oder politischer Ereignisse der Vergangenheit erinnern, muss die Frage erlaubt sein, was aus der großen Erbmasse der Reformation als Investition in die Zukunft taugt. Kann das christliche Freiheitsversprechen, wie es Luther in seinen großen Traktaten des frühen 16. Jahrhunderts formuliert hat, heute helfen, das verramschte, korrumpierte und verbilligte Gut der Freiheit wiederzuentdecken?

Wer augenblicklich von Freiheit spricht, macht aus der Freiheit ein Problem. Wo gegenwärtig von Freiheit die Rede ist, dann in der Regel über ein „Zuviel“ an Freiheit. Freiheit wird vor allem als Überforderung wahrgenommen. Da ist zum einen die Idee des freien Individuums. Eine glanzvolle Idee, die aus der abendländischen Philosophie und Theologie tief in unser Alltagsleben eingedrungen ist und uns im wirklichen Leben allerhand abnötigt. Wo alles zu einer Frage der freien Entscheidung wird, von der Wahl des Berufes über die Wahl der Lebensform bis zur Farbe des Autos, kann in der Tat schnell der Eindruck entstehen, die Freiheit sei vor allem eines: anstrengend. Viele Menschen fühlen sich zunehmend überfordert, sich im Gewirr der Möglichkeiten zurechtzufinden. Es gibt mittlerweile ein Krankheitsbild, das die Menschen erfasst, die sich einfach nicht entscheiden können. Freiheit  verursacht hier Schweißausbrüche und Angstzustände. Gut ausgebildete, intelligente, kreative Menschen scheitern an der Vielzahl der Möglichkeiten, die sich eins ums andere Mal vor ihnen aufbauen. Da kann schon die Wahl des Schokoladenpuddings zu Schlaflosigkeit führen. Und eine junge Szeneautorin machte jüngst von sich reden, als sie ernsthaft forderte, das romantische Liebesideal doch zu überdenken und die Vorzüge der Vernunftehe neu zu entdecken. Sie hätte einfach keine Lust mehr, sagte die junge Frau, bei jedem Mann wieder nach dem Richtigen zu suchen. Sie habe auch keine Lust mehr, sich ständig neu zu erfinden, zu stylen und anzupreisen. Diese ganze Freiheit auf dem Liebesmarkt würde nur liebesmüde machen. „Wie angele ich mir einen Millionär?“, fragt ein anderer Ratgeber ganz ernst. Nun, ich bin sicher, dass eine junge Türkin, der die Zwangsehe mit einem Großcousin droht, den sie niemals zuvor gesehen hat, eine leicht andere Perspektive auf dieses neue Lob der arrangierten Beziehung hätte – schon hier wird deutlich, dass manche Ermüdungserscheinung der Freiheit ein Luxusproblem ist, das nur die haben, die satt an Freiheit sind.

Doch ist die „Multioptionsgesellschaft“, wie es im Soziologendeutsch heißt, für viele Menschen das Gegenteil vom Paradies. „Warum unsere Kinder Tyrannen werden“ fragt ein Jugendpsychologe und landet damit einen weiteren Bestseller. Ein Leben ohne Grenzen und Regeln, ohne Disziplin und Unterordnung macht offenkundig nicht automatisch mündige, autonome Subjekte, sondern Menschen, die wie hin- und hergeworfen scheinen im Spiel der Anforderungen und Verhältnisse. Nicht einmal gesunde Selbstliebe stellt sich so ein. Ungezügelte Freiheit schlägt um in Despotie. Denn es geht ja nicht nur darum, im Dauerlauf aus einer Fülle von Möglichkeiten zu wählen, sondern auch darum, zu wissen, nach welchen Kriterien man seine Wahl trifft. Beim Schokoladenpudding mag Geschmack, Intuition und Preis noch reichen. Bei der Berufswahl oder bei der Wahl der Lebensform braucht die freie Wahl Orientierungen, die nicht zur Disposition stehen, damit ich mir überhaupt die Freiheit nehmen kann. Es braucht, wenn man will, festen Boden unter den Füßen und einen klaren Horizont. Sonst wird die Freiheit selbst zum Zwang und zu einer dauernden Belastung. Gerade da, wo die Freiheit scheinbar am größten ist, werden Menschen sich deshalb der Ambivalenz dieser Freiheit am stärksten bewusst.

Auch die politischen Freiheiten sind längst nicht mehr unverdächtig. In diesem Jahr feiern wir Deutschen den Gründungstext dieser politischen Freiheiten. Seit sechzig Jahren sind im Grundgesetz Grundfreiheiten gegenüber dem Staat festgeschrieben, die unsere Bürgerfreiheiten durch dramatische Veränderungen der Gesellschaft hindurch bewährt haben. Das ist wahrlich ein Grund zum feiern, doch wer die aktuellen Diskussionen verfolgt, merkt, dass auch hier die Freiheit der Bürger und Bürgerinnen vor Eingriffen des Staates neuerdings als gefährliches Gut gehandhabt wird. Da geht es auch mal an letzte Tabus. Darf der Staat in Ausnahmefällen foltern? Dürfen private Telefone abgehört und Daten über die eigene Gesundheit gesammelt werden? Ermöglicht das religionsfreundliche Verhältnis von Staat und Kirche religiösen Fundamentalismus und Fanatismus? Komplizierte Fragen, die auf eines aufmerksam machen: Freiheit ist ein heikles Gut, das sich sogar selbst gefährden kann. Da, wo Terror wie eine anonyme Bedrohung in jedem U-Bahn-Schacht lauert, wird die eigene Sicherheit verständlicherweise zu einem konkurrierenden Gut. Auch die demokratischen Freiheiten wirken auf viele Menschen fadenscheinig und wirkungslos. „Wählen? Nützt ja doch nichts“. „Die da oben“ machen doch eh, was sie wollen. Das Gefühl, die versprochenen Freiheiten seien in Wahrheit Mogelpackungen, greift in dem Maße um sich, als eine Generation heranwächst, die sich unter politischer Gewaltherrschaft und der fundamentalen Einschränkung individueller Grundfreiheiten schlicht nichts mehr vorstellen kann. Was kann das reformatorische Erbe gegen die grassierende Skepsis gegenüber der Freiheit einwenden?

Die reformatorische Freiheit

Martin Luthers Wiederentdeckung der christlichen Freiheit kommt zu Beginn unspektakulär daher. Kein großer Denker, kein politischer Taktiker, kein intellektueller Abenteurer, nicht mal ein bedeutender Theologe, sondern ein Mönch und Bibelleser ist er, als ihm eine fundamentale Korrektur des menschlichen Freiheitsverständnisses aus den Wurzeln des christlichen Glaubens aufgeht. Natürlich steht der große Reformator nicht alleine. Er lebt in einer geistigen Atmosphäre der Reformen und Umbrüche. Mir geht es deshalb an dieser Stelle nicht um einen neuen Lutherkult, schon gar nicht um eine nationale Heldenverehrung. Mir geht es um eine kleine Entdeckung mit großen Folgen. Bis heute. Luther stellt die Frage nach der Freiheit erst einmal nicht mit politischem oder philosophischem Hintersinn. Seine Frage ist religiös motiviert und umgreift doch die Suche nach einem vertieften Freiheitsverständnis. Er fragt nämlich schlicht nach dem, was uns beherrscht. Die Antwort auf diese Frage verknüpft er mit der Frage, was ein Christenmensch sei. „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan.“ Das ist ein kühner Satz, nicht nur zu Luthers Zeiten. Denn ein freier Herr ist Luther keineswegs. Seine Korrekturen an der herrschenden Theologie und seine Kritik an religiösen Praktiken seiner Kirche ziehen den Zorn der Kirchenherren auf ihn. Sein Leben ist bedroht. Als er 1520 seinen Traktat über die Freiheit eines Christenmenschen formuliert, lebt er in äußerster Bedrängnis. Deshalb durchzieht diesen Traktat ein Ton trotziger Vergewisserung. Ein Christ ist freier Herr über alle Dinge. Das meint erst einmal alle Dinge, die dem eigenen Heil dienen. Vor Gott gilt keine Tyrannei der guten Werke und kein göttliche Rendite durch Wohlverhalten. Der Mensch kann sich nicht von sich selbst befreien, so kräftig er auch zappelt und arbeitet. Deshalb kann seine Befreiung von seinen Ängsten, seinen selbstzerstörerischen Absichten, von seiner mangelnden Selbstliebe, von seiner Unfähigkeit, mit dem eigenen Versagen umzugehen, nur als Geschenk verstanden werden, als etwas, was ihm gewissermaßen zustößt. Diese Art Freiheit lebt nicht von der Aktion und der Autonomie, sondern ist im Gegenteil die vornehmste und zugleich schwierigste Form der Passivität. Sich beschenken lassen, sich etwas zusprechen lassen, was man sich nicht selber sagen kann und was nicht der eigenen Kompetenz zuzuschreiben ist, der eigenen Mühe, der eigenen Geschicklichkeit der Gedanken und der Hände, das ist für den Menschen in der frühen Neuzeit wie für uns Spätmoderne offenbar eine große Zumutung. Für unser Freiheitsverständnis ist diese Einsicht kostbarer denn je. Freiheit ist in christlicher Perspektive schlicht nicht käuflich. Sie ist auch nicht an Bedingungen geknüpft, an Leistungskataloge, an Benchmarks und an Exzellenzcluster. Die Freiheit, die Martin Luther im Glauben an das Heilswerk Christi findet, ist kein Zustand, sondern die Erfahrung einer Befreiung. Diese Befreiung hat, wie gesagt, erst mal keine politische Konnotation. Freiheit von der eigenen Selbstbeschränkung in Bindung an Gott, das ist die Botschaft.

Warum aber will Luther sich von sich selbst befreien lassen? Dazu muss man seine Zustandsbeschreibung des Menschen zu Rate ziehen. Auch diese Zustandsbeschreibung ist, finde ich, mehr denn je aktuell. Der Mensch kann nicht Mensch sein, weil er Gott sein will, lautet Luthers lapidare Beschreibung. Übrigens meint das im tiefsten theologischen Sinne „Sünde“: diesen Zwang, wie Gott sein zu müssen. Menschen sind so gefangen darin, etwas sein zu wollen, was sie nicht sind, dass sie ihrer eigenen Würde im Weg stehen, sagt Luther. Sein wollen wie Gott, das hat für den Reformator viele Dimensionen. Vor allem heißt es für ihn, und das ist nur scheinbar paradox: da Souverän über das eigene Leben und das anderer sein zu wollen, wo wir doch Untertanen, wo wir Knechte sind. Wir sind eben nicht Herren unserer selbst. Wir herrschen nicht über unsere Lebensläufe oder über die Geschichte oder über die Natur. Wir nehmen uns viele Freiheiten, manche davon mit fatalen Konsequenzen, aber da, wo wir uns als Herren – heute würde man vermutlich sagen: als Designer oder Ingenieure – unseres Daseins verstehen, täuschen wir uns über uns selbst. Das ist die Falle, in die wir selbst gelaufen sind. Selbstverschuldete Unmündigkeit, ja. Da stimmt Luther mit dem großen Aufklärer Kant überein. Nur können wir, würde er dem großen Königsberger zurufen, uns eben nicht selbst befreien. Und Kant würde vermutlich sogar zustimmend nicken. Wir sind nicht Herren im eigenen Haus. Für diese Einsicht musste nicht erst Sigmund Freud kommen.

Luthers Freiheitsverständnis entlarvt deshalb unser gängiges Freiheitsverständnis als grandiose Selbsttäuschung. Die christliche Freiheitsbotschaft stellt dieses Freiheitsverständnisse deshalb auch erst mal auf den Kopf. Frei sind wir erst dann, wenn wir die Frage, was unser Leben beherrscht, ehrlich beantworten und uns als Befreite, als Menschen mit einer Befreiungsgeschichte, verstehen. Das ist die „Freiheit des inwendigen Menschen“, wie Luther es formuliert, der seine Freiheit gerade darin findet, dass er auf Gnade angewiesen ist. Immer wieder ist die Rede vom inwendigen Menschen falsch verstanden worden. Auch von den Protestanten selbst wurde sie gleich doppelt missverstanden. Zum einen als rein spirituelle Freiheit, die sich um die äußere Welt nicht schert, sondern fromm und stumm in der Kirchenecke sitzt. Zum anderen als individualistisch verkürzte Freiheit, die keinerlei Bindungen, auch keine religiösen verträgt. Deshalb ist das christliche Freiheitsverständnis häufig gleich mit den anderen Freiheiten verramscht worden. Doch beide Deutungen sind falsch. Der freie Christenmensch ist nur Gott und seinem Gewissen verantwortlich, das stimmt. Er ist aber auch „gefangen im Wort Gottes“, wie Luther mit drastischer Sprache formulieren kann. Damit er sich seiner Befreiungsgeschichte so erinnert, dass er seine Befreiung als Freiheit eines Christenmenschen einlöst, braucht er die Erinnerung an den Grund dieser Freiheit, die in der Menschennähe Gottes liegt. Er braucht die Vergegenwärtigung und den Zuspruch Gottes, er braucht die Gemeinschaft mit den anderen „Freien“. Das bedeutet für Luther „Kirche“. Kein beliebiger Ort, sondern ein notwendiger Lebenszusammenhang! Der freie Christenmensch ist kein Einzelgänger, sondern einer, der sich in einer Gemeinschaft aufgehoben weiß und diese Gemeinschaft durch seine freie Würde bereichert. Die zweite Fehldeutung ist eine nachgerade tragische und hat ein engagiertes Verhältnis vieler Protestantinnen und Protestanten zu ihrer Verantwortung für das Gemeinwesen, vor allem aber zum Rechtsstaat und zur Demokratie, lange getrübt.

Freude an dem was sein soll

Und doch gibt es einen inneren Zusammenhang zwischen der inwendigen Freiheit des Christenmenschen und der Freiheit des Bürgers. Gewissen und Mündigkeit, die Freiheit des kritischen Nachdenkens führen dem Gedanken nach automatisch zu Religionsfreiheit und Meinungsfreiheit, zur Forschungsfreiheit und zur Pressefreiheit. Nicht nur als Bürger und Bürgerinnen, auch als freie Christenmenschen haben wir deshalb gute Gründe, 60 Jahre Grundgesetz zu feiern und zu bedenken, wie wir diese Freiheit in Zukunft schützen wollen. Luther selbst legt eine Fährte, die das öffentliche Engagement der freien Christenmenschen für eine menschenfreundliche Gesellschaft begründet. Seine „Ethik der Dankbarkeit“, die der Freiheitserfahrung des Menschen auf dem Fuße folgt, ist eine Ethik, die dem anderen die gleiche Freiheit zuerkennt. Das ist nur konsequent, wenn das Maß der Freiheit von einer Instanz bestimmt ist, die sich meiner Verfügung entzieht. Im einzelnen mag diese gleiche Freiheit kompliziert zu buchstabieren sein, vor allem im Rechtstext. Doch die Freiheit der Wölfe lässt sich damit nicht mehr legitimieren. Und sie ist auch nicht egal, weil man mit der innerlichen Freiheit genug hat. Das, was Luther als Selbst- und Lebensbegründung ablehnt, nämlich die Idee, dass man durch Leistung und gutes Benehmen, durch christliche Tugenden und geistliche Disziplin den Sinn des Lebens und das Himmelreich erwerben könne, kommt in neuer Begründung wieder zurück. Wer sich selbst in den Unsicherheiten und Gefährdungen des Lebens angenommen und unbedingt geliebt weiß, der hat „Freude an dem, was sein soll“. Der gibt sich nicht zufrieden mit den Dingen, wie sie sind. Der lässt sich auch nicht abspeisen mit dem Hinweis, man könne die Verhältnisse nicht mehr ändern, denn die seien mittlerweile zu kompliziert. Defätismus und Angst sind Feinde der christlichen Freiheit. Ebenso wie Betulichkeit. Aber auch unsere heimlichen Bonussysteme, auch die der Kirche, werden in dieser Perspektive kritikwürdig.

Luther kann so weit gehen, dass er den Glauben an diese zugesprochene Freiheit eine fides creatrix nennt. Der Glaube macht kreativ. Er wagt sich ins Offene. Er scheut kein Risiko und weckt in uns Entdeckerinnen und Abenteurer. Der Glaube erkundet den Möglichkeitssinn und lässt sich von der Wirklichkeit, so wie sie ist, nicht einschüchtern. „Geht nicht gibt’s nicht!“, würde Luther in seiner derben Art wohl sagen. Der Glaube macht erfinderisch, und das nicht nur in religiösen Angelegenheiten. Von der Reformation ging eine umwälzende Bildungsoffensive aus. Da wurden nicht nur ein paar Schulhäuser instand gesetzt, da eröffneten sich sogar den Mädchen ungeahnte Bildungshorizonte, vor und von deren Hintergrund wir noch heute leben. Freude an dem, was sein soll – das ist ein Kriterium, an dem unser Handeln einen Maßstab gewinnt. Und dieser Maßstab führt ins Weite. Er macht nicht Halt bei den eigenen Belangen, sondern fragt nach den Zukunftsaussichten der nächsten Generationen. Wie gewinnt unsere Freude an dem, was sein soll konkrete Gestalt? Was geschieht in unseren Forschungslaboren und in unseren Hochschulen, in unseren Kindergärten und in unseren Entwicklungsabteilungen der Industrie? Was in den Pfarrbüros und was in den Konferenzsälen? Verantwortete Freiheit ist eine Freiheit, die auf das Geschenk der Freiheit antwortet, indem sie sich um unser selbst und unserer Nächsten und Fernsten willen in Bewegung setzt. Das wäre ein geistliches und mentales Konjunkturprogramm im Zeichen christlicher Freiheit: sich gelassen und mutig der Aufgaben zu stellen, die auf uns zukommen. Mit gehöriger Freude an dem, was sein soll.