Rede zum Ökumenischen Filmempfang anlässlich der Berlinale, Katholische Akademie Berlin

Petra Bahr

Lassen Sie es mich gleich zu Anfang offen legen: Ich kenne die DDR nicht. Ich war nie da, bevor die Mauer fiel, meine Mutter hat keine Pakete gepackt und ich hatte auch keine alte Tante „in der Zone“, wie man bei uns im Sauerland unverdrossen sagte. Vielleicht entsprach der geographischen Entfernung zum anderen deutschen Staat deshalb auch das innere Desinteresse. Nicht einmal die Gemeindepartnerschaften haben mich nach Sachsen oder Mecklenburg-Vorpommern gebracht. Ich bin zur gleichen Zeit lieber nach Paris gefahren.

Alles, was ich bis 1989 über die DDR wusste, kannte ich aus der Literatur. Dresden, Weimar und Leipzig waren literarische Plätze, die den Sprung vom 18. ins 20. Jahrhundert in meinem Kopf gar nicht geschafft haben. Die Mark Brandenburg und die Lausitz waren elegische Orte und Metaphern für den Zustand einer fremden Gesellschaft, Fontane und Christa Wolf rückten da im Rückblick fahrlässig nah. Beide saßen im Kreis von Freunden unter Kirschbäumen und redeten. In meinem Kopf entstand eine surreale Landschaft aus stillgelegten Braunkohlewerken, heruntergekommenem Barock und aufregenden Lesungen in vollen Kirchen. Darüber lag die graue Gaze des Nichtwissens, nur hier und da aufgehellt durch irritierende Lektüren und Filme. Ja. Filme gab es auch. Irgendwo müssen die Braunkohlebilder in meinem Kopf ja herkommen. Aber gemerkt habe ich mir vor allem die „Haselnüsse für Aschenbrödel“, alle Jahre wieder das kleine Glück für ein traumwütiges kleines Mädchen, das nur selten Fernsehen durfte. „Der Weihnachtsfilm aus dem Osten“, hieß es in der Programmzeitschrift.

1990 lernte ich dann auf einer Party im tiefsten Ruhrgebiet einen Kommilitonen der evangelischen Theologie kennen. „Sein Auslandsjahr“ sagte er scherzhaft dazu. Er ist in der DDR aufgewachsen. Wir teilten unsere Leidenschaft für Literatur, Kunst und Film und kamen uns nah. Da endlich ist auch für mich eine Mauer gefallen in die reale Welt der DDR. Der spätere Freund erzählte mir einen ganzen Abend lang von der Zeit vor dem Studium. Dabei drängelte er sich mit seinen Geschichten gar nicht in den Vordergrund. Es war die Art des Erzählens, die mich fragen und fragen ließ, bis er gar nicht mehr anders konnte, als eine Geschichte nach der anderen auszugraben. Er erzählte von der Zeit, als er als Filmvorführer über Lande reiste. Er erzählte bis zum Morgengrauen, wir haben sogar das Trinken über seine Geschichten vergessen. Lustige und bittere Episoden über Filmvorführungen in Backsteinkirchen und Pfarrhauskellern, über gestohlene Bänder und volle Kinosäle. Der Film als Protest und Unterhaltung, als Parodie, als Komödie und als Kriminalgeschichte eines ganz normalen Lebens in der DDR: Am Abend nach dieser durcherzählten Nacht nahm er mich mit ins kommunale Kino. Wir guckten „Spur der Steine“, den Film, der im gleichen Jahr auch auf der Berlinale gezeigt wurde. Ein Film so alt wie ich, und er brauchte mehr als zwanzig Jahre bis in ein Kino im Ruhrgebiet. Er zeigte mir seine Filme, ich ihm meine. Wobei er sich in meiner Filmwelt des Westens bestens auskannte. Schmuggelei und heimliches Westfernsehen hatten aus ihm einen gut informierten Cineasten gemacht. Seine Filme, auch die herausragenden DEFA-Produktionen, “Jakob der Lügner“ etwa, waren für mich eine fremde Welt. Eine Asymmetrie, die zu denken gibt. Der spätere Freund hatte es nicht leicht. Seine Geschichten waren nicht amüsant. Sein Bruder kam für zwei Jahre nach Bautzen, weil er bis West-Berlin nicht gekommen ist. Wir waren uns nah und fremd zugleich, wir teilten unsere Passionen, aber nicht unsere Erinnerung. Das machte unsere Freundschaft spannend, aber bis heute auch spannungsreich.

Später traf ich, vielleicht ist das nur kurios und nicht weiter bemerkenswert, eine Reihe von Menschen, die eine Weile ihres Lebens als Filmvorführer gearbeitet haben, weil sie nicht zum Studium zugelassen wurden. Allesamt Pfarrerssöhne, und manch einer hat sogar die Ausbildung zum Filmwiedergabetechniker gemacht.

Warum ich diese Geschichte erzähle? Weil sie vielleicht zeigt, dass das Erzählen eine überlebensnotwendige Kraft für eine Gesellschaft ist, die an vielen Ecken und Enden gar nicht weiß, wie sie eine Gesellschaft – und nicht mehr zwei – sein soll. Starke Bilder, Selbstbilder und Fremdbilder, haben vermutlich einen großen Anteil an Nähe und Fremdheit in der deutschen Gesellschaft. Der Film ist wohl das mächtigste Narrativ der Gegenwart. Die Literatur lässt den Bildern so viel Freiwilligkeit. Der Film dagegen bannt und fesselt, der imponiert sich mit einer Macht, die außerhalb der Kunst seinesgleichen sucht. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Geschichten, die sich Menschen zwischen Ost und West zu erzählen haben, längst nicht auserzählt worden sind, auch wenn es heute oft gar keine Rolle mehr zu spielen scheint, ob jemand aus Stuttgart oder aus Leipzig kommt. Es gibt ein riesiges unterirdisches Reservoir von Geschichten, die im Keller der Geschichte lagern und auch in den Falten der Menschen. Sie können in der konkreten Phantasie der Drehbuchschreiber gehoben werden, in den bewegten Bildern, die ein Regisseur vor Augen hat, bevor der erste Schauspieler gecastet ist. Zwanzig Jahre sind eine lange Zeit. Viel Staub und Bitterkeit und Enttäuschung mag sich da auf den unerzählten Geschichten ablagern. Aber sie sind noch nicht verloren. Es ist deshalb auch Aufgabe kirchlicher Filmförderung, diesen Geschichten ans Licht zu verhelfen. Auch den Geschichten, die sich vor 19, vor 13 oder vor fünf Jahren zugetragen haben.

Der Film würde nachgerade überschätzt, wenn er heilen, versöhnen oder gar vereinen könnte. Diese Aufgabe können wir nicht an die Kunst delegieren. Aber sie kann Anstöße geben, kann Einblicke in die Wirklichkeit geben, wie wir sie nicht zu sehen vermögen. Kleine, kuriose, persönliche, aber auch erhebende, pathetische und weltstürzende Geschichten. Wir brauchen schräge Blicke auf eine Welt, in der die großen Schlagworte und Formeln alles geradezurücken scheinen. „Mauerfall“ und „Wende“, „friedliche Revolution“ und „blühende Landschaften“ – das sind große Worte, die ihren Zauber längst verloren haben, weil sie sich ins Allgemeine flüchten, zu bedeutungsvollen Gedenkjahrkulissen, hinter denen die Geschichten verlorenzugehen drohen. Wie übrigens auch die Filmvorführer ausgestorben sind, diese Spezies von Wanderern in Sachen Filmkunst, die sich in der jüngsten Geschichte des Engagements der Kirchen für den Film nicht durchsetzen konnte.

Mein Freund, der Filmvorführer, hat nun eine Pfarrei im ehemaligen Zonenrandgebiet und betreut 14 Landgemeinden. Hier ist immer noch der Rand der Welt, sagt er immer. Das nächste Kino ist 100 Kilometer weit entfernt. „Schade drum“, sagte er nur müde, als er hört, dass ich heute hier reden darf. Sag denen, es sei schon seit zehn Jahren keiner mehr vorbeigekommen mit einer Filmrolle unter dem Arm und einem Projektor im Kofferraum. Er zeige jetzt DVDs. Aber das sei nicht dasselbe. Die größten Filme werden klein bei der Privatisierung der Bilder. Hier liegt der Stachel in meiner Geschichte. Das Engagement der Kirchen ist groß, sie haben eigene Produktionsgesellschaften wie die evangelische Kirche etwa die EIKON, die erstklassige Filme, nicht nur fürs Fernsehen, produziert. Sie haben filmkritisches Organ wie epd-Film, das in diesem Jahr 25 wird, großartige internationale Jurys, wie die Ökumenische Jury auf dieser Berlinale, und Theologinnen und Theologen, die passionierte Kinogeher sind. Aber wer bringt die preisgekrönten Filme eigentlich in die norddeutschen Dörfer oder an die polnische Grenze? Das filmkulturelle Engagement darf sich nicht nur auf die großen Städte mit den coolen Kinos und den Citykirchen beschränken. Es braucht neue Phantasien und eine gehörige Portion Kreativität, damit die Kirche ihre Türen auch auf dem Land für die Künste öffnen kann. Die Geschichten, die besonders in diesem Jahr, zwanzig Jahre nach dem Mauerfall, erzählt werden, wollen auch dort gesehen und gehört werden. Und Kirchen stehen ja mehr als genug bereit.

Andreas Dresen, der Redner dieses Abends, ist so ein unerbittlicher Geschichtenerzähler, einer, der diesseits von Erinnerungspolitik und Gedenkpose Bilderwelten und Geschichten evoziert, die wach machen gegen Abziehbilder und Erinnerungskitsch. Einer, der mehr Nuancen kennt als nur Schwarz und Weiß. Ihm fallen mehr Unterscheidungen als die zwischen Opfern und Tätern, Heldinnen und Verräterinnen ein. Deshalb freue ich mich sehr auf das, was Sie, lieber Herr Dresen, uns heute Abend sagen werden.