Predigt im Rahmen der Reihe Lebensworte - Potsdamer Passionspredigten in der St. Nikolaikirche, Potsdam

Petra Bahr

Hört die Geschichte von Judas, wie sie im Matthäusevangelium überliefert ist:

„Da ging einer von den Zwölfen, mit dem Namen Judas Iskariot, hin zu den Hohepriestern und sprach: Was wollt ihr mir geben? Ich will ihn euch verraten. Und sie boten ihm dreißig Silberlinge. Und von da an suchte er eine Gelegenheit, dass er ihn verriete. Und am Abend des Tages der ungesäuerten Brote setzte er sich zu Tisch mit den Zwölfen. Und als sie aßen, sprach er: Wahrlich, ich sage euch, Einer unter euch wird mich verraten. Und sie wurden betrübt und fingen an, jeder einzeln, ihn zu fragen: Herr, bin ich`s? Er antwortete und sprach: Der die Hand mit mir in die Schüssel taucht, der wird mich verraten. Der Menschensohn geht zwar dahin, wie von ihm geschrieben steht; doch weh dem Menschen, durch den der Menschensohn verraten wird! Es wäre für diesen Menschen besser, wenn er nie geboren wäre.

Da antwortete Judas, der ihn verriet, und sprach: Bin ich’s, Rabbi? Er sprach zu ihm: Du sagst es. Da kam Jesus mit ihnen zu einem Garten, der hieß Gethsemane. Und siehe, da kam Judas, einer von den Zwölfen, und mit ihm eine große Schar mit Schwertern, von den Hohepriestern und Ältesten des Volkes. Und alsbald trat er zu Jesus und sprach: Sei gegrüßt, Rabbi! und küsste ihn. Jesus aber sprach zu ihm: Mein Freund, dazu bist du gekommen? Da traten sie heran und legten Hand an Jesus und ergriffen ihn. Am Morgen aber fassten alle Hohepriester und Ältesten des Volkes den Beschluss über Jesus, ihn zu töten, und sie banden ihn, führten ihn ab und überantworteten ihn dem Statthalter Pilatus. Als Judas, der ihn verraten hatte, sah, dass er zum Tode verurteilt war, reute es ihn, und er brachte die dreißig Silberlinge in den Tempel, ging fort und erhängte sich. Da wurde erfüllt, was gesagt ist durch den Propheten Jeremia, der da spricht: Sie haben die dreißig Silberlinge genommen, den Preis für den Verkauften.“

Was für eine furchtbare Geschichte. Es ist die Geschichte des Judas, so wie sie der Evangelist Matthäus erzählt. Eine düstere Geschichte, die einem das Blut in den Adern gefrieren lässt. Ein Polit-Thriller, eine Erzählung von Liebeshochverrat. Eine Tat, die an die Schmerzgrenze geht, grausam, kalt und voller unerklärlicher Abgründe. Und doch ist diese Geschichte vom gemeinen Verrat Jesu durch Judas Teil der biblischen Passionsgeschichte. Normalerweise versteckt sich die Geschichte des Judas hinter mehreren Episoden des Evangeliums. Wie beiläufig wird über mehrere Kapitel immer mal wieder in wenigen Sätzen seine Geschichte erzählt. Deshalb versteckt sich das ganze Ausmaß des Schreckens oft hinter anderen Teilen der Leidensgeschichte Jesu. Deshalb übersehen wir diese Geschichte gerne. Sie ist ja auch so ganz und gar unheilig. Es fehlt ihr alles, was uns an den Jüngergeschichten so fasziniert: eine ordentliche „Vorher-Nachher“- Dramatik, wie wir sie etwa von Petrus kennen. Der ist ein Großmaul und ein feiger Lügner, aber Jesus gibt ihn nicht auf und am Ende gründet die Kirche auf ihm. So eine Geschichte tut gut. Sie ist lebensnah und macht Hoffnung. Die Geschichte von Judas hinterlässt nur bitteren Beigeschmack. Nichts ist gut. Kindern will man so eine Geschichte am liebsten vorenthalten. Ich habe die Teile einfach zusammengefügt und am Stück gelesen.

Nun, mögen Sie vielleicht fragen: Was soll das denn für ein Predigttext sein? Wir können kopfschüttelnd mit dem Finger auf Judas zeigen. Wie konnte er nur? Unsere Stimme zittert vor Empörung. So eine durchtriebene Boshaftigkeit, so eine Gemeinheit. Was hat so jemand nur am Tisch des Herrn verloren? Wie ist dieser Fiesling überhaupt in die Nähe Jesu geraten? Mit unseren Reaktionen wären wir in guter Gesellschaft. Eine ganze Kirchengeschichte lang wurde Judas zum Inbegriff menschlicher Hinterhältigkeit erklärt. Da lässt sich einer seinen Liebesverrat sogar mit Geld bezahlen. Und als Inbegriff der Verlogenheit steht der Kuß. Der „Judas-Kuß“, der alles, was ein Kuß an Zärtlichkeit und Leidenschaft ausdrückt, ins Gegenteil verkehrt. Im Verrat des Judas wird mit einer Geste alles zunichte gemacht, was den christlichen Glauben auszeichnet. So ist Judas immer der Andere: ein Verbrecher, einer, der für Geld über Leichen geht, einer, der eine Freundschaft verrät, als der Freund die Solidarität am nötigsten hat. Nein, Judas ist nicht wie wir. Wir mögen ja ein paar Fehler haben, wie die anderen Jüngerinnen und Jünger. Mit unserem Glauben mag es nicht zum Besten stehen und oft stolpern wir über kleine böse Gedanken. Auch eine Gemeinheit ist vielleicht dann und wann dabei. Aber Judas, das ist nun wirklich eine andere Kragenweite an Verdorbenheit. Judas, das ist der Fremde, der, der nichts mit einem ordentlichen Christenmenschen gemein hat, einer dessen Reue zu spät kommt und dem wir, seien wir ehrlich, sein bitteres Ende klammheimlich sogar gönnen. Oder ist der Selbstmord nur das große Finale einer feigen und verlogenen Existenz?

Das Christentum hat Judas schon früh vorgeschoben, um dem Hass gegenüber den Juden mehr Gewicht zu verleihen. Judas, das sind die anderen. Der Antijudaismus schien mit dem Verweis auf den Verräter geradezu biblisch legitimiert zu sein. Der geldgierige Jünger, dunkel, von schmächtiger Gestalt und mit Hakennase im Profil, so hat er sich auf die Gemälde der großen und kleinen Maler eingeschlichen, mit verkniffenem Mund und Silberblick wurde er zum Urmodell des verräterischen Juden. Dieses Judasbild verschmilzt mit dem Bild vom Juden und wird zum tödlichen Erbe für Millionen. Schon im 5. Jahrhundert zeichnet Papst Gelasius dieses Bild von Judas vor. Er schreibt: „Judas, der Teufelsgehilfe, hat seinen verruchten Namen dem ganzen Judenvolk vererbt.“ Diese Stereotype hat bis in die Karikaturen nationalsozialistischer Hasspropaganda Karriere gemacht und dabei kaum einen Christen zum Widerspruch provoziert. Judas, das sind ja die Anderen. Im besten Fall die, die die Botschaft Jesu nicht auf sich beziehen, im schlimmsten Fall die Gottesmörderbande, der nichts heilig ist, was Christen Grund des Glaubens und der Hoffnung ist. Kein Wort darüber, dass auch Andreas und Thomas, Maria und Magdalena, Petrus und Johannes Juden gewesen sind. Heute haben wir Judas die antijudaistische Fratze mühsam vom Gesicht gerissen. Und doch hat sich kaum eine Gestalt des Neuen Testamentes in unseren Vorstellungen so verselbstständigt. Kaum eine Figur führt in unserer Phantasie so ein Eigenleben, angestachelt von Filmen, Bildern und Büchern.

Da lohnt es, sich in die Geschichte des Judas zu vertiefen, wie die Bibel sie erzählt. Es könnte ja sein, dass unsere Empörung nur ein geschicktes Ablenkungsmanöver ist. Mit unserem Unverständnis und unserer ganzen schönen christlichen Moral halten wir uns den Zwölften der Jünger vielleicht nur besonders geschickt vom Leib. Wir wollen einfach nichts mit ihm zu tun haben. Vor allem aber wollen wir nicht, dass er etwas mit uns zu tun hat.

Dietrich Bonhoeffer, ausgerechnet dieser mutige Mensch, der Hitler die Stirn geboten hat, anstatt seine christlichen Überzeugungen zu verraten, hat Judas ganz nah an sich herankommen lassen. Auch er schüttelt den Kopf bei der Lektüre der Judasgeschichte. Auch er reagiert mit Unverständnis. Doch seinem Unverständnis fehlt jede Überheblichkeit. Er legt den Finger auf die entscheidende Pointe dieser düsteren Erzählung. In der Karwoche 1944 liest er in der Dunkelheit seiner Gefängniszelle die Passionsgeschichte des Matthäusevangeliums. Er bleibt gleich an der ersten Feststellung des Evangelisten über Judas hängen. Der Abgrund, der am Ende dieses lapidaren Satzes lauert, trifft ihn bis ins Mark. „Da kam Judas, einer von den Zwölfen…“ Bonhoeffer schreibt: „Ob wir etwas spüren von dem Grauen, mit dem der Evangelist dieses kleine Satzteilchen geschrieben hat? Judas, einer von den Zwölfen. Was war hier mehr zu sagen? Das heißt doch, es war unmöglich, dass dies geschah, es war ganz unmöglich und es geschah doch. Nein, hier ist nichts mehr zu erklären und verstehen.“

Judas, der Verräter, ist keiner von den Anderen. Er kommt aus dem engsten Freundeskreis Jesu. Er hat mit ihm gelebt, er hat neben ihm geschlafen und seinen Worten gelauscht, er hat ihm Fragen gestellt und ihn mit Kindern lachen sehen und mit ihm hundertmal am Morgen und am Abend das Brot gebrochen. Judas war ganz nah dran am Sohn Gottes. Er kannte seine Botschaft auswendig. Das macht seinen Verrat so ungeheuerlich. Der Verrat kommt nicht von außen, er kommt von innen. Das ist der Schrecken, der Bonhoeffer so mitnimmt. Der Verrat kommt von innen. Viele Theologen haben sich an dieser Ungeheuerlichkeit die Zähne ausgebissen. Manche haben Judas sogar rehabilitiert. Irgendwer musste Jesus ja verraten, damit das Heilswerk am Kreuz geschehen konnte, argumentieren sie. Judas wandelt sich so unter der Hand vom Verräter zum Chefagenten in der Passionsgeschichte Gottes mit den Menschen.

Die Logik ist bestechend: wenn Judas Gottes williges Werkzeug war, dann ist er ja eigentlich unschuldig. Ohne Judas keine Auslieferung an die Obrigkeit, kein Kreuz – also auch keine Auferweckung. Diese Rechnung geht auf den ersten Blick glatt auf. Hat nicht das Matthäusevangelium selbst den Verrat des Judas mit einem Wort aus dem Propheten Jeremia erklärt und so als Teil eines göttlichen Plans verstanden? Böse Zungen wenden diese Logik sogar gegen Gott selbst. Dann geht also Gott selbst über Leichen, um sein Heilswerk zu vollbringen? Ist Judas neben Jesus gar das zweite Opfer? Das ist eine zynische Lesart, die ihrerseits nicht ohne Boshaftigkeit ist. Und doch hat auch die Theologie zu dieser Solidaritätsaktion mit Judas beigetragen. Denn hier verkommt nicht nur Judas zur antijudaistischen Fratze, hier verkommt auch Gott zu einem zynischen Gott, für den die Freiheit des Menschen nur eine Scheinfreiheit ist.

So ein Judas braucht in der Tat kein Gewissen. Denn was hätte er schon mit sich selbst erörtern können? Seine Gewissenlosigkeit wäre dann in der Tat Programm. Gottes Passionsgeschichte mit den Menschen und die Freiheit des Gewissens sind aber zwei Grundthemen der Bibel, die nie so aufgelöst werden, dass Menschen zu Marionetten ihres Schöpfers werden. Bonhoeffer graut es deshalb nicht davor, dass Judas zum Opfer von Gottes Kalkül geworden ist. Ihm graut es davor, dass Menschen nicht davor gefeit sind, die Wahl zu treffen, die Judas getroffen hat. In sich selbst die Möglichkeit zu entdecken, Judas ähnlich zu sein, das erschüttert. Man mag über die Motive des Judas streiten. Vielleicht waren die gar nicht so schlecht. Vielleicht wollte er, dass die Situation eskaliert und Jesus endlich zeigt, aus welcher Macht er handelt. Blanker Hass gegenüber der römischen Besatzungsmacht mögen seine Sehnsucht nach einem politischen Messias blind gemacht haben für die Art der Erlösung, die Jesus versprach.

Vielleicht wollte er seinerseits der Sache Jesu ein wenig Dampf machen. Vielleicht wollte er Jesus provozieren, seine defensive Haltung aufzugeben und endlich mal richtig aus der Haut zu fahren angesichts des Unrechts an seinem Volk. Es wäre nicht der letzte Liebesverrat, der für eine gute Idee oder für eine große Weltanschauung begangen worden wäre. Erst als Judas sieht, was er angerichtet hat, sieht er die Folgen seines falschen Kusses. Er, einer von den Zwölfen. Schuld am Tod des verehrten Meisters. Wie groß muss das Ausmaß der Verzweiflung gewesen sein, dass er keinen anderen Ausweg sah, als sich selbst das Leben zu nehmen – eine Todsünde für einen gläubigen Juden.

Mir geht es so wie Bonhoeffer. Ich stehe voller Schrecken vor dieser Erzählung. Hier kommt jede theologische Erklärung ans Ende. Die wohlfeilen Worte bleiben im Halse stecken. Judas, einer von den Zwölfen, einer, der Teil an der großen Hoffnung für die Welt hatte, endet buchstäblich trostlos. Ist dieser Judas mir wirklich so fremd? Oder blitzt nicht manchmal, in schwarzen Augenblicken, ein Zweifel auf, der dem Verrat nicht unähnlich ist? Die anderen Jünger sind sich jedenfalls nicht so sicher. Als Jesus bei dem letzten Abendessen mit seinen Jüngern unversehens den kommenden Verrat zum Thema macht, fragen sie alle erschrocken: Bin ich’s? Johann Sebastian Bach, der den Ehrentitel des fünften Evangelisten trägt, lässt an dieser Stelle der Matthäuspassion die Jünger hektisch durcheinander singen. „Herr, bin ich’s?“.

Als Antwort des nachdenklichen Gewissens folgt die Choralstrophe von Paul Gerhardt: „Ich bin’s, ich sollte büßen.“ Da wo Bach eine Choralstrophe einfügt, kommt die Gemeinde ins Spiel. Wir kommen ins Spiel. Wir sind’s, wir sollten büßen. Wer diese Strophen singt, dem fährt ein Schauer über den Rücken. Und Judas sitzt plötzlich neben uns in der Kirchenbank. Und er nimmt unseren Platz beim Abendmahl ein. Wir treffen ihn im Gemeindekirchenrat. Und sehen ihn im Spiegel, wenn wir uns feierlich für den Passionsgottesdienst herausputzen. Helmut Thielecke hat einmal gesagt: „Das Neue Testament ist das Buch der Sorge um Judas von Ischariot. Es ist gute Botschaft für Judas. Jesus ist am Kreuz nicht wegen Judas gestorben, er ist für Judas gestorben. Er ist für die abgründigste Tat des Menschen gestorben, für den schlimmsten Verrat, die gemeinste Geste, die größte Gier. Er ist für uns gestorben. So endet die Geschichte Judas nicht mit seinem Tod. Sie endet mit Jesu Worten am Kreuz: ‚Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.’“