„Die Kirche des Wortes und die Macht der Bilder“ - Eröffnungsvortrag der Vortragsreihe „Begründete Freiheit“ zum 75. Gedenkjahr der Barmer Theologischen Erklärung, Berliner Dom

Petra Bahr

Die Kirche des Wortes und die Macht der Bilder, so lautet das Thema, das Sie mir heute gestellt haben auf der Suche nach einer Auslegung der ersten großen These der Barmer Theologischen Erklärung. Diese Themenstellung drängt sich auf den ersten Blick nicht auf. Sie ist durch die meterlange Literatur zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte nicht einmal angedeutet und ist auch bei der ersten Lektüre der gewichtigen Worte nicht gerade zwingend. Nimmt man die Systematik und innere Logik der Erklärung ernst, so ist die erste These so etwas wie das Portal zu den nächsten Thesen. Hier wird das solus christus in ungeheuerer Dichte entfaltet und damit der Grund, auf dem die Kirche steht, unmissverständlich und mit starken Worten beschworen. Zuerst mit zwei Bibelversen aus dem Johannesevangelium, die pars pro toto für die an die Schrift gewiesene Kirche stehen, dann mit dem Hauptsatz mit der anschließenden Verwerfung. Einige von ihnen kennen diese Sätze vermutlich sogar auswendig:

„Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben. Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen.“

Viele große Themen sind in den letzten Jahrzehnten entlang dieser Sätze mit ihrer Veröffentlichung diskutiert worden: die Rolle der natürlichen Theologie, die Frage von Gesetz und Evangelium, die Frage konfessioneller Lesarten, die Versuche der Vereinnahmung oder Abstoßung durch theologische Schulen im 20. Jahrhundert. Viel Polemik, manchmal auch böse Worte, harte Kontroversen, nicht zuletzt um den Status der Barmer Theologischen Erklärung als Lehrbekenntnis, eine Debatte, die ihren Ausgang an der ersten These nimmt, dazu selbstredend brillante theologische Grundlagentexte und brisante kirchenpolitische Manifeste. Die erste These der Barmer Theologischen Erklärung mag zwar unauffälliger und weniger politisierbar sein, doch im Rückblick war sie meines Erachtens mindestens genauso anregend wie die fünfte These, in der das evangelische Verhältnis von Staat und Kirche ausgewogen wird. Nur von Bilderfragen keine Spur. Sie haben mich bei meiner Vorbereitung deshalb ziemlich in Verlegenheit gebracht, stand ich in den letzten Tagen suchend vor der Bibliothek der Barmen-Literatur, ohne auch nur einen winzigen Hinweis zum Thema zu finden. Da ich einmal voraussetze, dass die Themenstellung nicht aus dem äußerlichen Grund erfolgte, dass die Referentin zufällig Kulturbeauftragte ist, habe ich aus der Not eine Herausforderung gemacht. Ich hoffe, dass ich nicht an Ihren Erwartungen an den heutigen Abend vorbeirede.

Seit ich mich mit den Ereignissen rund um die Machtergreifung der Nationalsozialisten und die Folgen für die Kirche befasse, beschäftigt mich immer wieder eine Frage, die zu den Vorfragen von Barmen gehört. Wie konnten evangelische Christinnen und Christen sich mit so ungetrübter Begeisterung den Ideen eines menschenverachtenden Regimes der Nationalsozialisten verschreiben? War es nur die Anpassung an den Zeitgeist oder gab es mächtigere Attraktoren, die die abstruse Theologie der Deutschen Christen anregten? Ihre Sehnsucht nach dem „artgerechten Christentum“ etwa, die die „zerbrochenen Knechtsseelen“ durch den stolzen Menschen ersetzt, die „Untüchtigen und Minderwertigen“ aus dem geheiligten Volkskörper ausgrenzt und im Ordinationsgelübde ohne rot zu werden Adolf Hitler Treue und Gehorsam verspricht? Welche Psychogramme von Geistlichen mit Doktortitel muss ich mir vorstellen, um zu erklären, wie die „Innere Mission als Tatchristentum der Reinen und Germanischen“ begriffen wird, die sich an der Säuberung des Volkskörpers verausgabt? Die Mentalitätsgeschichte des protestantischen Bürgertums, die obrigkeitsstaatliche Gesinnung, der antidemokratische Geist und der latente Antijudaismus erklären viel, aber nicht genug, denn diese Beschreibung passt, horribile dictu, auch auf viele Synodale von Barmen. Also unvoreingenommener gefragt: welche Hoffnungen, welche Erwartungen haben evangelische Geistliche an den Heilsbringer und Führer Adolf Hitler und die nationalsozialistische Weltanschauung gehabt? Aus welcher Krise wollten sie entkommen, um sich an einen heidnischen Jesus zu binden, der von allen jüdischen Wurzeln losgelöst ist. Nebenbei gefragt: Welche Seite der Bibel konnte denn diesen Wahn ohne Schwärzung überstehen? Die Krisenrhetorik der Deutschen Christen, wie man sie aus einschlägigen zeitgenössischen Texten entnehmen kann, jagt mir heute deshalb einen Schauer über den Rücken, weil sie gar nicht nur wirr und fehlgeleitet klingt: Die Motive sind sogar nachvollziehbar. Da ist die Rede von einer erschlafften, wirkungslos gewordenen Kirche, die die Jugend nicht mehr erreicht, weil sie sich zu viel mit sich selbst beschäftigt. Da klagen Geistliche über verknöcherte Theologien und blutleere Predigten, leere Kirchen und müde Funktionäre. Da werden in Papieren und auf Pastoralkollegen Reformvorschläge für eine missionarischere Kirche diskutiert.

Aber das „lebendige germanische Tatchristentum“ als Antwort auf eine orientierungslos gewordene Kirche, die ihre Rolle in der modernen Gesellschaft nicht gefunden hat und die sich schwer tut mit den politischen Verhältnissen von Weimar? Wer die Frage nach der Faszination des Nationalsozialismus für viele Deutsche, und eben auch evangelische Christinnen und Christen stellt, landet schnell bei den Bildern. Die Forschung der letzten Jahre zur Entwicklung und Verbreitung der nationalsozialistischen Idee konnte zeigen, wie wenig der Erfolg der Nationalsozialisten mit politischer Argumentation, mit schlüssigen politischen Antworten oder gar stimmigen Gesellschaftsmodellen zu tun hatte. Der Erfolg des Nationalsozialismus ist der Erfolg seiner Bilder und die Machtergreifung nur über die Machtergreifung der Herzen möglich gewesen. Natürlich spielen politische und ökonomische Enttäuschungen auch eine Rolle, aber die Bindung der Affekte bis zur völligen Selbstpreisgabe an den Nationalsozialismus ist nur über die Kraft seiner Inszenierungen möglich gewesen, einer Inszenierung, die mit den großen Feiern und Parteitagen beginnt und weit bis in den Alltag, bis ans Lagerfeuer der Hitler-Jugend, reichte. Die Propaganda der Nazis folgte dabei ausgeklügelten Regeln und bedient sich zum ersten Mal in der Geschichte erfolgreich der Massenmedien und ihrer professionellen Kampagnenleiter. Volksempfänger und Kino werden flächendeckend als Medien eingesetzt, die die Menschen erreichen, indem sie ihre Einbildungskraft stimulieren und starke Bilder provozieren. Bilder sind grandiose Informanten. Sie kümmern sich kaum um die Schlüssigkeit der Inhalte, weil in ihnen auch Unlogisches gleichzeitig Platz hat, sie zeigen viel auf ein Mal, bieten hinreichenden Raum für die eigene Aneignung. Die großen Aufmärsche und Inszenierungen, die großen politischen Feiern der Nazis sind von Anfang an technisch gesehen grandiose Spektakel, die aufs Erhabene gehen und sich nicht zuletzt der kulturellen Ressource kirchlicher Liturgien bedienen. Mit besonderem Nachdruck hat Joachim C. Fest in seiner Hitler-Biographie darauf hingewiesen, dass Hitler, der gescheiterte Künstler, ein großes Regietalent hatte. Die Filme von Leni Riefenstahl zeugen noch heute von der ästhetischen Raffinesse, mit der Menschen sich sehenden Auges in die Unfreiheit geben, um ihrem Führer ihr Leben mit Haut und Haaren zu verschreiben, weil sie mit Macht in die Szenen involviert werden, die sie sehen. Germanische Mythen und christliche Stoffe, Retterfiguren und Heldenleben, das Versprechen von Zugehörigkeit, Heimat und Orientierung, die Versatzstücke dieser politisch-ästhetischen Bilderwelt rückten ganz nah an die Religion, weil der Nationalsozialismus sich einer desillusionierten Gesellschaft als Heilsbotschaft andient. Mit großem Erfolg.

Auch die Ausgrenzung und der sich allmählich ins Offene wagende Antisemitismus wäre ohne Inszenierung des „bösen Juden“ kaum denkbar gewesen. Die Juden im Nachbarhaus waren ja freundliche Leute, man begegnete sich beim Bäcker, die Kinder spielten miteinander. Antijudaistische Ressentiments, auch die in der Kirche, mussten durch Karikaturen, Filme und absichtlich gestreute Gerüchte mit Stereotypen angeheizt werden, damit aus salonfähigen Vorbehalten Einstellungen würden, die zur Bewältigung des Genozid nötig waren. Die nationalsozialistischen Bilderstrategen investierten viel in Verschwörungstheorien. Das Böse ist erfindungsreich, hat Hannah Arendt einmal gesagt. Die Strategien der nationalsozialistischen Medienmacht sind noch im Rückblick raffiniert: da wird das christliche Erbe des Opfertods und des Martyriums rücksichtslos umgedeutet zum Heldentod fürs Vaterland, aber eben so, dass die Umdeutung dezent und unauffällig funktioniert. Die Emotionalisierung der Bilder und Spektakel durch Musik führt dazu, dass Menschen sich auch an Inhalte binden, die sie bei klarem Verstand ablehnen würden. Es ist deshalb nicht übertrieben, wenn die Historikerin Sabine Behrenbeck Goebbels und seinen Apparat als Mythenmaschine bezeichnet. Die Mythisierung der Politik ist an allen Ecken und Enden mit Händen zu greifen. Da wird Geschichte neu geschrieben wie die Bibel neu geschrieben werden soll. Mythen sind so elementare Erzählungen über menschliche Hoffnungen und menschliches Scheitern, dass sie zumindest an ihren äußersten Zipfeln in die Religion hereinragen, weil sie zur Existenzbewältigung beitragen. Wenn etwa aus den Zeitläuften Schicksal wird, wird aus der Geschichte schnell eine Art Heilsgeschichte.

Die meisten Bilder, mit denen der Nationalsozialismus Menschen enthusiasmiert, stehen, zumindest in den ersten Jahren bis zum Überfall auf Polen und den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, unter dem Zeichen des emphatischen Neubeginns. An der Rhetorik der „Wiedergeburt“ lässt sich dieses Pathos des radikal Neuen zeigen. Später werden diese Bilder durch Inszenierungen des erhabenen Todes und der großen Apokalypse ersetzt. Die künstlerisch ausgerüstete Demagogie, der „politisierte Karfreitagszauber“, der mit Musik von Richard Wagner „für den Tod Reklame“ macht, die Vorliebe für nächtliche Kulissen, Weltenbrände und Untergänge hat in den späten dreißiger Jahren viele, auch viele Christinnen und Christen aus dem Milieu der Deutschen Christen, stutzig gemacht. Zu offensichtlich wurde hier die fatale Verbindung aus Opferkult und Todessehnsucht. Die frühen dreißiger Jahre lebten jedoch von der Inszenierung einer grandiosen Hoffnung, die sich für nicht wenige scheinbar nahtlos mit der christlichen Hoffnung auf das kommende Reich zusammenfügte. Schon der geschickte Einsatz verwechselungsanfälliger Vokabeln verweist auf die Dramaturgie der schleichenden Umbesetzung christlicher Inhalte durch die nationalsozialistische Weltanschauung. Saul Friedländer hat in einer kleinen Studie diese unheimliche Faszination der Bilder unter den Titel „Kitsch und Tod“ gestellt. Mysterienspiele und eine Mythisierung, also ins Ewig Gültige gehobene Politik, die Sehnsucht nach dem Aufgehobensein in einer Gemeinschaft und die Hoffnung auf die eine Stimme, das eine Wort, das Erlösung verspricht, hat auch evangelische Christinnen und Christen infiziert, weil sie einer Verwechselung aufgesessen sind.

Die andere Geschichte der Bilder, die sich unweigerlich mit den Bilderwelten der Nationalsozialisten verbindet, ist natürlich die Vernichtung und das Verbot kritischer Bilderwelten. Es kommt schließlich nicht von ungefähr, dass Künstler, Filmemacher und Theaterleute die ersten sind, die die Repressionen der Diktatur zu spüren kriegen. Die Bilderwelten der Nationalsozialisten erheben einen totalen Anspruch auf die Wirklichkeit. Sie dulden keine Gegenbilder und keine alternativen Interpretationen der Welt. Der Gleichschaltung der Organisationen im Dritten Reich folgt deshalb auch die Gleichschaltung der Bilder. Wer die Vorstellungswelt der Menschen besetzt hat, hat sie im Griff. Diese einfache Parole hat Goebbels genutzt. Intellektuelle und Wissenschaftler haben ihm dafür kräftig zugearbeitet.

Vor dem Hintergrund der Bildermacht des Nationalsozialismus erhebt die erste Barmer Theologische These einen bilderkritischen, ja ikonoklastischen Einspruch. Die theologische Frage nach den Bildern muss also gar nicht künstlich an sie herangetragen werden, sie ist immer schon im Spiel. Die „Ereignisse, Mächte und Gestalten“, die in ihrem Anspruch auf die Kirche verworfen werden, lassen sich also durchaus als die religionsgeladenen, emotionalisierenden Inszenierungen einer Hoffnung identifizieren, in der für die Deutsch-Christliche Bewegung Gott selbst sich offenbarte. Die ins Bild gesetzte politische Theologie des Nationalsozialismus wird in Barmen ihrem Anspruch nach entlarvt als Konkurrenz zum einen Wort Gottes. Die brutale Manipulation der Gefühle und der inneren Bilder vom anderen und sich selbst ist in der Regel gefährlicher als ein absurdes politisches Programm. Das ahnten zumindest einige Synodale, die sich in Wuppertal-Barmen versammelten, weil sie ahnten, dass der Nationalsozialismus selbst „das eine Wort und die Offenbarung“ sein wollte. Deshalb musste ein prima facie rein innerkirchlicher Text, der als Selbstkorrektur und Selbstverpflichtung gemeint war, auch eminent politisch wirken. Mit der erneuten Rückbindung an das „eine Wort Gottes“, neben dem kein anderes Wort Anspruch auf die Machtergreifung der Herzen hat, ist dem Offenbarungsanspruch des Nationalsozialismus und seinen erhabenen Inszenierungen zumindest indirekt, nämlich in der Form, wie die Deutschen Christen sich auf ihn einließen, eine Absage erteilt worden. Dazu muss man sich immer vor Augen führen, dass der Nationalsozialismus eben mehr als ein politisches System sein wollte. Gerade das fanden ja auch Christinnen und Christen so attraktiv. Da sollte der ausdifferenzierten, kalten Moderne eine Welt entgegengesetzt werden, die Orientierung, ja Trost im Leben und Sterben versprach. Der ganze Mensch geriet wieder in den Blick, nachdem er in den modernen Teilwelten auseinandergerissen zu werden drohte: hier der Christ, dort der Bürger, dort der Handeltreibende – das machte Angst. Erst wenn die nationalsozialistische Weltanschauung in dieser Reichweite ernst genommen wird, kann ermessen werden, welche inneren Konflikte die durchstanden, die, wie neben den Protagonisten von Barmen auch Dietrich Bonhoeffer, dieses Bildprogramm durchschauten.

Die historisch präzisere Erforschung der Ereignisse rund um die Synode von Barmen vor 75 Jahren zeigte, dass die Synodalen in vielen Ängsten und Hoffnungen den Deutschen Christen nahe waren. Die wenigsten von ihnen wurden Widerstandskämpfer. Eher deutschnational, ja sogar mit Sympathien für das nationalsozialistische Experiment haben sie sich versammelt, um gegen die theologischen Trends der deutschchristlich regierten Reichskirche Einspruch zu erheben. Doch die theologische Sensibilität für die Macht der Bilder und Inszenierungen hat, das zeigen auch Briefe und kleinere Texte, die berechtigte Vermutung aufkommen lassen, das es hier nicht nur um Fragen der Anpassung an die politische Realität bei gleichzeitigem Eigenrecht kirchlicher Angelegenheiten ging. Mit der Berufung auf das „eine Wort Gottes“ ging es auch um die Abwehr der mächtigen Erlösungsbilder und Heilshoffnungen, die mit Fackeln, liturgischen Feiern und starken Inszenierungen in die Herzen der Menschen gepflanzt wurden.

Nun läge es natürlich nahe, auch für die aktuelle Diskussion das eine Wort gegen die Macht der Bilder so auszuspielen, dass der Ausweg in einer bilderfeindlichen Wort-Theologie gesucht würde. Schließlich feiern wir ja das Calvin-Jahr und die reformierte Handschrift von Barmen ist hinlänglich bekannt. Ich möchte aus der ikonoklastischen, also, wenn man will, bilderstürmerischen Haltung der ersten Barmer Theologischen These, wie ich sie gerade entfaltet habe, einen Aspekt hervorheben, die dem „einen Wort Gottes“ theologisch, wie ich glaube, ernsthafter seine Referenz erweist, als die vordergründige kirchliche Bilderskepsis es tut. In der Bildkritik von Barmen, die in der Berufung auf das „eine Wort“ steckt, geht es nämlich mitnichten um den Kontrast der beiden Leitmedien Sprache und Bild. Dieses Missverständnis kann nur aufkommen, wenn man das, was mit dem „einen Wort“ theologisch gemeint ist, vergisst und bei der schlichten Opposition hängen bleibt. Dabei muss jede Barmen-Auslegung zuerst den haarigen Weg aus der radikalen Ausnahmesituation einer Kirche unter einem totalitären Regime mit religiösen Machtansprüchen zu einer kirchlichen Normalsituation in einem säkularen Staat mit großer Offenheit für die Religion seiner Bürger und Bürgerinnen weisen. Natürlich lässt sich eine kulturkritische Gegenwartsanalyse ohne großen Aufwand ins Katastrophische schwarz reden, so dass die Analogien sich leichter einstellen. Stoff genug zum Welteindunkeln gäbe es ja. Aus der ehemaligen Bankenkrise ist längst eine Orientierungskrise großen Ausmaßes geworden, die manch einer mit den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts in Verbindung bringt. Ein neuer weltanschaulicher Atheismus verlangt in letzter Zeit den Kirchen immer größere Anstrengungen ab, die Rolle der Religion in der Gesellschaft zu verteidigen und vor großen Gerichten werden mit unklarem Ausgang Fragen verhandelt, die vor einigen Jahren noch fraglos schienen wie der Sonntag oder der Religionsunterricht.

Mir wird bei diesen Analogien immer unbehaglich, weil man zu schnell dabei ist, die „fremden Mächte und Gewalten“ mit diesem und jenem zu identifizieren. Schnell gerät deshalb aus dem Blick, dass in der ersten These von diesen fremden Mächten und Gewalten nur dann die Rede ist, wenn diese beanspruchen, als Gottes Wahrheit und Offenbarung aufzutreten. Diesen Unterscheidungssinn dürfen wir meines Erachtens auch in der kirchlichen Gesellschafts- und Kulturkritik nicht aufgeben. Wo gibt es Entwicklungen, in denen Organisationen, Medien, Systeme oder Teilbereiche unserer Gesellschaft den Zugriff auf unser ganzes Leben verlangen und auch noch Trost im Sterben versprechen? Viel ist in diesen Tagen auf die entfesselte Ökonomie verwiesen worden. Deren Gelingensbilder prägen in der Tat die Träume vom guten Leben mehr, als wir Produkte kaufen können. Die Inszenierung und die Macht und Perfektion, mit der Waren als erlebnisintensive Events verkauft werden, in Gebäuden, die Konzerne selbst „Konsumtempel“ nennen, wo Güter vor allem Emotionen und Identität vermitteln oder gar Sinn geben, ist in der Tat auch ein Thema handfester Religionskritik. Auch die Visualisierung unserer Kommunikation, die Bilderfluten, die schon auf Kinder einstürzen, eine immer stärker im Alltag sich breitmachende virtuelle Welt des Internet, das keine Grenzen mehr kennt, schon gar keine Grenzen des Privaten, ließe sich nennen, wenn wir nach „Mächten und Gewalten“ fragen. Auch hier sind oft nicht die Tatbestände und Fakten bedrohlich, sondern die Bilder vom guten, ja perfekten Leben in ständiger Gegenwart, ständiger Erreichbarkeit und absoluter Transparenz, die religionsähnliche Züge annehmen und so bisweilen in Konkurrenz treten zum einen „Wort Gottes“, das Leben schafft und erhält. Doch anders als die Mythenmaschine eines Goebbels, eines Rosenberg oder einer Leni Riefenstahl leiden wir insgesamt meiner Einschätzung nach eher an einem Zuviel konkurrierender Bilder, die alle etwas anderes erzählen. Welchem Bild soll man schon glauben? Nicht Bilderabsolutismus sondern der Relativismus der Gelingensbilder ist die Krankheit der Gegenwart. Die Bildergläubigkeit unserer Zeit hat eine tiefliegende Skepsis gegenüber den Bildern längst an ihrer Seite. Wer über Fotoshop dem eigenen Ehemann die Runzeln aus dem Gesicht retuschieren kann, glaubt den Bildern nicht mehr alles. Die vielen Bilder dementieren sich tendenziell selbst und verkommen in der Inflation eher zur Bedeutungslosigkeit als zu totalitären Bildentwürfen. Trotzdem gibt es auch hier Tendenzen neuer mythischer Aufladung, vor allem, wenn Bilderwelten sich von der Realität verselbstständigen und zu einem dauerhaften Fluchtort vor dem Leben werden. Bildersüchtige Jugendliche sind in ihren virtuellen Bildwelten genauso gefangen wie ältere Menschen, deren Tageslauf durch Fernsehserien strukturiert wird. Es gibt, wenn man so will, individuelle Totalisierungen, Wohnzimmerdiktaturen, wo die Herrscher anonym bleiben und doch große Unfreiheiten erzeugen. Unsere Gegenwart braucht deshalb Menschen mit theologischer Urteilskraft, die vor allem eines können: genau hinsehen, unterscheiden und differenzierte Antworten geben, wenn es um die Macht und Ohnmacht der Bilder geht. Wo gehen bildgewaltige Inszenierungen mit der Politik, der Wirtschaft, der Wissenschaft oder den Künsten unheimliche Allianzen ein, in denen die Möglichkeit der Distanzierung nicht mehr besteht? Diese neuen Formen der Unfreiheit mit bisweilen unverhohlen religiösen Ansprüchen sind nicht leicht auszumachen.

Theologische Urteilskraft, die in den bilderkritischen und mythenkritischen Aspekten von Barmen eine Quelle hat, verlangt deshalb einen hohen Grad an kultureller Wahrnehmungsbereitschaft. Bilderkritische Schnellschüsse sind billig zu haben und medial gut zu transportieren. Empörung und Erregung lassen sich so gut kanalisieren. Die Referenz gegenüber dem einen Wort Gottes stellt sich so aber nicht automatisch ein. Der Verweis auf die Kunst als Gegenmacht bedeutungsloser Bilder, übrigens auch literarischer und inszenatorischer Bilder, mag ein eleganter Ausweg sein, lenkt aber vom Thema ab und schafft neue Probleme. Denn wann greift ein Bild oder eine Bildbeschreibung zentrale Aussagen und Symbole bösartig an und wann stellen Künstler nur provokante Fragen, die die Kirche des Wortes dazu bringt, ihre eigenen Klischees zu hinterfragen? Wann ist der Verdacht der Blasphemie berechtigt und wann nur die Kirche in Erklärungsnotstand, weil sie zu lange davon ausging, dass die zentralen Themen des christlichen Glaubens sich von selbst erklären? Das Gerücht vom sinnenfeindlichen Protestantismus verflüchtigt sich hoffentlich allmählich, ebenso wie die überzogenen Erwartungen an die Künstler, die heilsamen Provokationen und Nachdenklichkeiten zu entzünden, zu denen sich Geistliche nicht im Stande sehen. Zur Freiheit der Künste gehört es nämlich auch, ihnen nicht unsere geistlichen Defizite ausgleichend aufzubürden.

Meine große Frage an die Kirche der Freiheit in der Auseinandersetzung mit der ersten These der Barmer Theologischen Erklärung ist so zum Schluss eine ziemlich schlichte. Sie steht sozusagen mit dem Rücken zu den Bildern. Wie und wo kommt das „eine Wort“ eigentlich zu Gehör, als Trost und als Forderung, als heilsamer Hinweis und als ergreifender Liebesschwur, als neuer Gedanke oder als vergessene Idee? Schon die Rede vom Wort Gottes hat es ja in sich. Schließlich ist es nicht identisch mit dem Dauergerede, auch nicht mit den vielen Worten, die durch Kirchräume flattern. Es ist aber auch nicht jenseits der Worte zu finden, in einem geheimnisvollen Idiom, das sich nur an besonders Eingeweihte richtet. Das hat schon Luther gegen die Schwärmer eingewandt. Außerdem klingt der Verweis auf das eine Wort harmloser, als er tatsächlich ist, wenn denn noch gilt, dass das Wort „tut, was es sagt“. Die Sehnsucht nach dem „einen Wort“ ist auch heute groß. Zauberwort, Machtwort, im Geschwätz, im Dauergeraune der Worte warten Menschen auf das „Wort, das Leben schafft“, das Uneindeutiges eindeutig macht und Festgefahrenes in Bewegung versetzt. „Sprich nur ein Wort, und ich werde gesund“. Ein Wort der Orientierung, ein Wort, das zu fest Bestimmtes wieder unbestimmbarer macht, um neu Luft holen zu können, ein Wort, das zu viel Vagheit zu neuer Bestimmung überführt, ein Wort, das die Welt verändert oder auch nur einen winzig kleinen Teil des eigenen Herzens.

Wir sollten uns im Horizont von Barmen daran erinnern, dass das Wort nicht die äußere Hülle, das Transportmittel für unabhängig von ihm existierende, ewige Wahrheiten ist. „Wort“ meint deshalb auch nicht zwangsläufig gesprochenes Wort. Martin Luther spricht immer wieder vom „mündlich Wort und Zeichen“. „Worte“ in diesem Sinne können deshalb genauso gut Bilder, Musik, Architektur oder Filme, ein scharfsinniger Essay oder eine heiße Debatte sein, wenn in diesen Zeichen Gottes Wort als Wahrheit zur Geltung kommt. Das Bild ist also gut reformatorisch gar kein Kontrastbegriff zum Wort. Es ist vielmehr eine Möglichkeit seiner Realisierung. Zur reformatorischen Einsicht, die in Barmen so stark wie elementar wieder aufgenommen wird, gehört ja die Wiederentdeckung, dass Gott selbst in Jesus Christus sein Wort an uns ist. Ich wage diesen Exkurs, weil ich glaube, dass es sich lohnt, die ganze Dimension der Rede vom „einen Wort“ auch über gewisse Verengungen der sogenannten Wort-Gottes-Theologie hinaus wiederzuentdecken. Luther kann in einer Weihnachtspredigt von 1532 zum Johannesprolog so weit gehen, dass er sich Gott beim Selbstgespräch vor dem Spiegel vorstellt. So essenziell, so grundlegend ist die Rede vom Wort. Es gibt keine grundlegendere. Sogar Gottes Vergegenwärtigung, der Heilige Geist, ist an das Wort gebunden. Er spricht nicht „sine scripturis“ (WA 14, 684,17). Deshalb verbirgt sich in diesem „einen Wort“ die ganze menschenzugewandte Seite Gottes. Nun entzieht sich dieses „eine Wort“ als verbum externum konsequent der Verfügungsgewalt der Kirche. Es taugt nicht zum Propagandamaterial und kann auch hinter grandiosen Bildern verstummen, wie es umgekehrt unversehens an marginalen Orten Kraft entfaltet. Wenn etwa im Sommer vor zwanzig Jahren schon der biblische Hinweis auf vierzig Jahre Wüstenwanderung zu einem ungeheuerlich gegenwärtigen Wort wird, dann ahnen wir, dass Gottes Wort sich nicht nur an die großen und gewichtigen Worte bindet, die jeder auswendig kennt. Es ist unter Umständen in Nebensätzen zuhause oder in der achten Strophe eines Kirchenliedes. (Wann haben Sie zuletzt acht Strophen gesungen?)

Wenn wir uns also auch heute auf die Barmer Theologische Erklärung als eines Bekenntnisses unserer Kirche beziehen, müssen wir uns fragen lassen, wo das Wort Raum entfalten kann, wie es zu Gehör kommt, wenn es mit leiser Stimme spricht, wo es die Zeit findet, die es braucht, um sich durchzusetzen. Viel spricht dafür, dass der Lärm und das Dauergerede und die hohen Zeittakte, auch in religiösen Angelegenheiten, das „eine Wort“ eher verstellen, nicht auf monströs weltanschauliche, sondern auf banal alltägliche Weise. Wir brauchen deshalb meines Erachtens eine neue Kultur der Aufmerksamkeit in der Kirche, in der auch die Grenzen der Eventisierbarkeit reflektiert werden. Leere Kirchen mitten im Lärm der großen Stadt sind da unter Umständen eine kräftigere Inszenierung als die großartigste Veranstaltung. Gleichzeitig wäre es zu einfach, es nun dem Geist zu überlassen, der eh weht, wo er will und dann das eine Wort in den vielen Wörtern entfaltet, wenn´s gut läuft, anstatt sich Mühe zu geben und neue Ideen zu entwickeln, wie das Wort Gottes zu den Menschen kommt. Die Kirche als Möglichkeitsraum einzurichten, in dem Gott sich Gehör verschafft, in denen Menschen angerührt werden, Perspektiven gewinnen und anders leben, ist deshalb eine große Herausforderung, die beides braucht: einen professionellen Umgang mit Medien im weitesten Sinne, denn auch die Sprache ist ein Medium, wie auch einen theologischen Sinn für die Grenzen medialer Inszenierungen. Zur Professionalität gehört auch die Frage des rechten Maßes, des Wechselspiels der Intensivierung von Eindrücken und der Eindrucksdiät, wo einmal nichts passiert und man so ganz auf sich und seine Gedanken zurückgeworfen wird, in denen sich bekanntlich auch das eine WORT Gehör verschafft. Die Visualisierung unserer Kommunikation ist da nur eine Baustelle, denn es bleibt eine offene Frage, ob wir auf die grassierende Bilderflut mit guten Bildern oder mit dem Luxus bilderfreier Orte antworten sollten. Beides ist vermutlich richtig, denn auch Musik ist zum Dauergeräusch verkommen, trotzdem kann sie anrühren und bewegen, wenn ihr genug Raum und Ruhe eingeräumt wird. Predigtkunst und Achtsamkeit im Umgang mit religiösen Räumen und Zeichen, bedachte öffentliche Einrede und präzise theologische Diagnosen religiöser oder religionsähnlicher Phänomene in der Gegenwartskultur, die Lesefähigkeit visueller Zeichen und Bilder, gehören vielmehr zu einer Grundhaltung der Kirche, die mit dem „einen Wort“, über das sie nicht verfügt, dennoch rechnet und von diesem Wort her lebt.