„Des einen Kitsch, des anderen Trost“ - Erwägungen zu 200 Jahre Felix Mendelssohn Bartholdy, Berlin, Marienkirche

Petra Bahr

Kennen Sie die zarteste Versuchung, seit es evangelische Kirchenmusik gibt? Ein vierstimmiger Frauenchor in ätherischem G-Dur beginnt wie aus dem Nichts, dann löst ihn ein vierstimmiger Männerchor ab, schließlich vereinen sie sich beide und die Klangköstlichkeit schmilzt sahnig im Ohr. Erkennen Sie die Melodie? „Denn er hat seinen Engeln befohlen über dir, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen und du deinen Fuß nicht an einem Stein stoßest“ – viele von Ihnen werden diesen Klassiker von Felix Mendelssohn-Bartholdy kennen und vielleicht sogar bis zum letzten Quartvorhalt lieben. Bei Hochzeiten und Taufen ein Favorit und bei Chorkonzerten wie diesem die heißersehnte Zugabe. Aber so sehr die einen diese Engelmusik schätzen, so sehr schütteln sich die anderen: „Brrr, so ein Kitsch!“ Spätestens seitdem der amerikanische Musikschriftsteller und Pianist Charles Rosen 1995 sein Buch „The romantic generation“ herausgegeben hat darf sich Kitsch in Verbindung mit Mendelssohn sogar als Terminus im wissenschaftlichen Raum behaupten. Gegenüber dem wütenden Erneuerer deutscher Musikkultur, Richard Wagner, war Mendelssohn für viele nur ein „schöner Zwischenfall“ in der Musik des 19. Jahrhunderts. Rosen ist deshalb nur das letzte Glied in einer Reihe prominenter Mendelssohn-Interpreten, die dessen Namen mit Kitsch in Verbindung bringen. Er überschreibt das zehnte Kapitel seines dicken Wälzers mit „Mendelssohn and the invention of religious kitsch“ (zu deutsch: Mendelssohn und die Erfindung des religiösen Kitsch).

Das ist starker Toback, denn Kitsch bringen wir landläufig mit Gartenzwergen, Bierseideln und schrägen Farben in Verbindung. Noch schlimmer für uns Protestanten ist religiöser Kitsch: Heiligenbildchen, Madonnen und Duftkerzen. Was hat Mendelssohn damit zu tun? Charles Rosen meint, Mendelssohn sei der Erfinder des religiösen Kitsches in der Musik. Seine Begründung, zugegebenermaßen etwas verkürzt: Mendelssohns Musik verleihe nicht der Religion Ausdruck, sondern nur der „piety“, also der individuellen Frömmigkeit bzw. der Religiosität. Und dies sei nun insofern Kitsch, weil es die Religion selbst durch die emotionale Hülle der Religion ersetze. Nun ist das Verhältnis von Religion und persönlicher Religiosität vielleicht ein wenig komplizierter als Rosen das gerne hätte, aber die Frage ist doch berechtigt, ob Mendelssohns Musik manchmal zu schön ist, um wahr zu sein. Wir werden darauf zurückkommen.

Zunächst aber dies: Wer über Mendelssohn nachsinnt, der kann das nicht unter Absehung der Historie tun - schon gar nicht in Deutschland. War Mendelssohn zu seinen Lebzeiten gefeiert und bewundert, so wurde er nach seinem Tod schon bald hart angegangen, zum Beispiel von Richard Wagner. In dem Pamphlet "Das Judenthum in der Musik" aus dem Jahre 1850 sprach Wagner Mendelssohn jede "wahre Leidenschaft" und die Fähigkeit ab, "... auch nur ein einziges Mal die tiefe, Herz und Seele ergreifende Wirkung auf uns hervorzubringen, welche wir von der Kunst erwarten". Da war es spätestens in der Welt, das (Vor-) Urteil von mangelnder „Tiefe“.

Tiefe, gründelnde Tiefe – darunter machen wir Deutschen es nicht, schon gar nicht in der Kunst der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Da erwartete man vom deutschen Künstler, dass er um sein Schaffen ringt. Man verherrlichte Beethoven-Porträts, auf denen der Meister mit wilder Mähne vor dem leeren Notenblatt saß, ringend, rastlos schaffend, abgründig, titanisch eben.

In dieses Bild passte Mendelssohn nun so gar nicht! Er war einfach perfekt, ein „gentle Genius“, wie einer seiner Biographen schrieben. Zu Lebzeiten gefeiert wie heute allerhöchstens Michael Jackson. Ein Superstar, für den junge Mädchen in Ohnmacht fielen. Er schrieb schon im 19. Jahrhundert Werke, die so zeitlos sind, dass sie hervorragend in die Hitparaden der Gegenwart passen: Sein eingangs erwähntes beliebtes Chorstück "Denn er hat seinen Engeln" verfügt nicht nur über eine traumhaft eingängige Melodie, sondern hat mit einer Länge von 3'30 auch ziemlich genau die Passform für heutige Hit-Radio-Formate.

Der mitunter geradezu beängstigenden Perfektion seiner Kunst entspricht eine atemberaubende Laufbahn, die mehr als glatt verlief, jedenfalls wenn man sie mit der anderer verruchter Künstler und tragischer Poeten vergleicht. Vielleicht ist das Wagner’sche Verdikt der mangelnden Tiefe auch Ausdruck eines versteckten Neidkomplexes auf den Götter- und Musenliebling Mendelssohn.

Richtig schlimm wurde es für Mendelssohn erst posthum, als die allgemeine Kulturvernichtung des Nationalsozialismus über Mendelssohn und sein Werk kam. Der schon seit dem 19.Jahrhundert angelegte antijüdische Akzent in der Beurteilung Mendelssohns fand im abstrusen Antisemitismus der Nazis seine gesteigert-beschämende Fortsetzung: Die Musik des zu Lebzeiten Bewunderten und Erfolgreichen war verfemt, seine Denkmäler mussten verschwinden. In Hamburg ersetzt durch eines von Händel, in Leipzig in einer schändlichen Nacht- und Nebelaktion abgebrochen – welch ein Dank der Bachstadt für die Wiederaufführung der Matthäuspassion und den Beginn der Bachrenaissance gut hundert Jahre zuvor! Auch Mendelssohns geniale Musik zu Shakespeares Sommernachtstraum war auf einmal offiziell unerwünscht, und eifrig versuchten andere Tonkünstler, die Töne Mendelssohns vergessen zu machen (Kein Geringerer als Carl Orff bedankte sich herzlich für die Möglichkeit, etwas Neues liefern zu dürfen. Schande über Schande, wenn man nur daran denkt!).

Und leider blieb auch etwas hängen von dieser erbärmlichen Schmähung. Der Ruf des von den Nazis posthum Verfolgten besserte sich auch nach 1945 nicht. Er blieb eine Randfigur. Generationen von Musiklehrern und Chorleitern ließen ihn links liegen. Erst in den vergangenen zwei, höchstens drei Jahrzehnten besserte sich Mendelssohns Image, ließen sich Chöre wieder gefangen nehmen vom beispiellosen Glanz und Perfektion seiner Chormusik.

Die Geschichte mahnt also zur Wiedergutmachung, doch erwiese man Mendelssohns Musik nicht einen schlechten Dienst, wenn man sie nur aus Gründen der political correctness feierte? Ich nehme die eingangs gestellte Frage wieder auf. Was ist nun dran am Kitsch-Vorwurf? Fehlt bei Mendelssohn nicht wirklich ein bisschen die Tiefe?

Geschmacksurteile sind immer subjektiv, aber in der Tat darf man wohl feststellen und sich dabei eines breiten Konsenses gewiss sein, dass Mendelssohn uns in seiner Musik eher nahebringen will, dass Gott seine Engel über uns befohlen hat, als dass er in seiner Musik die Pforten der Hölle und der Angst aufgehen lässt.

Gestatten Sie mir einen zugegeben etwas gewagten Sprung in die Termini der Theologie: Vielleicht kann man sagen, dass Mendelssohns Musik nur Evangelium und nicht oder jedenfalls nur kaum Gesetz enthält. Sie neigt dem Hellen, Schönen, Heiteren zu, und selbst der Schmerz kommt zuweilen als ästhetisierender, nazarenerhafter Schmerz daher.

Nur ein Vergleich: Wenn in Mendelssohns berühmten Oratorium „Elias“ der mächtige Prophet in seiner großen Arie singt: „Es ist genug, so nimm denn Herr meine Seele, ich bin nicht besser als meine Väter“, dann ist das zwar sehr, sehr anrührend, aber nicht wirklich beklemmend. Da herrscht keine fahle Leere, da ist keine wahre Angst vor einem alles verschluckenden Nichts auszumachen, wie beispielsweise in dem monströs-langen Halteton der letzten Alt-Arie in Bachs Johannespassion auf dem Wort „Trauernacht“, die den Hörer in der Tat die letzte Stunde zählen lässt.

Vielleicht ist Mendelssohns Musik wirklich zuerst Ausdruck der puren Gnade, des großen Zuspruchs, hinter dem Gesetz, Anspruch, Tod, Teufel, Sünd und Hölle verstummen. Aber selbst wenn das so ist, dann ist das nicht verwerflich. Denn ich bin überzeugt: Wir Menschen brauchen als erstes Wort das Wort der Gnade, des Zuspruchs und der Liebe. Erst dann können wir dem Abgrund, dem Tod und der Verzweiflung trotzen. Mendelssohn verleiht mit seiner unvergleichlichen Mischung aus formaler Meisterschaft und heller Schönheit, die selbst im scheinbar Tragischen aufleuchtet, ein nahezu perfektes Bild dieses Wärmestroms christlicher Hoffnung.

Dieser Wärmestrom, der uns auch mal wohlige Schauer bereitet, sollte gerade in Zeiten der Krise präsent sein, sonst legt sich Packeis der Angst über alles und tötet die großen Bilder der Hoffnung ab. Dann sterben Hoffnungsbilder wie zum Beispiel diese: „Es wird sein“ sagt der Prophet Jesaja, dass die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden. Es wird sein, dass die Lahmen springen wie ein Hirsch und die Zunge der Stummen frohlocken wird, dass Wasser in der Wüste hervorbrechen und Ströme im dürren Land.

Wenn wir Mendelssohn hören, dann können solche Bilder in uns ungetrübte Kraft erlangen, dann reißt uns eine makellose Ästhetik der Hoffnung mit. Mendelssohn ist klingende Gnade, pure Gnade. Das tut gut. Da wird’s uns warm ums Herz. Ich wünsche uns jetzt weiter viel erfüllende Freude mit Mendelssohn und den anderen tönenden Romantikern, die noch auf uns warten. Als zarteste Versuchung und als wunderbar kitschiger Sehnsuchtsort, vor allem aber als tröstliches Gegenbild zu der Welt, in der wir leben und die uns so manches Mal das Blut in den Adern gefrieren lässt. Mendelssohn macht die Welt schön. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!