Predigt anlässlich des 50-jährigen Bestehens von Eikon in der Matthäuskirche zu Berlin (Amos 5,4)

Nikolaus Schneider

 Martin Buber, überliefert uns folgende Geschichte:
„Rabbi Baruchs Enkel, der Knabe Jechiel, spielte einst mit einem anderen Knaben verstecken. Er verbarg sich gut und wartete, dass ihn sein Gefährte suche. Als er lange gewartet hatte, kam er aus dem Versteck; aber der andere war nirgends zu sehen. Nun merkte Jechiel, dass jener ihn von Anfang an nicht gesucht hatte. Darüber musste er weinen, kam weinend in die Stube seines Großvaters gelaufen und beklagte sich über den bösen Spielgenossen.
Da flossen Rabbi Baruch die Augen über, und er sagte: „So spricht Gott auch: Ich verberge mich, aber keiner will mich suchen.“

Eine alte Geschichte, die etwas zur Sprache bringt, was immer wieder zur Sprache gebracht werden muss: Gott ist uns nicht wie ein göttlicher Funke von der Natur mitgegeben. Und Gott fällt uns auch nicht durch wunderbar zelebrierte Gottesdienste gleichsam in den Schoß.

Gott, der Schöpfer der Welt und allen Lebens, will, dass wir ihn alltäglich suchen – um unseres Lebens willen und um des Lebens auf unserer Erde willen. Darum spricht aus dem Mundes des Propheten Amos: „ Suchet mich, so werdet ihr leben“.

Amos – Schafzüchter und Hirte. Neben dem Kleinvieh sichern Maulbeeren seinen Lebensunterhalt. Er stammt aus Thekoa. Der Ort liegt unweit der leblosen Ebene, die zum Toten Meer führt. Die Namen der Städte Sodom und Ghomorra verbinden sich mit dieser Gegend. Maßlosigkeit prägte das Leben der Einwohner. Gottvergessenheit ihren Lebensstil: kein Fragen nach Gottes Geboten und Weisungen, keine Suche nach ihm. Ihre Verachtung des Lebens anderer führte dazu, dass alles Leben an diesen Orten erstarb. Kein Grashalm wuchs dort zur Zeit des Amos, kein Vogel sang dort, ganz zu schweigen davon, dass Menschen dort nicht leben konnten – eine unheimliche Gegend.

Verachtung und Missachtung anderer Menschen, das beobachtete Amos auch zu seiner Zeit. Aber diesmal in tückischer, religiös ummantelter Form: mit frommen Liedern auf den Lippen, unter Gebet und Opfer, verbunden mit Wallfahrten und ganz allgemein einem regen religiösen Betrieb.

Aber eben – und das war die helle Sicht des Propheten Amos: reger religiöser Betrieb, doch keine Suche nach Gott. Ein Kreisen der Menschen um sich selbst. Äußerliche Frömmigkeit, ästhetisch wunderbare Gottesdienste. Aber Gott offenbart dem Propheten: das ist keine Frömmigkeit, die mir gefällt. Diese Religiosität ist ein Verhöhnen Gottes. Nicht einmal Opium des Volkes, sondern gut inszenierte und wohlklingende Selbstbetäubung einer gottfernen Elite. Frömmigkeit im Tempel ohne Frömmigkeit des Alltags! Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben der Mitmenschen, Ausbeutung der Armen, die selbst davor nicht zurückschreckt, Menschen zur handelbaren Ware zu machen. Das alles ist Ausdruck von Gottesferne. Das ist Tod bringende Verachtung des Gottes, der Leben schenkt. Dieser Lebensstil, dieser way of life, zerstört nicht nur das Leben anderer – er ist der Weg zur Selbstvernichtung.

Deshalb lädt der Prophet geradezu beschwörend ein: „Suchet Gott, so werdet ihr leben“!
Gott suchen - wie kann das gehen?

Für Israel galt und gilt: Gottes Gebote und Weisungen lesen und hören, erinnern und studieren, diskutieren und einüben. Vor allem aber Gottesdienst im Alltag üben, im Alltag der zwischenmenschlichen Beziehungen, im Alltag der Berufswelt, im Alltag politischer Entscheidungen. Wenn das ernsthaft betrieben wird, werden die Armen geachtet und die Gemeinschaft organisiert Hilfe zur Selbsthilfe. Im Interesse der Schwachen und Benachteiligten werden gesellschaftliche Entwicklungen vorangetrieben. Fremde, Flüchtlinge oder Asylanten werden nicht als lästige Zumutung verstanden. Die Ausübung von Macht wird kritisch begleitet und das offene Wort nicht gescheut.

Sucht Gott, um Leben zu finden – für Euch als Einzelne und für das gesellschaftliche Zusammenleben wie das friedliche Miteinander der Völker, das war und ist die Offenbarung der biblischen Propheten.

Jesus sah das nicht anders. Wie die Propheten seines Volkes forderte er Menschen zur Umkehr auf, zur Nachfolge auf den Spuren seines Lebens. Jesus hat uns vorgelebt was es heißt: „Suchet Gott, so werdet ihr leben“. Jesus hat in allen Lebenssituationen die Nähe zu Gott gesucht und bewahrt. Jesus hat die Gemeinschaft mit Gott nicht preisgegeben – nicht in den Versuchungen durch Macht und Reichtum und nicht in den Tagen seines Leidens und Sterbens. So hat er in Gott gelebt und sein Leben bewahrt, das Leben in dieser Welt und das ewige Leben.

Leben in der Nachfolge Christi konkretisiert sich für uns Christenmenschen und unsere Kirchen notwendig als Gottesdienst im Alltag und deshalb auch aktuelle Not wendend in der Option für Arme, Schwache und Benachteiligte.

Im gemeinsamen Wort der evangelischen und katholischen Kirche zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland von 1997 klingt das so: „ In der vorrangigen Option für die Armen als Leitmotiv gesellschaftlichen Handelns konkretisiert sich die Einheit von Gottes- und Nächstenliebe. … Dabei zielt die biblische Option für die Armen darauf, Ausgrenzungen zu überwinden und alle am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen … . Sie lenkt den Blick auf die Empfindungen der Menschen, auf Kränkungen und Demütigungen von Benachteiligten, auf das Unzumutbare, das Menschenunwürdige, auf strukturelle Ungerechtigkeit. Sie verpflichtet die Wohlhabenden zum Teilen und zu wirkungsvollen Allianzen der Solidarität.“ (Absatz 107)

Wir Christenmenschen sind dabei gerufen, durch gerechtes und faires Teilen für eine sozialstaatliche Systematik von Recht und Gerechtigkeit einzutreten und weiteren Spaltungen unserer Gesellschaft entgegenzutreten. Dazu muss der Reichtum der Reichen auch dienen – und nicht allein zur persönlichen Bedürfnisbefriedigung.
Reichtum wird in der Bibel immer dann scharf kritisiert, wenn er durch Ungerechtigkeit und Ausbeutung erworben wurde, wenn er sich mit Geiz und Gier paart, wenn er den Blick zu den Mitmenschen verstellt, wenn er also unser Suchen Gottes und unser Handeln in der Nachfolge Christi verhindert.
Deshalb galt damals, gilt heute, gilt immer: Gott spricht: „Suchet mich, so werdet ihr leben.“

Schon die Propheten hatten nicht allein Worte, sondern Gott offenbarte ihnen auch Bilder und Bildgeschichten, um Menschen zum Suchen Gottes einzuladen. Auch die Kirchen der Reformation müssen sich nicht auf das gesprochene und gedruckte Wort beschränken. Und die Kirchen der EKD haben vor 50 Jahren eine Gesellschaft gegründet, die den Begriff „Bild“ als Namen trägt – wenn auch in griechischer Sprache.

Die Gründung der „Eikon“ vor 50 Jahren war der Erkenntnis geschuldet, dass es möglichst vielfältiger Aufforderungen und Anleitungen bedarf, um Gottes Einladung heute gerecht zu werden. Das Bild, der Film kann dabei eine besondere Rolle spielen: durch die unaufdringliche Form erzählter Geschichten; durch Geschichten, die unsere Realitäten überschreiten; durch die größere Intensität von Bildern und durch die Verbindung von Wort, Musik und Bild. Menschen werden umfassend angesprochen – und das im wahren Sinn des Wortes: Gute Filme umfassen Menschen. Sie lassen ihn eigene Grenzen überschreiten. Sie nehmen ihn mit, auch auf dem Weg der Suche nach Gott.

Möge Gottes Geist die Filmemacher von Eikon auch in Zukunft zu solchen Filmen inspirieren. Mit den Leuten von Eikon zusammen wollen wir uns auch heute auf die Suche nach Gott machen, damit wir leben – und auch, damit Rabbi Baruch weniger weinen muss.

Amen