Kirchentag 2011: Bibelarbeit über 5. Mose 30, 6-20 auf dem Dresdener Altmarkt
Landesbischof Jochen Bohl
Guten Morgen, meine Damen und Herren, liebe Schwestern und Brüder, auf dem Altmarkt in Dresden, der in der Geschichte unserer Stadt eine große und bedeutende Rolle gespielt hat. Sein heutiges Gesicht hat er erst im letzten Jahr erhalten, seine Weite in den ersten Jahren des Wiederaufbaus nach dem Krieg. Es ist der Platz der Kreuzkirche, der größten sächsischen Kirche, Predigtkirche der sächsischen Landesbischöfe und seit mehr als sieben Jahrhunderten Heimat des Kreuzchores, von dem das geistliche Leben Dresdens geprägt ist.
Willkommen zur Begegnung mit einem biblischen Text, der Aufmerksamkeit verlangt, der nicht leicht zu verstehen ist, der aber bestimmt unsere ganze Aufmerksamkeit verdient. Wir lesen den Schluss des „Testaments des Mose“, der selbst das Gelobte Land nicht betreten wird, seinem Volk aber eine Botschaft für den Weg mitgibt. Es geht um ein neues, verändertes Gottesverhältnis, mit dem Gottesvolk Israel hören wir auf einen Ruf zur Umkehr und werden gewarnt vor Abkehr von Gott. Wir hören eine Predigt, die die angefochtenen Zeitgenossen jener Zeit zu einem Leben mit Gott aufruft; der Prediger will die Tradition des Glaubens in eine neue Zeit hinein aktualisieren.
Lesung Bibeltext (5. Mose 30, 6-20 nachlesen)
Nicht leicht zu verstehen, habe ich gesagt; und sicherlich stimmen Sie mir in dieser Einschätzung zu. Ich will versuchen, den Text mit drei Fragen zu erschließen. Es sind die Fragen eines modernen Menschen, wie ich sie selber stelle und wie sie mir begegnen in Gesprächen mit anderen, mit Gläubigen, Zweifelnden und Suchenden. Sie entzünden sich an markanten Textstellen.
Zuerst: „es ist das Wort ganz nahe bei dir, in deinem Munde und in deinem Herzen, dass du es tust.“ Kann das Wort Gottes einem Menschen nahe sein? Wie soll das gehen, ist da nicht immer ein Abstand, der uns „fremdeln“ lässt?
Dann die zweite Frage: „Ich habe euch Leben und Tod, Segen und Fluch vorgelegt, damit du das Leben erwählst und am Leben bleibst.“ Geht das überhaupt, kann man sich entscheiden? Und dann auch noch zwischen Leben und Tod? Wie soll das gehen, da ich doch in meinem Leben von so vielen Einflüssen abhängig bin, hin- und hergerissen, mehr als mir lieb ist?
Und, als wäre das nicht schon schwierig genug, die dritte Frage; was eine solche Entscheidung denn mit Gott zu tun hat, denn er ist ja offensichtlich nicht unbeteiligt, kein Zuschauer. Was ist Gottes Werk, was der menschliche Anteil? Gleich zu Beginn heißt es: „der HERR, dein Gott, wird dein Herz beschneiden und das Herz deiner Nachkommen, damit du den HERRN, deinen Gott, liebst von ganzem Herzen und von ganzer Seele, auf dass du am Leben bleibst.“ Drei Fragen also, die wir aus dieser Predigt hören, und auf die wir Antwort suchen.
A.
Zuerst – wie kann es sein oder geschehen, dass Gottes Wort einem Menschen nahe kommt, so nahe, dass es unser Leben bestimmt, unser Handeln, das Tun und Lassen. Das ist ja die Behauptung des Predigers Mose, und sie wird nicht jedem plausibel erscheinen.
Denn wir leben in einer Zeit, in der das Gotteswort mit anderen Wörtern konkurriert. Es sind so viele, dass es einem darüber schwindelig werden könnte. Die Medien schaffen längst eine eigene Wirklichkeit, und es ist wohl unmöglich, ihr zu entgehen. sieben Tage in der Woche, 24 Stunden am Tag umgeben uns Wörter, Anreden, Ringen um Aufmerksamkeit, Auflage, Quote. Auf meinem Fernseher habe ich 50 Sender gespeichert, von denen ich meine, sie könnten dann und wann einmal etwas für mich Interessantes bringen; es gibt über tausend Radiosender in Deutschland, wenn man die Internetradios mitrechnet und 350 Tages- und Wochenzeitungen. Wie viele Magazine, Zeitschriften, Fachpublikationen es sein mögen – bestimmt wird es eine Statistik wissen. Zu jedem vorstellbaren Thema werden mehr Wörter gemacht, als sie irgendjemand hören könnte, Interessante, Langweilige, Aufregende, Verstörende, Belanglose. Es ist eine Inflation der Worte, man kann sie nicht zählen, nicht verfolgen und wer wüsste die wichtigen von den Unwichtigen zu unterscheiden. Worte, Worte, ein nie versiegender Strom. Drei Wochen Guttenberg, sechs Wochen Fukushima, vier Wochen Libyen, dann wieder Griechenland. Eine Aufregung nach der anderen.
Das war zu biblischen Zeiten anders. Die Menschen sprachen miteinander, und es vergingen Jahrhunderte, bis die ersten schriftlichen Überlieferungen von der Geschichte Gottes mit den Menschen erstellt wurden. Man erzählte sich von den guten Taten Gottes; und in der mündlichen Weitergabe des Wortes war man genau, verlässlich, Wort für Wort in einer Weise präzise, die wir uns nicht vorstellen können, weil sie uns nicht mehr zur Verfügung steht. Als Jesus lebte, war die hebräische Bibel ein seltener Besitz in der Hand weniger. Es gab nicht viele Wörter neben denen, die Menschen im Gespräch miteinander machten. Aus heutiger Sicht war es eine versunkene Zeit, in der den Menschen jederzeit bewusst war, dass das Wort eine Macht hatte, sie und ihre Lebenswirklichkeit zu verändern.
Für uns ist es schwer geworden, in der Flut der Wörter das eine Wort zu entdecken, das sich unterscheidet von all den anderen; ein Wort, das etwas in mir zum Klingen bringt, so dass es mich aufrüttelt. Ein Wort, das mir bleibt, nicht vergeht, weil es mich unbedingt angeht, das einen eigenen Klang hat, der in meinem Innersten widerhallt.
Nicht leicht zu finden, ein solches Wort; es gibt nur wenige davon und die wenigen sind flüchtig – und doch, jeder von uns weiß, dass es solche Worte gibt. Sie werden nicht oft gesprochen, so dass man fast meinen könnte, es handele sich um ein Wunder, wenn man eines hört. Aber es gibt sie, von Zeit zu Zeit, hier und da, sie geschehen in Begegnungen, mit Menschen; und wir erinnern uns, wie alles anders wurde, durch eine solche Begegnung und durch Worte, die zum Ausdruck brachten, was gesagt werden musste, damit es gut werden konnte mit mir. Leuchtende, bewegende, heilende Worte. Erinnern Sie sich?
So ähnlich ist es auch mit der Bibel und ihren Erzählungen von der Geschichte Gottes mit den Menschen. Man kann sie lesen wie andere Texte auch, nüchtern, distanziert, interessiert, man kann sie zur Seite legen, ohne dass etwas anders geworden wäre. Aber viele Menschen haben erlebt, dass ein Wort der Heiligen Schrift sie angerührt hat, sie erinnern sich wie es war, als eine Wahrheit aufleuchtete, von der das Leben verändert wurde. Um es mit den Worten unseres Textes zu sagen – als das Wort ganz nahe bei dir (war), … in deinem Herzen. Ja, das Wort Gottes kann uns nahe kommen; und dann ist es eine Begegnung der besonderen Art, die Erfahrung einer Wahrheit, die ich mir nicht selber geben kann, die vielmehr auf mich zukommt und mich ergreift. Dann leuchtet das Gotteswort wie ein Licht, das den Blick verändert und meine Sicht auf mich selbst und die Welt, in der ich lebe. Wer mit der Bibel lebt, in ihr liest, sie zu verstehen sucht, mit anderen über das Gelesene spricht, der wird solche Erfahrungen machen. Ich staune darüber, dass ich mich schon fast ein ganzes Berufsleben mit der Bibel beschäftige, Sonntag für Sonntag eine Predigt vorbereite – und doch immer wieder Neues, Unerwartetes erlebe mit dem Gotteswort, dass es ganz nahe bei mir ist, zu mir kommt. Die Geschichte der Kirche Jesu Christi ist die Geschichte von Menschen, die in der Bibel Gottes Anrede begegnet sind, Gottes Wort und die Wahrheit darin im Alltag entdeckten.
Darüber ist es so geworden, dass die deutsche Sprache eine Fülle von geflügelten Wörtern kennt, die aus der Bibel stammen. Sie bringen Erfahrungen des Menschenlebens auf den „Punkt“. Einige Beispiele: Wer wird schon zu allem Ja und Amen sagen (5. Mose 27,15 f.) – jedenfalls kein Mensch, dessen Gewissen vor Gott gebunden ist. Welches Unheil es bewirken kann, wenn die Leute um das goldene Kalb tanzen, haben wir gerade erst in der Finanz- und Wirtschaftskrise erfahren. (2. Mose 32,1ff.) Wenn es ist wie bei David und Goliath: Man soll und braucht sich nicht aufzugeben gegenüber den Starken und Mächtigen. (1. Samuel 17,1ff.) Wie gut ist es, wenn ein salomonisches Urteil ergeht, das einen Konflikt tatsächlich befriedet (1. Könige 3,16–28); welch ein Segen, das Vertrauen nicht zu verlieren, obwohl man eine Hiobsbotschaft hören musste; wie gut es ist, einem anderen in seiner Not zum barmherzigen Samariter zu werden (Lukas 10); wie weise, wer nicht auf Sand baut, was dauern soll (Matthäus 7,24ff.) Wie barmherzig es sein kann, einen Fehler mit dem Mantel der Nächstenliebe zuzudecken (1. Petrus 4,8).
Das alles sind, und viele mehr noch, Worte der Bibel, in denen Menschen die eigenen Erfahrungen wiedergefunden haben – und entdecken durften, wie das Wort Orientierung gibt und das Leben reich macht. Wer Gott begegnet, wird verändert.
Ja, es kann geschehen, dass Gott redet, sein Wort mir nahe kommt, so dass es gut wird mit mir. Dazu braucht es nur eins – die Bibel zu lesen in der zuversichtlichen Erwartung, in ihr Gott zu begegnen, mit ihr zu leben. Sich Zeit dafür zu nehmen, das ist wichtig. Es lohnt, gerade in einer Zeit, die so viele Worte macht – es ist das Wort ganz nahe bei dir, in deinem Munde und in deinem Herzen, dass du es tust.
B.
Die Zweite Frage. „Ich habe euch Leben und Tod, Segen und Fluch vorgelegt, damit du das Leben erwählst und am Leben bleibst.“ Geht das überhaupt, kann man wählen, sich entscheiden? Und dann auch noch zwischen Leben und Tod? Also in den Fragen, die wirklich zählen? Wenn es darauf ankommt?
Immer wieder ist behauptet worden, dass das nicht geht. Es möge zwar so aussehen, als wäre ich es, der meinem Leben eine Gestalt und seine Form gibt – in Wirklichkeit sei es aber anders.
Denn viel zu stark seien die Erfahrungen, die wir Menschen in der frühesten Kindheit und Jugend machen. Alles was später komme, sei davon geradezu vorherbestimmt und in einem gewissen Sinn auch vorhersagbar. So wird der Mensch verstanden als die Summe seiner Erfahrungen, die keinen Raum lassen für den freien Willen.
Wieder andere meinten, und wussten ihre Meinung auch in eine griffige Form zu bringen, das Sein bestimme das Bewusstsein. Es gebe so viel Böses in der Welt, was Menschen erleiden müssen, was sie aber auch ihren Mitmenschen antun: und die Ursache dafür seien die Verhältnisse, die das Zusammenleben in der Gesellschaft bestimmen – das Böse habe aber nichts mit den persönlichen Entscheidungen der Einzelnen zu tun. Man müsse nur die Lebensbedingungen der Menschen so verändern, dass sie nicht mehr entfremdet seien von ihrer wahren Bestimmung. Dann wäre es geradezu zwangsläufig, dass Gerechtigkeit einzieht, Frieden herrscht und der Mensch nicht länger dem Menschen zum Wolf wird. Das war eine gedankliche Grundlage der sozialistischen Ideologie, und wer etwas von dem Unheil weiß oder erleiden musste, was darüber in die Welt und über die Menschen gebracht wurde, hat sich seine Meinung gebildet. Es ist gut, dass diese Weltsicht vergangen ist; hoffentlich für immer.
Aber es gibt neue Argumente für alte Irrtümer. Seit einigen Jahren weiß man etwas mehr über das Gehirn und die Prozesse, die sich in unserem Kopf abspielen und einige Forscher sind der Meinung, dass nun endgültig klar sei, dass es so etwas wie einen freien Willensentschluss nicht gebe. Denn man könne ja Bilder erzeugen von den Strömen, die im Gehirn entstehen; und auf ihnen erkennen, dass sie schon fließen, bevor ich mich entschlossen hatte, die Hand zu heben, um nach dem Wasserglas zu greifen.
Willensfreiheit sei eine Illusion und dementsprechend müsse die Rechtsprechung aufhören, einem Menschen Schuld vorzuwerfen – wer sich nicht entscheiden könne, sei auch nicht schuldig. Da möchte man fragen, ob so etwas ernst gemeint sein kann?
Wer ein Kind missbraucht zur Befriedigung seiner Lüste, sei nicht verantwortlich zu machen? Wer zur Waffe greife, wisse nicht, was er da tue? Wer sich der Gier hingibt, immer mehr und mehr und noch mehr besitzen zu wollen, brauche sich keinen Kopf darüber zu machen, was er damit anderen antut? Wer den Menschen einredet, der Geiz sei eine Tugend, habe in einer Marktwirtschaft alles Recht dazu? Wer das Risiko der atomaren Stromerzeugung in Kauf nimmt, muss sich nicht den Super-Gau vorhalten lassen, wenn er eingetreten ist?
Solche Fragen stellen, heißt die Antwort zu kennen. Wir sind verantwortlich für das, was wir tun. Und darin liegt keine Zumutung, sondern damit werden wir erst zu Menschen, Ebenbildern Gottes. Ich habe euch Leben und Tod, Segen und Fluch vorgelegt, damit du das Leben erwählst und am Leben bleibst.
Israel an der Schwelle des Übergangs in das Gelobte Land hört den Willen seines Gottes, der das Leben will. Vor Gott ist es nicht gleichgültig, wie wir leben. Er will unsere Mitarbeit an seiner Schöpfung, wir werden gebraucht, mit unseren Gaben und Fähigkeiten, die so einzigartig sind, wie jeder Mensch es ist. Niemand ist unbegabt, und jeder hat die Möglichkeit, Gebrauch von seinen Gaben zu machen, nach dem Maß der eigenen Erkenntnis und der Vorstellung von einem guten Leben. Wir werden nicht gelebt, sondern wir leben; wir verbringen unsere Tage nicht, wir gestalten sie.
Natürlich, dabei sind wir nicht alleine, sondern in vielfältiger Weise eingewoben in die Gesellschaft und in die Gemeinschaften, denen wir angehören, die Familie, die Gemeinde und die Kirche, die Arbeitskollektive und die Nachbarschaft, der Verein und der Freundeskreis. Sie alle beeinflussen uns, nicht anders als wir wiederum sie. Wir kommen auch nicht als ein unbeschriebenes Blatt auf die Welt, sondern sind vom ersten Atemzug an eigenständige Personen, schon in den ersten Tagen und Monaten Persönlichkeiten, mit je besonderen Chancen und auch Grenzen. Die Freuden, die wir erleben dürfen, hinterlassen ihre Spuren in unserer Seele; und Gleiches gilt für das Leid, das über uns kommt. Das eine wie das andere sind Erfahrungen, aus denen wir lernen können und sollen; was daraus wird, ist aber nicht zwangsläufig, sondern eine Frage der Haltung, und des Umgangs damit. Was auch geschieht, wir gestalten unser Leben in Gemeinschaft mit anderen. Und sind dafür verantwortlich.
Und so ist es auch vor Gott. Am Übergang in das Gelobte Land hört das Volk Israel eine Predigt des Mose, die dazu mahnt, Gott treu zu bleiben, seine Gebote zu achten. Das ist beileibe nicht selbstverständlich, denn immer wieder hat es Situationen gegeben, in denen Israel falsche Wege eingeschlagen hat, in die Irre ging, lieber dem scheinbar nächstliegenden als dem Willen Gottes vertraute. In der Situation der Versuchung entschied man sich gegen den Segen und bedachte nicht, dass es auch den Fluch gibt. Die schwere Zeit des Exils musste durchlitten werden…
Wir lesen diese Worte nicht als einen Text aus vergangener Zeit – obwohl er das auch ist. Wir lesen ihn als eine Mahnung, die an uns gerichtet ist. Vor Gott sind wir verantwortlich; und es ist an uns, ob wir mit Gott leben oder ohne ihn. Die Entscheidung für das Leben besteht in der Liebe zu Gott, dem Vertrauen auf und dem Hängen an Gott, also dem Glauben. Glaubend folgen wir dem Willen Gottes; und dazu hilft es uns, wenn wir die Bibel lesen, uns mühen, sie zu verstehen, damit sie zu uns spricht; wenn wir andächtig werden, still in lärmender Zeit. So können wir Klarheit gewinnen über das, was wir tun und lassen sollen. Gebe Gott, dass du das Leben erwählst und am Leben bleibst,
C.
Die dritte Frage ist vielleicht die Schwerste. Denn wir glauben ja nicht, dass Gott ein Zuschauer ist, der aus der Distanz beobachtet, was ich tue oder lasse. Er bleibt nicht unbeteiligt, wie jemand, der das Spiel der Schauspieler auf der Bühne verfolgt, und anschließend seiner Wege geht, im Gegenteil. Gott handelt, er tut etwas, die Bibel bezeugt, dass er ein gnädiger Gott ist. Also ist die Frage: was wirkt Gott? Was der Mensch? Worauf kommt es denn an – auf ihn oder auf mich? Entscheidung oder Gnade?
Gleich zu Beginn unseres Abschnittes heißt es: „der HERR, dein Gott, wird dein Herz beschneiden und das Herz deiner Nachkommen, damit du den HERRN, deinen Gott, liebst von ganzem Herzen und von ganzer Seele, auf dass du am Leben bleibst.
Die Beschneidung der Herzen, das ist ein Bild in Anspielung an die Entfernung der Vorhaut, mit der im Volk Israel die Männer gekennzeichnet werden. Hier ist die innere Erneuerung gemeint, es geht nicht um ein äußerliches Zeichen, sondern um eine Veränderung des Herzens. Eine Umhüllung soll von ihm fortgenommen werden; und es ist in diesem Zusammenhang wichtig, dass wir richtig verstehen, was das Herz im Sprachgebrauch der hebräischen Bibel ist – nämlich der Kern der Person, der Ort, an dem die Entscheidungen getroffen werden, die unser Tun und Lassen bestimmen. Wir Heutigen verstehen das Herz eher als den Ort der Gefühle, und dann entsteht schnell so etwas wie ein Gegensatz zum Kopf, zur Ratio, zum Verstand. Das eine gefühlig, das andere nüchtern.
In der Bibel ist es ganz anders. Sie sieht es so, dass im Herz Gefühl und Verstand zusammenwirken; hier verdichtet sich, was uns zu der Person macht, die wir sind. Das Herz bezeichnet den Kern, es leitet uns zur Erkenntnis der Wahrheit, es gibt dem Willen seine Richtung, im Herzen entscheidet sich unser Verhältnis zu Gott. Darum sagte Jesus später, wessen Herz rein ist, wer auf Gott vertraut und auf die Schätze, die nur er geben kann, der wird selig sein. In das Herz wird die Botschaft vom Himmelreich gesät. (Matthäus 13,19)
Hier, in der Vermächtnispredigt des Mose lesen wir: Gott schenkt eine Veränderung des Herzens, nimmt die Umhüllung fort, die Distanz herstellt und verhindert, dass die Menschen Gott nahe kommen – das ist eine Befreiung, und sie ist das Werk Gottes. Kein Mensch kann sie für sich bewerkstelligen, ebenso wenig wie niemand sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen kann. Erst, weil Gott gnädig ist und gnädig handelt, wird es möglich, dass der so erneuerte Bund zwischen Gott und seinem Volk nicht wie in der Vergangenheit gebrochen werden wird. Dafür sorgt Gott selbst, durch das Beschneiden der Herzen.
Liebe Gemeinde, unser Abschnitt beginnt mit diesem Bild; aber ich habe es erst zum Schluss behandelt, denn der Zusammenhang von Gottes Werk und menschlichem Anteil ist wohl doch der schwierigste. Martin Luther hat lange damit gekämpft; und als er die Antwort wusste, hatte er zur Freiheit eines Christenmenschen gefunden. Geholfen hat ihm dabei der Apostel Paulus. Im 10. Kapitel des Römerbriefs (Verse 6–8) zitiert er sogar unseren Abschnitt aus dem Testament des Morse; und zwar die Verse 11–14, in denen es um die Nähe des Gotteswortes geht.
„Aber die Gerechtigkeit aus dem Glauben spricht so (5. Mose 30,11–14): ,Sprich nicht in deinem Herzen: Wer will hinauf gen Himmel fahren?‘ – nämlich um Christus herabzuholen –, oder: ,Wer will hinab in die Tiefe fahren?‘ – nämlich um Christus von den Toten heraufzuholen –, sondern was sagt sie? ,Das Wort ist dir nahe, in deinem Munde und in deinem Herzen.‘ Dies ist das Wort vom Glauben, das wir predigen.
Die Gerechtigkeit aus dem Glauben, das ist ein zentrales Thema, des Apostels, der Reformatoren, des evangelischen Glaubens. Wir sind nahe am Kern. Die Gerechtigkeit aus dem Glauben spricht so: „Das Wort ist dir nahe, in deinem Munde und in deinem Herzen.“ Dies ist das Wort vom Glauben, das wir predigen. So Paulus. Was Glauben ist, wie Glaube geschieht und was er mit uns macht, können wir hier sehen; er beginnt mit dem, was Gott tut. Er wendet sich uns zu; und es ist ein schönes Bild, dass er eine Umhüllung von unseren Herzen entfernt, so dass wir empfindsam werden für seine Anrede. So kann das Gotteswort uns nahe kommen, und das ist Gnade, die wir nicht herbeiführen, sondern nur ihm danken können. So beginnt es – und weiter geht es mit der Entscheidung, die unsere ist. Dann liegt es bei uns, ob wir mit Gott leben oder ohne ihn. Glaubend folgen wir dem Willen Gottes, im Vertrauen auf und dem Hängen an Ihm, den Jesus seinen Vater nennt.
Die Verschränkung von göttlicher Gnade und menschlicher Entscheidung ist in meinen Augen das Faszinierende an diesem Abschnitt. Der Mensch steht in der Entscheidungssituation zwischen Leben und Tod, aber Gott hat es schon für ihn möglich gemacht, das Leben zu wählen, indem er sein Herz beschneidet. Wir können ja nicht hoch genug in den Himmel hinauf- und nicht weit genug in die Tiefe hinabfahren, um dort Gott zu finden. Und auch auf der Erdoberfläche gelingt es uns nicht, durch unser Handeln zu Gott zu finden, auch nicht durch unsere guten Taten, nicht bei größter Anstrengung. Das ist auch nicht nötig, denn Gott handelt an uns zuerst, durch die Beschneidung der Herzen. Er schafft die Voraussetzung, damit wir das Leben wählen können. Er ist gnädig, und dann kann es gut werden. An einer anderen Stelle, im 2. Korintherbrief (9,8) schreibt Paulus: Gott kann machen, dass alle Gnade unter euch reichlich sei, damit ihr in allen Dingen allezeit volle Genüge habt und noch reich seid zu jedem guten Werk. Mit Martin Luther gesagt: … der Glaube macht gute Werke! Aus Dankbarkeit für empfangene Gnade!
D.
Drei Fragen, drei Antworten. Ja, das Gotteswort kommt uns ganz nah. Ja, wir können uns entscheiden für das Leben; und nochmals ja, denn Gott schafft die Voraussetzung dazu. Wie es weitergeht, wenn wir den Segen und das Leben wählen? „Und der Herr, dein Gott, wird dir Glück geben zu allen Werken deiner Hände, zu der Frucht deines Leibes, zu den Jungtieren deines Viehs, zum Ertrag deines Ackers, dass dir’s zugute komme. Denn der HERR wird sich wieder über dich freuen, dir zugut, wie er sich über deine Väter gefreut hat, weil du der Stimme des Herrn, deines Gottes, gehorchst und hältst seine Gebote und Rechte, die geschrieben stehen im Buch dieses Gesetzes, wenn du dich bekehrst zu dem Herrn, deinem Gott, von ganzem Herzen und von ganzer Seele.“
Das gilt auch in unseren modernen Zeiten. An Gottes Segen ist alles gelegen. Nicht nur die Ernte. Sie ist die Basis von allem; aber in einer modernen Gesellschaft in globalisierter Zeit kommt es auf so vieles an, was zählt. In den letzten Jahren ist uns allen wohl deutlich geworden, dass damit das Gefahren- und Gefährdungspotential in unerhörter Weise zugenommen hat, wie sehr wir in einer Risikogesellschaft leben. Stichworte müssen reichen: die weltweite Finanzkrise, der Super-Gau in Japan und der Energiehunger der Menschheit, der endlose Konflikt im Nahen Osten und die Zukunft Israels und Palästinas, die Stagnation der Europäischen Union, die Schuldenkrise der Staaten, die scheinbar unabänderliche demographische Entwicklung, die Integrationsprobleme in den großen Städten – ich breche ab. Wir stehen vor großen Herausforderungen; wir, die Bürgerinnen und Bürger, nicht nur die Politik, und es erscheint unklar, wie wir sie bestehen wollen.
Unsere Situation unterscheidet sich weniger von der des Gottesvolks, als viele meinen. Am Rande des gelobten Landes war die Zukunft Israels offen – zum Guten wie zum Bösen hin. Ich habe euch Leben und Tod, Segen und Fluch vorgelegt…
Die Zukunft ist zu jeder Zeit offen. Unsere, die Aufgabe der Kirche, der Gemeinden und der Christen ist es, den Glauben an Jesus Christus, den Gekreuzigten und Auferstandenen in dieser Zeit zu bezeugen, angesichts neuer Herausforderungen das Gottes Wort in die Zeit hinein zu tragen, mit Wort und Tat. Das sollen wir; und das können wir.
Denn Segen wird die Folge sein, wenn wir mit Gott leben; in der Folge von Entscheidungen, die heute getroffen sein wollen, damit wir in einer guten Zukunft leben können. Der Glaube schenkt Vertrauen, lässt das Herz ruhig werden, so dass wir abwägen können, was zu tun und geboten ist in der Verantwortung vor Gott. Er stärkt die Hoffnung, die uns Kraft und Mut gibt auf unseren Wegen – damit wir leben können.
Amen.