Kirchentag 2011: Bibelarbeit über 5. Mose 30, 6-20 auf dem Dresdener Messegelände, Halle 3

Kirchentagspräsidentin Katrin Göring-Eckardt

(Textlesung Dtn 30,16-19)

Du großer Gott! Was soll das denn! Wenn du gehorchst den Geboten, die ich dir heute gebiete, so wirst du leben, gehorchst du aber nicht, dann wirst du, dann werdet ihr alle umkommen. Was für ein grauenvoller Text! Dieser Gott hatte mir gerade noch gefehlt. Der drohende Wenn-Dann-Gott!

Liebe Schwestern und Brüder,

Glück und Unglück, Leben und Tod, Segen und Fluch, da kommt Gott mit voller Wucht daher, pathetisch, angespannt, überspannt. Was ist das für ein Gott, der sich hier vor dem Menschen aufbaut und unbedingten Gehorsam verlangt? Ein Gott, der mit Vernichtung droht, wenn totale Unterwerfung ausbleibt. Ein Gott voller Eifersucht, der den Menschen umkommen lässt, wenn der andere Götter anbetet. Ein gewalttätiger, strafender, zürnender Gott. Und diesen Gott soll man dann aber bitte auch noch genug lieb haben. Sonst droht ewige Verdammnis. Ein zwingender Gott, ein Gott, der nichts neben sich gelten lässt. Keinen Abzweig, kein Zögern, keinen Kleinmut, keine Zweifel.

So einen Gott, den haben die Mächtigen gern, weil sie mit ihm drohen können, auch wenn sie die menschlichen Gesetze meinen. So einen Gott, den haben die gern, die es sich einfach machen: schwarz oder weiß, Leben oder Tod, Sünde oder Segen. Doch so schlicht. So einen Gott haben die Groben gern, weil sie alle Zwischentöne, alles Suchen, alles Fragen vermeiden können. So einen Gott haben die Rechthaber gern, die behaupten, es gäbe nur schwarz oder weiß, weil es ihnen zu bunt geworden ist.

Wie eigentlich können wir angesichts eines solchen Textes behaupten, unser Gott sei der Liebevolle, der Gott, der behütet, der mit uns ist? Und wie können wir beteuern -womöglich noch mit abschätzigem Seitenblick auf andere Religionen -, die christliche Religion sei aufgeklärt und friedliebend? Wir seien doch von Haus aus die, die sogar die Feinde lieben und auch noch die andere Wange hinhalten. Wir seien doch von Haus aus die, die nicht Gehorsam, sondern Einsicht, nicht Gefolgschaft, sondern Nachfolge suchen, Das ist nicht so einfach, wenn in Texten der eigenen Tradition steht: „Aber alle diese Flüche wird der HERR, dein Gott, auf deine Feinde legen und auf die, die dich hassen und verfolgen." So in Vers sieben unseres Kapitels.

Mit einem solchen Text, da sehe ich schwarz. Wir sehen schwarz. Auf der Leinwand Dunkel, erdrückend, drohend. Wie sollen wir da wagen, Farbe ins Spiel zu bringen? Wie kann das gelingen? Wir werden es erleben und ich bin sehr gespannt. Leider kann ich mich nun selbst nicht dauernd umdrehen. Und ein wenig neide ich Ihnen die Möglichkeit, mitzuerleben, Pinselstrich für Pinselstrich sehen zu können, wie aus dem Schwarz Konturen hervortreten. Wie etwas Gestalt annimmt. Wie wir im Text vielleicht anderes finden, als nur schwarz.

Ein Versuch mag es auch sein, den Text aus der Zeit seiner Entstehung heraus zu lesen und zu verstehen. Es ist das 6. und 5. vorchristliche Jahrhundert. Das Volk Israel ist traumatisiert, der Tempel in Jerusalem, das zentrale Heiligtum, das die Identität des ganzen Volkes symbolisiert, war zerstört worden. Die Stadt wurde durch die Babylonier dem Erdboden gleichgemacht. Und das alles, weil Israel sich nicht unterwerfen und endgültig zum Vasallenstaat von Babyloniens Gnaden werden wollte. Es folgte Gefangenschaft für ein ganzes Volk, fernab der Heimat. Die Elite des Volkes Israel war ins Exil ins ferne Babylon geführt worden, für mehr als 60 Jahre. Und diese Deportation wurde gedeutet als Strafe Gottes dafür, dass man sich von ihm abgewandt und auch andere Götter angebetet hatte. Das Leben fern der Heimat machte das Sehnen groß. Nach dem vertrauten Zuhause, nach Israel und Jerusalem, ja wohl auch nach der guten alten Zeit. Und so fand eine Rückbesinnung statt auf vermeintlich gute, alte Werte. Schließlich, im Jahr 525 v. Chr., nachdem bereits die dritte Generation in babylonischer Gefangenschaft geboren worden war, erlaubte der mittlerweile regierende Persische König Kyros die Rückkehr der Israeliten ins „gelobte Land". Nicht alle sind wohl wirklich zurückgekehrt, einige hatten sich in der neuen Heimat eingerichtet. Doch viele kehrten zurück, mit über 60 Jahre wach gehaltener Erinnerung an früher. Und in dem festen Glauben, dass allein Gott retten und aus der Gefangenschaft des Exils führen könne. In der neuen alten Heimat fand nun eine Neuausrichtung statt: Nie wieder Gotteszorn; nie wieder menschliche Untreue; nie wieder falsches Zutrauen; nie wieder Krieg! Und dass man angesichts einer solchen Geschichte die Worte gewaltig wählte und die Alternativen beachtlich groß machte - Leben oder Tod, Rettung oder Verdammnis, Segen oder Fluch -das kann man nachvollziehen. Gott allein ist der, der rettet, Gott ist der, der verdammt, nicht aus Willkür, sondern als Strafe für menschlichen Größenwahn, darum liebe Leute: Wählt das Leben!

Ja, solch ein historischer Rückblick mag beim Einordnen helfen. Aber was bleibt ist, dass wir den Text heute mit unseren Ohren, mit unserem Herzen, mit unserer Geschichte kaum verstehen können.

Freiheit und Aufklärung, Achtung und Wertschätzung der anderen, Vielfalt und Differenzierung - all das scheint nicht vorzukommen. Wir sind auf einer Insel der Alternativlosigkeit. Das kennen Sie, das sagen Politiker gern, sogar Politikerinnen mitunter: „Dazu gibt es keine Alternative!" Aha, denkt man dann, zum Gegenteil gab es vor einem halben Jahr auch schon keine Alternative. Und so könnten wir Gott wohlgefällig stimmen, wenn wir uns nach ihm richten - alle und alles andere ist von Übel. Da ist keine Bergpredigt, die den Anderen, den Nächsten im Blick hätte, da gibt es keine andere Religion neben mir, da sind nur Gott und seine klaren Erwartungen.

Wir rufen heute: Nein, so nicht!. Das wird nichts, nicht mit deinem Menschen, Gott. Du hast ihm doch Verstand gegeben an dem Tag, als du ihn schufst! Du hast ihm die Freiheit gegeben, schon im Paradies, sonst hätte er ja nicht den Apfel essen können. Du hast ihm Verantwortlichkeit zugetraut, als du die Tore des Paradieses geöffnet hast, du hast deinen Menschen „wenig niedriger gemacht als dich selbst" (vgl. Psalm 8), hast ihm Größe gegeben und willst keine Gottesmarionetten. Du hast noch nicht einmal Adam und Eva nackt dastehen lassen, als sie ungehorsam waren. Und das soll alles gleich zu Ende sein, wenn wir nicht gehorchen? Nein, so nicht!

Wir könnten uns natürlich trösten damit, dass nach dem Alten ja noch das Neue Testament kommt. Eben mit Bergpredigt. Aber hilft uns das weiter? Das Alte Testament, so oder so, gehört zu unseren Wurzeln. Vielleicht können wir uns aufmachen und wie Luther seinerzeit in den Text hineinzukriechen. Und nach dem suchen, was unser Herz erreicht, nach dem, was wir hören können, und nicht das ist, was ermüdet und ängstigt. Hören wir also noch einmal, und vielleicht ganz anders:

(Textlesung Dtn 30,6.16-19)

Du großer Gott! Alt werden und wohnen bleiben, in dem Land, das versprochen ist. Lieben dürfen und Leben erwählen. Da spricht Gott mir direkt ins Herz, er will, dass ich gehorche. Das kommt zuerst einmal von horchen, vom Hören. Das Herz, das hört, was Gott zu sagen hat. Das Herz, das keine anderen Götter mehr anbeten muss, weil es diesen einen Gott gehört hat und nun zu ihm gehört. Gehört! Hören und gehorchen also, nicht blind und gegen den eigenen Willen unter Androhung von Strafe. Sondern aufmerksam, ganz und gar - und mit der Möglichkeit frei zu entscheiden. Gott zwingt nicht, zwingt uns nicht ins Leben. Eher im Gegenteil vielleicht. Gott fordert nicht, sondern ermöglicht, er erzwingt nichts, er droht nicht, sondern ermöglicht, das Leben zu wählen. Gott will nicht Vasallentreue, sondern verheißt Lebenswege. „Du wirst anderen Götter - heißen sie Geld oder Gesundheit, Gier oder Größenwahn - nicht nachlaufen, sondern Gott die Treue halten, weil er dich frei macht."

„Ich habe euch Leben und Tod, Segen und Fluch vorgelegt", heißt es in Vers 19. Vorgelegt! Wer in einer Verwaltung arbeitet, weiß, was das ist, eine Vorlage. Da werden Entscheidungen vorbereitet, Argumente benannt, Gegenargumente aufgeführt und auch die Kosten müssen ausgewiesen werden. Eine gute Vorlage hat die Dinge durchdacht, ohne den Anspruch zu erheben, es gäbe nur einen Weg. Eine gute Vorlage suggeriert nicht, der vorgelegte Weg sei der alternativlos einzige. Eine Vorlage legt offen, legt aus, macht eine begründete und kundige Entscheidung möglich. Und es entscheiden nicht diejenigen, die die Vorlage erstellt haben. Das tun die, denen sie vorgelegt wird, die sie hoffentlich gründlich gelesen haben. Die Mängel entdeckt, Nachfragen gestellt haben und womöglich aufgrund der Vorlage zu einem ganz anderen Ergebnis gekommen sind. Aber Gott hat uns nicht im Verwaltungssinn eine Vorlage geschrieben, sondern einen Weg ins Leben vorgelegt. Zum Glück hält sich Gott weder an den Dienstweg noch gibt es bei ihm elektronische Zeiterfassung oder Umlaufmappen. Aber: Erführt uns Möglichkeiten vor Augen, er überlässt uns aber nicht der Willkür, sondern eröffnet uns die Entscheidung zum Leben. Leben oder Tod (und wenn es uns einfällt, ja vielleicht auch was dazwischen). Fluch oder Segen (und wenn es uns einfällt, nie wieder Fluch). Da ist er doch, der Gott der Freiheit. Der die Wahl zum Leben ermöglicht: Wähle den Weg, den Gott dir verheißt, weil er dir gut tut. Den Weg, der dir Zukunft schenkt. Der Weg, auf dem du alt werden kannst, deine Nächsten mit dir und sogar deine Nachkommen. Und ich, dein Gott werde bei dir sein auf diesem Weg, gebe dir Rat und Gebot, welcher Weg der ist, der zum Leben hilft. So wird Segen auf dir liegen, du wirst glücklich sein und behütet.

Schwestern und Brüder, Gott fordert nicht und lässt uns damit allein. Gott überfordert uns nicht und lässt uns immer wieder scheitern, um seine Macht und Überlegenheit zu beweisen und uns klein zu halten. Im Gegenteil: Gott gibt sich zu erkennen, er geht auf uns zu, er ist ganz nah - mitten im Herzen. Er senkt sein Bundeszeichen ein, er verspricht den Bund zu halten, er sagt zu, ganz nah, ganz da zu sein. Mitten im Menschen, in seinem Herzen. Es ist gerade nicht so, dass Gott etwas tut und daraufhin müssen wir ihn lieben, als Gegenleistung und mit der Drohung, dass andernfalls das Leben misslingt. Vielmehr tut er das Seine dazu, damit wir ihn lieben können und uns für das Leben in Fülle entscheiden. So müssen wir nicht klein bleiben, nicht mit eingezogenen Schultern gebückt durchs Finstere gehen. Gott richtet auf, lässt uns atmen, aufatmen, Licht sehen. Mit geradem Rücken und voller Zuversicht die nächsten Schritte gehen. Schwarzes bleibt nicht schwarz, Düsteres nicht finster. Gerne wüsste ich, ob es wohl Überwindung ist, den ersten Pinselstrich auf diese riesige schwarze Fläche zu setzen. Oder Gewissheit. Trotz vielleicht, oder einfach Lust? Henning Diers und ich haben vor ein paar Wochen gesprochen, wir haben geplant und überlegt, wie dieses Experiment hier heute gelingen kann. Und er hat mit fester Stimme gesagt: Ich bin sicher, das wird gut. Es wird funktionieren. Und am Ende wird nicht schwarz sein, sondern Figuren werden von Licht bestrahlt im Hellen stehen. Und ihre Herzen werden leuchten.

Das Beschneiden des Herzens, das ist das einschneidende Erlebnis, das wichtige, große. Das, was du nie vergessen wirst. Das, was du in dein Herz geschlossen hast, was dir viel wert ist. Das, was dein Schatz ist. „Denn wo dein Schatz ist, da wird auch dein Herz sein." Sie erinnern sich, unsere Kirchentagslosung. Das Herz als das, was uns ganz ausmacht, als Ort des Verstandes und nicht einfach der Gefühligkeit. In dieses Herz senkt Gott herab sein Erbarmen mit einem Zeichen. Nicht, dass es blutet und stirbt, sondern damit es Nahrung bekommt und lebt. So ist es mit dem Herzen. Es kann nicht für sich allein glücklich sein, einfach als menschliche Blutpumpe. Es braucht mehr. Die Kirchentagsübersetzung bringt uns auf die Spur; hier heißt es über das Beschneiden des Herzens: „Adonaj ist dein Gott. Adonaj wird sein Bundeszeichen in dein Herz senken und in das Herz deiner Nachkommen, damit du Adonaj lieben kannst - Adonaj ist dein Gott - mit verstehendem Herzen, mit jedem Atemzug, um deines Lebens willen" (Vers 6). (Chor singt, Maler malt.)

Schwestern und Brüder, unser Herz ist von Gott erfüllt. Und mit von Gott erfülltem Herzen, von ihm gemeint, beim Namen genannt und bezeichnet, können wir ihn lieb haben. Mit verstehendem Herzen und jedem Atemzug. Mit ganzem Herzen und von ganzer Seele dem trauen, was er uns mit auf dem Weg gibt, als Gebot, als Wegweiser, um unseres Lebens willen.

Warum eigentlich fällt uns das mitunter so schwer? Den elektronischen Navigationssystemen in unseren Auto und Handys trauen wir ja gern. Aus voller Seele. Es ist so erleichternd, dass man gar nicht mehr nachdenken muss und sich selbst den Weg suchen. „In hundert Metern rechts abbiegen. Dem Straßenverlauf zwanzig Kilometer folgen." Oder auch zunehmend ungeduldig: „Bitte wenden. Jetzt wenden!" Am Ende kommen wir meistens zum Ziel, mit dem elektronischen Gerät, manchmal auch trotzdem. Wir fahren hinter Umleitungsschildern her, im Museum folgen wir gern der Führungslinie und in öffentlichen Gebäuden erleichtert uns der Pfeil mit der Aufschrift WC mitunter immens. Warum ist es eigentlich so schwer, Gottes Wegen zu folgen? Warum scheint es so übermenschlich, den Weg seiner Gebote zu gehen? Warum nehmen wir doch lieber die Abkürzung, die sich dann leider als unbefahrbar erweist?

Es mag daran liegen, dass wir lieber auf die ganze Karte sehen, als nur auf den einen Punkt, der sich nach GPS bewegt. Es mag sein, dass wir feststellen, dass es zweimal rechts abgeht oder dass das alte Haus auf der linken Seite unser Interesse weckt. Es mag sein, dass es gar nicht das Wichtigste ist, schnell anzukommen, sondern gut, die Nebenstraße zu nehmen und vielleicht auch noch klüger und erfüllter anzukommen, weil wir unterwegs angehalten haben. Deswegen sagt Gott auch nicht einfach: Folgen sie dieser einen Straße für zweihunderttausend Kilometer ein Leben lang. Es gibt viele Straßen, breite Alleen und schmale Pfade, es gibt die Möglichkeit zu trödeln oder mal richtig durchzustarten. Es gibt Abzweigungen, für die es heute zu früh und morgen genau die richtige Zeit ist. Ich habe dir vorgelegt: Segen oder Fluch. Wir können erkennen, was uns das Leben bringt und was eher zerstört und Leid bringt. Und wir können tun, was wir erkannt haben. Jedenfalls gibt es nicht die Ausrede, wir hätten nicht darum gewusst.

(Textlesung Dtn 30,11-14)

In Vers 14 heißt es: „Denn es ist das Wort ganz nahe bei dir, in deinem Munde und in deinem Herzen, dass du es tust." Das Wort ist nah. Es geht nicht darum, dass andere es vielleicht besser können, es geht nicht darum, dass es erst mal noch jemand erklären muss. Es ist noch nicht einmal so, dass ein anderer Schuld wäre, weil er schließlich nicht zum Himmel fuhr und auch nicht übers Meer, um abzuholen, was du schließlich brauchst. Vers 19: „Ich nehme Himmel und Erde heute über euch zu Zeugen: Ich habe euch Leben und Tod, Segen und Fluch vorgelegt, damit du das Leben erwählst und am Leben bleibst, du und deine Nachkommen" Himmel und Erde als Zeugen, Segen und Fluch.

Ja, das ist pathetisch. Aber wer wollte bestreiten, dass wir sehr ernsthaft vor der Wahl stehen, so weiter zu machen wie bisher, oder eben umzudenken, umzukehren, anders zu handeln. Das ist die Wahl, vor der wir stehen. Und wir wählen frei, aber sehenden Auges. Und da wir es wissen, können wir nun auch damit anfangen oder noch mutiger weitermachen, so zu handeln, dass wir und unsere Nachkommen, auch die in der Ferne, lange leben und auf fruchtbarem Land bleiben.

Ein Pfarrer hat drei Apfelbäume im Garten. Jeden Morgen stellt er fest, dass Äpfel fehlen. Eine Weile nimmt er es hin, dann wird er ärgerlich und stellt ein Schild an den Baum: „Gott sieht alles." Am nächsten Morgen steht auf dem Schild: „Aber er verrät uns nicht!" Ja, Gott verrät uns nicht. Aber er legt uns ins Herz zu überlegen, was besser ist: Äpfel klauen oder Äpfel teilen. Nehmen, was man kriegen kann und sich vom Acker machen oder fragen, wer auf dem Acker gepflanzt und gegossen hat. Ausbeuten oder gerecht bezahlen. Verbrauchen als gäbe es kein Morgen, oder nachhaltig wirtschaften, um unseren Kindern und deren Kindern die Erde so bewohnbar zu hinterlassen, wie wir sie selbst als Geschenk bekamen.

„Und der HERR, dein Gott, wird dir Glück geben zu allen Werken deiner Hände, zu der Frucht deines Leibes, zu den Jungtieren deines Viehs, zum Ertrag deines Ackers, dass dir's zugute komme. Denn der HERR wird sich wieder über dich freuen, dir zugut, wie er sich über deine Väter gefreut hat." So besingt es Vers neun.

Liebe Schwester, Lieber Bruder, das Wort ist dir nah. Hier geht es ganz um dich. Jetzt bist du ganz auf dich gestellt. Auf dich gestellt, verantwortlich - und: nicht allein. Denn das Wort ist schon bei mir, in meinem Herzen, in meinem Mund. Man hat es mir ans Herz gelegt, man hat es mir in den Mund gelegt. Ans Herz und in den Mund. Beide können ja überlaufen, Herz und Mund, vor Glück hoffentlich, manchmal auch vor Trauer oder Enttäuschung. Ein Herz allerdings, das überläuft, wird nicht kleiner oder schrumpft etwa. Und ein Mund, der überquillt, wird nicht etwa leer. „Ich singe dir mit Herz und Mund, Herr meines Lebens Lust", dichtet Paul Gerhard. Und in Strophe 14 (ja, der war immer fleißig in den Strophen) heißt es. „ER ist dein Schatz, dein Erb und Teil, dein Glanz und Freudenlicht, dein Schirm und Schild, dein Hilf und Heil, schafft Rat und lässt dich nicht."

Da sind wir wohl an einer wichtigen Stelle. Herz und Mund, es ist alles schon da, es ist angelegt in uns. Er ist da, er lässt uns nicht, er ist sogar selbst unser Schatz. Das ist der Moment, an dem es um uns selbst geht. Jetzt wäre eine gute Gelegenheit, uns gegenseitig zu bestätigen, wofür oder wogegen wir sind. Fangen wir an: Gegen Atomkraft sind wir? (...jetzt müsste Applaus kommen...) Für mehr Entwicklungshilfe? Gegen unterirdische Bahnhöfe? Wer hier ist aus Stuttgart? Für gesundes Essen mit weniger Fleisch, gegen die Abholzung des Regenwaldes, für bessere Schulen? Das geht uns ans Herz und uns geht der Mund über. Aber ist das wirklich ernst gemeint? Ah, wir haben noch den anderen Teil vergessen. Das, was wir selbst tun können: weniger CO2, mit dem Fahrrad fahren, besonders hier auf dem Kirchentag, die Solaranlage auf dem Kirchendach, die Brot-für-die-Welt-Spende. Da ist unser Herz voll und der Mund geht über. Was aber, wenn auch das gar nicht gemeint ist?

Für eine Zeitschrift müsste ich einmal die Frage beantworten, was ich in den letzten 24 Stunden meines Lebens machen würde. Komisch, ich bin weder darauf gekommen, den Weltfrieden zu erlangen, noch eigenhändig alle Atomkraftwerke abzuschalten. Es ging mir darum, Menschen um mich zu sammeln, um Verzeihung zu bitten, Ungesagtes auszusprechen. Aber auch zu schweigen, das Meer zu sehen und zu tanzen. Am Ende, so dachte ich wohl, sind die großen Fragen die kleinen. Am Ende wohnt in meinem Herzen nicht die ganze Welt, aber ich verliere sie dennoch nicht aus dem Blick. So klein, so nah war das Herz da und der Mund übervoll, ja, mit dem und denen, die ich liebe. Es wird ein Apfelbaum gepflanzt, an diesem Tag. Aber eben keine ganze Plantage. Wie ergeht es Ihnen mit dem Gedanken an ihre letzten 24 Stunden, da wo sich alles verdichtet, intensiv wird und nur noch dieses eine Mal? Was ist es, was sie dann kaum lassen und kaum loslassen können. Was ist so nah am Herzen, dass es auch dann noch Platz findet?

Vielleicht fragen wir uns ja tatsächlich am Anfang eine Stunde lang, ob wir genug gekämpft haben und auch noch für das Richtige. Bleiben 23 Stunden. Ob wir uns dann fragen, ob wir leidenschaftlich genug waren? Ob wir verständlich und gut über das geredet haben, was unser Leben ausmacht, was uns mitgegeben wurde? All das Politische, all das Gerechte, all das Bewahrende? Vielleicht, und vielleicht ist der letzte Tag ja einer, an dem die anderen besonders gut zuhören und ich könnte von der Apfelsorte erzählen, die in einer EU-Richtlinie unterzugehen droht. Oder von dem Falter, dessen Flügelschlag einen Tsunami auslösen kann. Oder von dem Mädchen, das seine Geschwister versorgen muss, weil beide Eltern an Aids gestorben sind. Ich könnte dem Einen den Apfel, der Anderen den Falter, dem dritten das Kind an sein Herz legen und einer vierten meinen Anti-AKW-Button schenken. Weil vielleicht in Deutschland, aber doch nicht auf der Welt alles abgeschaltet ist. Vielleicht würde mich das erleichtern. Aber dann bleibt trotzdem noch etwas übrig. Etwas, das mehr ist, als all das zusammen: die Frage, ob ich inbrünstig, gut genug von meinem Gott geredet habe. Bin ich getröstet und konnte ich Trost weiter sagen? Konnte ich erzählen, dass Gott da war in Fukushima, mitten im Wind und im radioaktiven See? Dass er die Menschen in den Arm genommen hat und getröstet, auch die Verrückten, die immer an die Atomkraft geglaubt haben? Konnte ich erzählen, dass Gottes Trost darüber hinweg sieht, dass wir es alles nicht geschafft haben, zu langsam, zu uneinsichtig waren?

Nein, Gott hat nicht damit gedroht, uns umzubringen. Er hat uns gesagt, dass es Wege gibt, die ins Dunkle, in die Katastrophe führen. Und er hat uns den Verstand gegeben, das Helle vom Dunkel zu unterscheiden. Aber er hat nie gesagt, wenn du den falschen Weg gehst, gehst du allein. „Sei da, sei uns nahe Gott!" Das haben wir gesungen zu Beginn. „Da wohnt ein Sehnen tief in uns, oh Gott, nach dir, dich zu sehen, dir nah zu sein. Es ist ein Sehnen, ist ein Durst, nach Glück, nach Liebe, wie nur du sie gibst." Das ist unsere Hoffnung. Und es gibt sie, die Zusage. Gott lässt nicht allein. Und nicht nur das. Er gibt uns auch nicht auf. Er gibt nicht auf, an uns zu glauben. Daran, dass wir doch noch den anderen Weg gehen. So übervoll wir sind von Krisen und Sorgen, so wenig wir ahnen, wo der Ausweg ist und ob wir ihn schaffen, so misstrauisch wir gegen die da oben und nicht viel weniger gegen uns selbst sind, so wenig wir das Licht sehen am Ende dieser Unzahl von Tunneln, so sehr dürfen wir wissen: Gott geht mit. Auch noch mal mit zurück, wenn wir merken, dass wir uns verlaufen haben, um mit uns den anderen Weg zu gehen, der ins Helle führt. Denn daran glaubt er. An uns, an das, was er uns ans Herz und in den Mund gelegt hat.

Gott sei Dank und Amen.