Kirchentag 2011: Dialogbibelarbeit über 5. Mose 30, 6-20 auf dem Dresdener Messegelände, Halle 1

Anne und Nikolaus Schneider

(5. Mose 30, 6-20 nachlesen)

Teil 1: Die Beschneidung der Herzen, 5. Mose 30,6

(Anne Schneider:) „Und der HERR, dein Gott, wird dein Herz beschneiden“ – ein wahrlich starkes und eindrückliches Bild, mit dem der Text für unsere Bibelarbeit beginnt! Aber schwingt in dieser Verheißung nicht auch ein bedrohlicher und beängstigender Unterton mit? „Beschneidung des Herzens“ –, das klingt für mich so gar nicht nach zärtlicher Zuwendung und schon gar nicht nach einer Schmusepädagogik. „Beschneidung des Herzens“ – das klingt für mich nach einem schmerzhaften Eingriff und nach einer blutenden Wunde.

Ich habe zur Vorbereitung dieser Bibelarbeit das Stichwort „Beschneidung“ gegoogelt und in „HauptsacheGarten.de“ unter „Beschneidung von Bäumen“ die lapidare Feststellung gefunden: „Durch Beschneidung werden Wunden geschaffen.“ Und danach kam in diesem Text eine Warnung an Gärtner und Gärtnerinnen: „Um die positiven Auswirkungen des Schnittes nicht leichtfertig wieder zu verspielen, ist es wichtig, Säge oder Schere so einzusetzen, dass die entstandenen Wunden möglichst rasch wieder verheilen.“

Und noch einen Satz aus diesem Gartenratgeber fand ich - auch für unseren theologischen Zusammenhang - recht bedenkenswert: „Richtig durchgeführte Schnittmaßnahmen tragen dazu bei, dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen.“

Gut, ich weiß, dass ich diese Ausführungen zu der Beschneidung von Bäumen nicht so einfach auf das biblische Bild von der Beschneidung der Herzen übertragen kann. Und doch, auch mit dem biblischen Bild assoziiere ich einen schmerzhaften Eingriff. Einen schmerzhaften Eingriff Gottes an dem Zentrum des menschlichen Fühlens und Denkens.

Und meine Gedanken springen dann auch gleich weiter zu all den konkreten Leiderfahrungen, die Gott uns Menschen oft zumutet. Und ich frage mich: Sollen wir diese Leiderfahrungen gleichsam als „Schnitte“ Gottes verstehen, mit denen er verhindern will, dass uns die Bäume „in den Himmel wachsen“? Fügt Gott unseren Herzen Wunden zu, damit wir auf keinen Fall meinen, wir wären die Herren und Herrinnen über Leben und Tod und könnten auf seine – also Gottes – Gegenwart und Nähe verzichten?

Das Herz, so habe ich es gelernt, ist nach dem biblischen Verständnis die zentrale innere Instanz unseres Menschseins. Der Ort, an dem unsere Gedanken und unsere Gefühle, unsere Einsicht, unser Planen und unser Wollen miteinander und gegeneinander ringen und unsere Persönlichkeit formen. Heute würden wir all das wohl in dem Gehirn eines Menschen verorten. In der hebräischen Sprache gibt es gar kein Wort für „Gehirn“. So heißt es in den Sprüchen: „Behüte dein Herz mit allem Fleiß, denn daraus quillt dein Leben“ (Sprüche 4, 23).

Und dieser zentralen Quelle meines Lebens also fügt Gott nach biblischem Verständnis bewusst Wunden zu

  • damit ich mich nicht allein auf mich und meine Fähigkeiten verlasse?
  • damit ich „meinen“ Gott liebe mit dem „ganzen“, wenn jetzt auch verwundeten Herzen?

Ich will diese Frage einmal von meiner Person und meinen persönlichen Erfahrungen lösen und „theologisch abstrakt“ stellen: Ist die Beschneidung ein von Gott gewollter und bewirkter Schmerz am menschlichen Körper und am menschlichen Herzen, damit die beschnittenen Menschen sich zu ihrer Gottesbeziehung bekennen und – wie es in unserem Bibelvers heißt – damit sie „den HERRN, ihren Gott, lieben von ganzem Herzen und von ganzer Seele, auf dass sie am Leben bleiben“?

Und noch eine zweite Frage: Wie siehst du den theologischen Zusammenhang zwischen der „Beschneidung des Fleisches“ und der „Beschneidung der Herzen“?

(Nikolaus Schneider:) Ich will zunächst eine biblisch-exegetische Antwort auf deine zweite Frage versuchen: Abraham empfing das Bundeszeichen der „Beschneidung am Fleisch“ (1. Mose, 17) nach einer „Beschneidung am Herzen“. Damit meine ich: Abraham musste sich auf das Wort Gottes hin von vielen „Herzensangelegenheiten“ trennen. Er musste Abschied nehmen von seinem Vaterhaus und von seinem Vaterland (1. Mose 12). Er musste – allein im Vertrauen auf die Verheißung Gottes – in eine unbekannte und unsichere Zukunft aufbrechen.

Die Beschneidung seines Herzens bestand bei Abraham in einer radikalen Herauslösung aus gewohnten Lebenszusammenhängen: Sein altes Denken musste er überwinden und neue Lebensvollzüge musste er einüben. Die „Beschneidung am Fleisch“ ist dann bei Abraham gleichsam ein Siegel für seine Gottesbeziehung und für seinen Gottesglauben, die ihn bewegten und trugen, als er noch unbeschnitten war (vgl. dazu Römer 4,11). Diesen Gedanken, dass eine „Beschneidung am Herzen“ die Voraussetzung für die geistliche Wirksamkeit der „Beschneidung am Fleisch“ ist, macht auch der Prophet Jeremia seinem Volk ganz eindrücklich klar, wenn er im Namen Gottes spricht: „Beschneidet euch für den HERRN und tut weg die Vorhaut eures Herzens, ihr Männer von Juda und ihr Leute von Jerusalem, auf dass nicht um eurer Bosheit willen mein Grimm ausfahre wie Feuer und brenne, sodass niemand löschen kann“ (Jer 4,4).

Und diesen Gedanken des notwendigen Zusammenhangs von innerer und äußerer Beschneidung erläutert der Apostel Paulus auch der jungen Christengemeinde in Rom. Im zweiten Kapitel des Römerbriefes heißt es: „Die Beschneidung nützt etwas, wenn du das Gesetz hältst; hältst du aber das Gesetz nicht, so bist du aus einem Beschnittenen schon ein Unbeschnittener geworden“ (Röm 2,25).

Für Juden ist die äußere Beschneidung ein schmerzhafter Schnitt ins Fleisch, der ein Leben lang sichtbar bleibt und zeigen kann: Wir gehören zum Volk des Bundes mit Gott, zum dazu auserwählten Volk Gottes. Wir teilen den Glauben, der uns durch Abraham, Isaak und Jakob gezeigt wurde.

Dazu zwei Anmerkungen:

  1. Wir Christenmenschen haben dieses Bundeszeichen unserer „jüdischen Wurzel“ durch die Taufe ersetzt. Die Taufe schmerzt nicht und fügt den Kindern weder Wunden noch Narben zu, gerät dafür aber auch leicht und schnell wieder in Vergessenheit. Durch Taufgedächtnisgottesdienste versuchen Kirchengemeinden dem entgegenzuwirken.
  2. Für Jüdinnen gibt es kein entsprechendes Zeichen und Ritual!

Die äußere Beschneidung ist für Juden aber auch ein nachhaltiger Hinweis darauf, dass es Gott auf die Beschneidung ihrer Herzen ankommt. Beschneidung am Fleisch und Beschneidung am Herzen verweisen auf einander!

Die Beschneidung der Herzen soll zum einen vom Menschen an sich selbst vorgenommen werden. Im 10. Kapitel des 5. Buch Mose wird die Beschneidung der Herzen als Forderung Gottes an sein Volk beschrieben: „So beschneidet nun eure Herzen und seid hinfort nicht halsstarrig. Denn der HERR, euer Gott, ist der Gott aller Götter und der Herr über alle Herren“ (5. Mose 10,16.17a).

Zum anderen überliefert uns die Heilige Schrift aber auch die Zusage göttlicher Hilfe: In dem Vers für unsere Bibelarbeit – 5. Mose 30,6 – wird diese Forderung, dass Menschen als Antwort auf Gottes Heilshandeln ihre Herzen beschneiden sollen, ergänzt durch die Verheißung: Gott selbst wird die Herzen der Menschen beschneiden und ihnen so beim Prozess ihrer Reue und Umkehr helfen.

Und jetzt zu deiner ersten Frage: Ist die Beschneidung ein von Gott gewollter und bewirkter Schmerz, damit Menschen sich zu Gott bekennen und Gott lieben von ganzem Herzen und von ganzer Seele, auf dass sie – wie es in unserem Bibelvers heißt – „am Leben bleiben“?

Ich tue mich – wie du – schwer damit, aus dieser Bibelstelle eine theologisch-dogmatische Rechtfertigung herauszulesen für all die schmerzhaften Leiderfahrungen, die Gott uns Menschen zumutet. Ich möchte nur zwei Gedanken „andenken“ (weil es ja nur eine „Andacht“ und keine theologische Vorlesung ist) und zum Weiterdenken mit auf den Weg geben:

Zum einen möchte ich an die Kirchentagslosung von Köln (31. Deutscher Evangelischer Kirchentag 2007) erinnern: „Denn das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert und dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens“ (Hebräer 4,12). Das Wort Gottes wird auch im Neuen Testament nicht einfach mit „zärtlicher Zuwendung“ und „Schmusepädagogik“ identifiziert!

Zum anderen haben doch auch wir beide erfahren, dass Leiden, Schmerzen und Wunden uns auch Wege zu neuen und unerwarteten Gottesbegegnungen öffnen können. „Wenn das Leid, das wir tragen, den Weg uns weist“, so haben wir das Buch genannt, das von diesen Erfahrungen erzählt.

Ja, vielleicht beschneidet Gott auch heute die Herzen von Menschen, damit sie ihre Herzen neu für seine Liebe und für ihre Liebe zu Gott öffnen. Vielleicht sind auch die Wunden, die wir in unserer Seele und an unserem irdischen Leib tragen, Teil des Segens Gottes, der unsere Herzen für das unzerstörbare Leben gewinnen will. Das können wir nicht als eine allgemein gültige theologisch-dogmatische Antwort auf die Theodizee-Frage, also die Frage nach dem gerechten Handeln Gottes, festschreiben. Und es steht keinem Menschen zu, das Schicksal anderer in dieser Weise zu analysieren. Ein persönliches Bekenntnis betroffener Menschen über ihr Verstehen der eigenen Lebenskatastrophen kann es aber sein.

Teil 2: Das Gebot, das Gott heute gebietet, 5. Mose 30,11–14

(Nikolaus Schneider:) Ich will – bevor wir intensiver auf die obigen Verse der Tora eingehen – zwei ganz grundsätzliche theologische Vorbemerkungen machen, die den Umgang mit Texten aus den fünf Büchern Mose betreffen.

1. Vorbemerkung: Die Tora enthält nach jüdischem Verständnis das Wort und den Willen Gottes, den Gott exklusiv seinem auserwählten Volk Israel offenbart hat. Jede christliche Bibelarbeit zu einem Text der Tora steht deshalb in der Gefahr, Israel zu „berauben“, auch wenn wir die Tora als Teil der Heiligen Schrift der Christenheit verstehen (vgl. dazu Frank Crüsemann, Die Tora, Gütersloh Sonderausgabe 2005, S. 10). Der Gottessohn Jesus Christus bezeugt nach dem Matthäusevangelium, dass die Tora für ihn bleibender Gotteswille ist. In seiner Bergpredigt sagt er: „Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen“ (Matth 5,17).

Und auch der Apostel Paulus betont den unlösbaren Zusammenhang der Tora mit dem christlichen Glauben, wenn er im Römerbrief schreibt: „Wie? Heben wir denn das Gesetz auf durch den Glauben? Das sei ferne! Sondern wir richten das Gesetz auf“ (Röm 3,31). Für Paulus ist die Tora in Christus zur Erfüllung gekommen. Das hat für uns Christenmenschen zwei Konsequenzen:

  1. Uns erwächst die Identität stiftende Kraft aus unserer Nachfolge Christi. Und in dieser Nachfolge sind auch die Gebote der Tora wichtig. Vor allem ihre ethischen Forderungen bleiben die Richtschnur für unser Leben. Das Befolgen der ethischen Gesetze der Tora führt zu einem Leben in Frieden und Gerechtigkeit in dieser Welt. Anders ist es mit den Kultgesetzen: Unser Vertrauen in Christus ersetzt weitgehend das Halten der Kultgesetze. Dazu zitiere ich Johannes Rau: „Die Tora, die fünf Bücher Mose, war Jesu Bibel; mit seinem Tod und seiner Auferstehung ist sie nicht Makulatur geworden und nicht zum historischen Bestand; sie bleibt das Wort des lebendigen Herrn der Welt und der Gemeinde“ (aus Matthias Schreiber Hg: Wer hofft, kann handeln : Johannes Rau – Predigten, S. 12).
  2. Wir respektieren auch heute die Identität stiftende Kraft der Tora und des Bundes Gottes mit seinem Volk Israel. In diesem Geist will ich das Deuteronomium lesen und auslegen.

Und die 2. Vorbemerkung: In der Tora begegnen uns Texte aus einer uns sehr fremden Zeit und Welt. Mit großer innerer Distanz lesen wir viele Kultvorschriften und – hoffentlich! – alle Familien- und Sexualgesetze, die ihren Hintergrund in einer strengen patriarchalischen Familienstruktur haben. Andere ethische Texte der Tora aber gewinnen angesichts heutiger Probleme und Debatten eine überraschende Aktualität. Ich denke etwa an unser Ringen um menschenfreundliche und tragfähige Regelungen zur Zuwanderung und zur Integration von Flüchtlingen, ich denke an die Diskussionen um einen Schuldenerlass für überschuldete Menschen und Länder, an die Diskussionen um Sonntagsschutz und Feiertagsruhe … Das ist für mich die zweite notwendige theologische Herausforderung: die alten Texte der Tora als lebendiges Gotteswort für unsere Gegenwart, für unsere gesellschaftlichen Strukturen und für unsere ganz persönlichen Fragen und Entscheidungen zum Klingen zu bringen.

(Anne Schneider:) Gut, versuchen wir, uns diesen beiden Herausforderungen zu stellen! Wobei ich gestehen muss, dass ich mir um deine zuerst beschriebene Herausforderung weniger Gedanken mache als um die zweite. Vielleicht klingt das ja jetzt ein wenig „ketzerisch“, aber ich kann und will eigentlich nicht glauben, dass Gott sich fast zwei Millionen Jahre lang überhaupt nicht um seine Menschengeschöpfe gekümmert hat und dann vor ungefähr 4000 Jahren – auf die Menschheitsgeschichte bezogen also sehr spät – plötzlich entschied: Jetzt will ich mein Wort und meinen Willen den Menschen offenbaren, allerdings nur einem sehr kleinen und ganz exklusiven Kreis von Menschen.

Ich weiß ja, dass das Bekenntnis von der göttlichen Erwählung Israels als erstes und einziges „Gottesvolk“ zu den Grundlagen auch unseres christlichen Glaubens gehört. Aber ich hege Zweifel gegenüber allen Gottesvorstellungen und Glaubenszeugnisse, die eine von Gott gegebene und gewünschte „Exklusivität“ behaupten. Mir scheinen sie doch mehr menschliche „Hilfskonstruktionen“ zu sein. Wir Menschen – auch ich – brauchen „exklusive Gewissheiten“ für unser Selbstwertgefühl, für unsere Liebesbeziehungen und ganz besonderen Freundschaften und auch, um uns in einer Religion oder Kirche zu beheimaten. Ich glaube aber, dass Gott eine Verbindung und Beziehung zu allen Menschen gesucht hat und sucht und dass die von Gott offenbarten Worte und Weisungen allen Menschen gelten.

Die Aufnahme dieser Worte, die Antworten der Menschen und die schriftlichen Überlieferungen dieser Antworten waren und sind sehr verschieden. Und über die Frage, welche dieser Antworten wann und wo angemessen oder unangemessen waren und sind, können und müssen wir – um eines friedlichen und gerechten Zusammenlebens miteinander – durchaus diskutieren. Endgültige Urteile aber über den Wahrheitswert einzelner Antworten, also über den jeweiligen Glauben oder Unglauben von Menschen, will ich allein Gott überlassen.

Um es für unsere Bibelarbeit heute auf den Punkt zu bringen: Für mich enthält die Tora Glaubenszeugnisse von Menschen, die damals in Israel ihre Herzen für das Wort Gottes geöffnet haben. Ihre damalige Tradition, ihre Glaubens- und Gottesvorstellungen haben dann aber ganz wesentlich das uns jetzt schriftlich vorliegende Zeugnis dieses Gotteswortes mitgeprägt. Und ich lese und höre diesen Text aus der Tora heute – fast 3000 Jahre nach seiner schriftlichen Fixierung – mit meiner Tradition und mit meinen Gottes- und Glaubensvorstellungen. Und dabei ist die für mich entscheidende Frage: Was ist „das Gebot“, das Gott uns heute gebietet? Welches Wort Gottes will heute ganz nahe bei uns sein, in unserem Munde und in unsrem Herzen, dass wir es – heute! – tun?

(Nikolaus Schneider:) Eine wichtige Frage, vielleicht ja wirklich die wichtigste Frage für unser Leben! Und ich bin gespannt auf deine Antwort! Aber ich möchte vorher doch ein paar exegetische Anmerkungen zu diesen Versen der Tora machen:

Das 5. Buch Mose, das auch „Deuteronomium“ genannt wird, ist literarisch als eine Abschiedsrede des Mose – vor seinem Tod und vor dem Einzug des Volkes Israel in das Gelobte Land – gestaltet. Der Text unserer Bibelarbeit und auch das vorausgehende Kapitel 29 sind aber wahrscheinlich erst Jahrhunderte nach der sogenannten „Landnahme“ entstanden. Vermutlich erfolgte die Abfassung der Texte sogar erst nach der Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft und dem zweiten Einzug des Volkes Israel in das gelobte Land.

Beide Kapitel erzählen von einem neuerlichen Bundesschluss Gottes mit seinem Volk und schildern zuvor die grauenvolle Situation im Land Israel nach seiner Zerstörung durch die Babylonier. Als Ursache der Katastrophe wird Israels Abkehr von Gott beklagt: „… und sie sind hingegangen und haben andern Göttern gedient und sie angebetet … darum ist des HERRN Zorn entbrannt gegen dies Land …“(Kap 29,21–27).

Die dabei zugrunde liegende Vorstellung ist: Wenn das Gottesvolk Israel seinen Bund mit Gott bricht, wendet sich Gott ab und liefert sein Volk dem Unglück aus. Wenn Israel aber wieder zu ihm umkehrt, kehrt auch Gott wieder zu seinem Volk zurück und „lässt sich seinen Zorn gereuen“. Der Bund selbst wird durch den Bundesbruch Israels also nicht aufgelöst, denn die Möglichkeit der Umkehr lässt ihn in Kraft bleiben.

Die bitteren Erfahrungen des Exils und der Verwüstung des Landes sind für das Deuteronomium offensichtlich Ereignisse, die auch für nachfolgende Generationen mit dem eindringlichen „das geschieht heute!“ immer wieder neu beschworen werden müssen, damit die Bereitschaft zu Reue und Umkehr nicht verloren geht.

Im 5. Buch Mose – wie auch bei den Propheten – ist „Umkehr“ zunächst die Möglichkeit und die Herausforderung für das ganze Volk Israel. Umkehr wird aber zunehmend auch zu einer Möglichkeit und Verpflichtung jedes Einzelnen. „Vielleicht wird das Haus Juda, wenn sie hören von dem Unheil, das ich ihnen zu tun gedenke, sich bekehren, ein jeder von seinem bösen Wege, damit ich ihnen ihre Schuld und Sünde vergeben kann.“ So beschreibt der Prophet Jeremia diesen unlösbaren Zusammenhang der Gottesbeziehung des Volkes Israel mit der Gottesbeziehung einzelner Israeliten (Jer 36,3).

Neben vielen Einzelanweisungen ist die Forderung Gottes nach Reue und Umkehr also „das Gebot“ in unserem Text, das Israel zu allen Zeiten als „heute geboten“ zu hören hat. Das ist keine rein theoretische oder unerfüllbare Forderung. Dieses Gebot kann gelebt werden: „Denn das Gebot, das ich dir heute gebiete, ist dir nicht zu hoch und nicht zu fern. Denn es ist das Wort ganz nahe bei dir, in deinem Munde und in deinem Herzen, dass du es tust.“ Folgendes also ist für das biblisch-historische Verständnis unseres Textabschnittes grundlegend:

  1. Die Tora ist nicht übersinnlich und nicht unverständlich. Sie enthält kein Herrschafts- und kein Geheimwissen. Die Tora ist dem „normalen“ menschlichen Verstand und allem Volk zugänglich.
  2. Die Tora muss von Menschen nicht an unerreichbaren und unzugänglichen Orten gesucht werden. Gott hat in der Tora die Menschen gesucht. Die Tora ist nahe bei seinen Menschen. Gott will, dass die Menschen seines Volkes die Worte der Tora sprechen, um sie zu hören; dass sie die Worte der Tora hören und erzählen, sie laut und leise lesen, sie meditieren und lernen. Und dass sie die Worte der Tora tun!
  3. Für die Tora gehören Reue und Umkehr immer wieder neu und aktuell zu dem Leben des Gottesvolkes und zu dem Leben Einzelner aus dem Gottesvolk. Sie kennzeichnen ein solches Leben geradezu.

(Anne Schneider:) Fast könnte ich es jetzt damit genug sein lassen und bei deinem biblisch- historischen Verständnis unseres Textabschnittes „Tora“ durch „Gottes Wort“ sowie „Gottes Volk“ durch „Menschen, die ihr Leben an Gott binden“ ersetzen. Und hätte dann durchaus bedenkenswerte Antworten auf meine Frage: Was ist „das Gebot“, das Gott uns heute gebietet? Ich meine, es würde sich auch lohnen, das bei allen drei von dir genannten Aspekten einmal zu tun und für unsere Gegenwart durchzubuchstabieren.

Ich will mich hier aber – aus Zeitgründen – auf deinen dritten Gedanken beschränken. Du hast gesagt: „Für die Tora gehören Reue und Umkehr immer wieder neu und aktuell zu dem Leben des Gottesvolkes und zu dem Leben Einzelner aus dem Gottesvolk.“ Für uns heute würde das heißen: „Für das Wort Gottes gehören Reue und Umkehr immer wieder neu und aktuell zu dem Leben von Menschen im Bund mit Gott.“

Also, ich halte ja sonst nicht sehr viel davon, von so genannten „zeitlosen Wahrheiten“ zu sprechen. Aber dieser Satz, dass Reue und Umkehr kein einmaliger Akt im Leben von Glaubenden sein dürfen, gilt für mich tatsächlich durch die Jahrtausende hindurch.

„Gott erwartet von mir immer wieder neu Reue und Umkehr“ – das kann ich wirklich als Gottes Wort für mich heute verstehen. Für meine „kleine“ persönliche Alltagswelt und auch für die „großen“ politischen Zusammenhänge, in denen ich lebe und von deren Schuldverstrickungen ich doch so häufig profitiere.

Das ist übrigens die erste der 95 Thesen Luthers: „Da unser Herr und Meister Jesus Christus spricht: ,Tut Buße‘ (Matth 4,17), hat er gewollt, dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sein soll.“

Und auch Dorothee Sölle schrieb uns diese heute und an allen Tagen so notwendige Umkehr in unsere Herzen:

Ein Feigenbaum

Noch trägt unser baum keine früchte
noch schieben wir heimatlose ab
arbeiterinnen lassen wir nicht arbeiten

noch liefern wir den folterern
was immer sie brauchen können
und schnüren den ärmsten die kehle zu
dass auch ihr schrei uns nicht stört
noch wartet gott vergeblich

noch liegt unsere zeit in den händen der mächtigen
sie leiten gift in die flüsse
amüsantes in unseren bildschirm
schwermetalle in unser essen
und angst in unser herz

noch schreien wir nicht laut genug
wie lange noch gott
wie lange willst du dir das noch ansehn
ohne ihn umzuhaun deinen feigenbaum

noch haben wir nicht gelernt umzukehren
noch weinen wir selten
noch

(Aus: Dorothee Sölle, Den Rhythmus des Lebens spüren, S. 58)

„Lerne zu bereuen und umzukehren!“ Dieses Gebot Gottes ist meinem Mund und meinem Herzen deshalb auch „heute“ sehr nahe, ich kann und will es begreifen. Gottes Geist schenke mir und dir und uns allen die immer wieder neu nötige Kraft und Phantasie, dass wir es auch tun.

Teil 3: Die Wahl zwischen Leben und Tod, 5. Mose 30, 15–20

(Anne Schneider:) Das klingt alles so plausibel und einfach: Gott, der Schöpfer und Herr des Himmels und der Erde, hat die Menschen so erschaffen, dass sie sein Wort und seinen Willen hören, begreifen und tun können. Und zum Wohl der Menschen zieht Gott sich nach seinem Schöpfungshandeln nicht einfach in sein jenseitiges Gottesreich zurück. Um eines gerechten und friedlichen Zusammenlebens auf der Erde willen schließt Gott einen Bund mit den Menschen und schenkt ihnen Weisungen und Gebote, die ein erfülltes und gesegnetes Leben für Einzelne und für die Gemeinschaft ermöglichen.Gott legt den Menschen dabei gleichsam eine Liste vor. Auf der einen Seite steht all das Gute, das zum Leben führt. Auf der anderen Seite das Böse, das Sterben und Tod nach sich zieht. Und Gott weiß dabei auch um die Notwendigkeit und um die Wirksamkeit von pädagogischen Methoden und Mitteln. Gott weiß, dass der Gehorsam gegenüber seinen lebensförderlichen Weisungen leichter fällt, wenn Menschen eine positive emotionale Beziehung zu ihm haben, wenn sie IHN, den Schöpfer des Himmels und der Erden, auch als „IHREN“, ihnen also ganz persönlich zugewandten, HERRN UND GOTT lieben und verehren. Darum ist das sein erstes und entscheidendes Gebot an die Menschen: Du sollst Gott lieben und ihm allein anhangen! Gott weiß auch um die Notwendigkeit und Wirksamkeit von Wiederholungen und der immer wieder neuen aktualisierenden Vergegenwärtigung geschichtlicher Erfahrungen. Darum erinnert Gott sein Volk immer wieder neu und ganz eindringlich an seine alten Verheißungen, an seinen Bund mit Abraham, an die Befreiung aus der Sklaverei in Ägypten und an das Geschenk des „Gelobten Landes“. Aber er erinnert sein Volk auch an die Tage seines Zorns, an die tödlichen Schrecken von Vertreibung und Exil. „Belohnung und Strafe“ ist das pädagogische Mittel, mit dem Gott die Menschen dazu bringen will, „das Leben und das Gute“ zu wählen und „den Tod und das Böse“ zu verwerfen.

Das klingt alles sehr plausibel und einfach. Aber das war und ist im konkreten Leben dann doch sehr viel komplizierter!

Das war und ist doch schon schwer und kompliziert für das Volk Israel. Die Schriften des so genannten „ Alten Testamentes“ geben uns davon ein beredtes Zeugnis. Und auch jeder Versuch, die heutige politische Lage in Israel unter der Perspektive: „Auf welches konkrete Entscheiden und Tun zielt jetzt denn das Wort Gottes?“ eindeutig zu beurteilen, wird doch scheitern!

Gott hat den Menschen mit der Gottesebenbildlichkeit die Freiheit und die Verantwortung geschenkt, sich zu entscheiden. Wir haben die Wahl, das eine zu tun und das andere zu lassen – das möchte ich schon aus dem Text unserer Bibelarbeit in den heutigen Tag mitnehmen. Aber wir sollten uns davor hüten – als Einzelne und auch als Kirche –, so zu tun, als könnten wir aus diesem Text oder aus anderen biblischen Texten eine eindeutige und leicht handhabbare Liste ableiten. Eine Gebots- und Verbotsliste für alle die konkreten ethischen und politischen Entscheidungen und Handlungen, die entweder dem Leben oder die dem Tod dienen.

(Nikolaus Schneider:) Dem stimme ich zu. Das gilt für mein persönliches Leben wie für die Ausübung meiner Ämter in Düsseldorf und Hannover. Ich denke, unser Ringen um eine vor Gott und vor den Menschen zu verantwortende Stellungnahme etwa zur Präimplantationsdiagnostik oder zum Afghanistankrieg gibt davon Zeugnis.

Aber jetzt will ich einen Text von Dorothee Sölle zitieren, der mir als Kontext zu den obigen Versen der Tora sehr wichtig ist: „Die christliche Tradition sieht den Menschen als schuldfähig an, ja sie erkennt seine Würde darin, dass er schuldig werden kann. Weil er schuldig werden kann, ist er ein Mensch, und nur solange er schuldig werden kann, ist er in vollem Sinn des Wortes ein erwachsener Mensch. Wenn er nur nach bestimmten, ihm vorgegebenen Gesetzen funktioniert, so tritt er sozusagen zurück in die Unschuld des Tieres. Es liegt schon eine ungeheure Verachtung darin, von jemandem zu sagen: ‚Lass ihn, er kann nicht anders‘“ (aus: Dorothee Sölle: Den Rhythmus des Lebens spüren, S. 42).

Die jüdisch-christliche Tradition hat aus der Gottesebenbildlichkeit des Menschen auch eine – wie Dorothee Sölle es nennt – „Lehre von der Nachahmung Gottes“ entwickelt. Ich zitiere sie noch einmal: „Gott nachahmen bedeutet sehr einfache Dinge: die Nackten kleiden, so wie Gott Kleider für Adam und Eva machte; es bedeutet, die Toten begraben, weil Gott selbst den Mose begrub; es bedeutet, die Hungrigen speisen, wie Gott den Elia durch Raben speiste. Es bedeutet, Gerechtigkeit herzustellen und nicht länger in der Ohnmacht zu verharren“ (a.a.O., S. 39f).

Also: auch wenn uns die Tora und die Bibel keinen Kriterienkatalog liefern, um alle konkreten Entscheidungen und Taten eindeutig dem Leben oder dem Tod zuzuordnen, so sind beide durchaus so etwas wie Wegweiser zu einem gesegneten und erfüllten Leben. Kein „Navi“, aber ein Kompass!

Für die Israeliten damals zu biblischen Zeiten galt:

  • Gott ist im Bund mit seinem Volk und schenkt ihm Weisungen für das konkrete Leben als Einzelne und in der Gemeinschaft.
  • Allen, die den Weg der Tora verlassen, kommt der Segen Gottes abhanden. Wer den Gott des Lebens preisgibt, überlässt sich dem Tod.
  • Gott lässt den Menschen seines Volkes die Wahl. Gesegnetes Leben in dem Gelobten Land ist ihnen und ihren Nachkommen aber nur verheißen, wenn sie das ihnen von Gott Gebotene auch tun!

Die Israeliten hatten und das jüdische Volk heute hat die Wahl. Und auch wir Christenmenschen haben heute die Wahl. Das ist mir ganz wichtig. Um Gottes und um der Menschen willen können und müssen wir handeln, angeleitet durch Gottes Gebote und nach dem Vorbild Jesu Christi verantwortlich handeln. Wir machen dabei Fehler und wir werden Gott und den Menschen gegenüber schuldig. Aber wir können bereuen, wir können umkehren und uns wieder neu an Gottes Willen und seinem lebendigen Wort Jesus Christus ausrichten. Das ist das Wort, das Gott uns immer wieder neu in unsere Herzen schreiben will.

Eigentlich können wir doch nur das Leben wollen! Wenn wir nicht handeln, wenn wir keine Verantwortung üben wollen und keine neuen Wege wagen, dann verspielen wir unser Leben und die Zukunft unserer Kinder. Unsere Katastrophe heißt nicht: „Verlust des Gelobten Landes“. Unsere Katastrophe hat viele Namen:

Sie heißt „Gottlosigkeit und Vergötzung des Marktes“, sie heißt „Überschätzung und Überhöhung der Naturwissenschaften“, sie heißt „Klimakatastrophe, Umweltzerstörung und Flüchtlingsströme“, sie heißt „Ausbeutung, Hunger und Ungerechtigkeit“, sie heißt „Folter, Krieg und Terror“.

Wir gehen auf Pfingsten zu. Pfingsten ist das Fest des Heiligen Geistes. Das Fest der Kraft Gottes, die Jesus Christus uns verheißen hat. Die Kraft Gottes will uns zur Nachfolgern und Nachfolgerinnen des Auferstandenen machen. Die Kraft Gottes befähigt uns zur „Nachahmung“ Gottes! Die Kraft Gottes wird uns helfen, das Leben zu wählen. Heute und an allen Tagen unseres Lebens, selbst in der Stunde unseres Todes!

(Anne Schneider:) Das wäre eigentlich schon ein schönes Schlusswort für unsere Bibelarbeit. Aber mich drängt es doch noch einmal zurück zu unserem ersten Teil, zu der „Beschneidung der Herzen“. Du hast da am Ende gesagt: „Vielleicht beschneidet Gott auch heute die Herzen von Menschen, damit sie ihre Herzen neu für seine Liebe und für ihre Liebe zu Gott öffnen. Vielleicht gehören die Wunden, die wir an unserem irdischen Leib tragen, mit zu dem Segen Gottes, der unsere Herzen für das unzerstörbare Leben gewinnen will.“ Das hat mir sehr gefallen. Weil du damit keine dogmatische Antwort auf die Theodizee- Frage versucht hast, sondern auf eine persönliche Erkenntnis abhebst: Menschen können die Erfahrung machen, dass Schicksalsschläge, Wunden und Schmerzen zu Reue und Umkehr und neuem Leben führen.

So wie Israel in unserem Text die Zerstörung der staatlichen Existenz und die schrecklichen Leiden der Menschen damals als Voraussetzung seiner Umkehr zu Gott und der Rückkehr in das Gelobte Land verstanden hat. Eigene, ganz persönliche Leiderfahrungen und auch das Mit-Leiden mit anderen Menschen sind schmerzhafte Prozesse für unser Fühlen und Denken – in der biblischen Sprache also für unsere Herzen. Aber diese schmerzhaften Prozesse können für uns sinnerfüllt sein. Sie können zu Reue und Umkehr und zu einem neuen Fragen nach Gottes Wort und Willen führen.

Es war und bleibt für mich problematisch, wenn „von außen“, also von anderen Menschen den Leidenden erklärt wird: „Hier ist Gott am Werk. Gott beschneidet dir jetzt dein Herz, damit du Abschied nimmst von selbstbezogenem Denken und Handeln. Gott fügt deinem Herzen jetzt eine schmerzhafte Wunde zu, damit du dich herauslöst aus deinem alten Denken und aus deinem alten Leben.“ Ich denke, es steht nur den Leidenden selbst zu, ihre ganz persönlichen Leiderfahrungen mit Gottes direktem Eingreifen und Handeln in Beziehung zu setzen. Aber im Blick auf das Leiden und Sterben Jesu am Kreuz (das Kreuz lässt sich ja vielleicht auch als „Selbstbeschneidung“ Gottes deuten …) und im Glauben an den Auferstandenen gilt doch für alle Leidenden und Mit-Leidenden und für alle, die Verletzungen, Wunden und Narben an ihren Herzen tragen: Leiderfahrungen müssen uns nicht von der Gegenwart und Liebe Gottes trennen. Auch die Verwundungen unserer Herzen können neue Gottesbegegnungen ermöglichen und uns neues Leben eröffnen! Dann wird die Beschneidung unsere Herzen zwar verhindern, dass „unsere Bäume in den Himmel wachsen“ (siehe den Turmbau zu Babel!), aber sie wird gleichzeitig dazu führen, dass unsere Herzen mit dem Himmel verbunden bleiben!