Kulturkirchen – nur weiße Schimmel? – Theologische Überlegung zu einem umstrittenen Begriff

Petra Bahr, Kulturbeauftragte des Rates der EKD

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

ist Ihnen aufgefallen, dass dieser Kirchenkulturkongress unter der Hand auch in vielen Ihrer schriftlichen Rückmeldungen zum Kulturkirchenkongress geworden ist? Viele von Ihnen kommen aus einer Gemeinde, die sich selbst unter die Kulturkirchen einreiht oder von anderen so genannt werden. Manche schreiben das Wort in Anführungsstriche, andere setzen die beiden Ks in Kapitälchen. So wird ein Kunstwort draus, an dem Grafiker ihren Spaß haben. Außerdem finden die Workshops am Freitag und Samstag in Berliner Kirchen statt, die auf die eine oder andere Art wie Kulturkirchen sein wollen. Erlauben Sie mir deshalb ein paar grundsätzliche Überlegungen über eine umstrittene Redewendung.

Kulturkirchen sind weiße Schimmel – sprachlich gesehen eine doppelte Verstärkung, eine poetische Figur, die man im Grunde auch weglassen kann. Sind nicht alle Kirchen Ausdruck von Kultur, steinerne Zeichen einer unauflöslichen Verbindung von Ästhetik und Liturgie, von Kunst- und Baugeschichte, von weltlicher und religiöser Macht, von konfessionellen Eigenheiten und der blutigen wie großartigen Religionsgeschichte des europäischen Kontinentes. Kaum ein touristisches Zentrum, das heutzutage nicht mit seinen Kirchen wirbt. In bunten Reiseführern werden den sogenannten Kulturtouristen, die eine ganze Dienstleistungsbranche selbstbewusst wie missverständlich von Erlebnis- und Abendteuertouristen abgrenzt. Ihnen werden mittelalterliche Fresken und Orgeln aus dem 18. Jahrhundert, Schnitzaltäre und die Kirchbauarchitektur regionaler Meister angedient. „Bereisen Sie die Kulturgeschichte des christlichen Abendlandes“ heißt es in einem der Exemplare in Berlin, die in drei Sprachen am Eingangsportal für drei Euro zu erwerben sind. Es stimmt ja auch: mit den Kirchen auf Dorfern und in Städten ragen Erinnerungszeichen in den Himmel, die rückwärts weisen, in die Geschichte des Ortes, in die Geschichte einer Landschaft und in die individuelle Lebensgeschichte derer, die in diesen Räumen geistlichen und bisweilen auch nur körperlichen Schutz gesucht haben. Wer mit Kamera vor dem Bauch und in bequemen Schuhen eine Kirche betritt, genießt die angenehme Kühle und den Geruch aus fernen Zeiten, eine Spur von Kerzentalk und das Parfüm der Großmutter des letzten Täuflings liegen noch in der Luft. Er sieht einen Raum eigener Güte, der sich von Bankfoyers und Museen genauso unterschiedet wie von Schulaulen oder gar Wohnzimmern. Das ist deshalb nicht selbstverständlich, als hier tatsächlich hochwertiger oder auch nur ans Herz gewachsener Kunst zu sehen ist.

Doch eine Kulturkirche im anspruchsvollen Sinne des Wortes ist mehr als die Schutzhülle einer kulturell bedeutenden Historie. Sie ist ein lebendige Orte und ein sozialer Körper – Kirche ist zuallererst immer noch die Bezeichnung für die, die Teil der Kirche Jesu Christi sind. Kulturkirchen – es gibt Leute, die sehen rot, wenn sie das Wort nur hören. Geht es bei dieser bestenfalls poetischen, schlimmstenfalls unbedarften Zusammensetzung des Wortes um eine Abgrenzung von Kirchen, in „nur“ denen ein mehr oder weniger reges, aber „normales“ Gemeindeleben stattfindet? Wie wäre das „nur“ und das „normal“ dann im Kontrast zu etwas anderem zu bestimmen? Ist das Substantiv „Kultur“ in Kulturkirchen wie ein Etikett, wie ein Gütesiegel, das eine Art Ranking zulässt? Ab einem bestimmten programmatischen Aufwand, ab einem bestimmten Niveau der Kantorei, ab einer bestimmten Güte des Kirchraums wird „Kultur“ an das Kirchenportal geschraubt, aus Messing und schön poliert? Und welche Kultur fällt denn unter diesen Begriff? Nur das, was allgemein immer noch unter „Hochkultur“ verstanden wird? Nur das, was es ins regionale Feuilleton schafft oder im Gegenteil das, was es nie dorthin schaffen wird? Ist „Kultur“ eine Art Bonus für die besseren Stadtviertel oder gar eine Abgrenzung derer, die sich als etwas Besseres fühlen? Gibt’s dann bald auch Popkultur- oder gar Subkulturkirchen, Politikkirchen, Wirtschaftskirchen? All dieses steht als Verdacht im Raum.

1. In protestantischer Perspektive leben Kulturkirchen aus dem Zentrum des christlichen Gottesdienstes, auch wenn der Protestantismus als Teil und Reflexionsbewegung der Kultur nicht auf seine Kirchlichkeit verrechnet werden darf. Kulturkirchen wollen Orte des Ausdrucks lebendigen Glaubens sein. Deshalb ist die Kamera auf dem Bauch und der kunstgeschichtliche Blick zwar erwünscht, er verhindert aber unter Umständen, dass das, was diese Kirchen zu Kulturkirchen macht, überhaupt wahrgenommen wird. Kulturkirchen wollen programmatisch Räume sein, die sich unserer Zeit öffneen und die von unserer Zeit, ihren Fragen und Sehnsüchten durchdrungen sind. Deshalb sind sie auch mehr als „coolen Locations“, die von ambitionierten Agenturen für Events der Sonderklasse gebucht werden. Manche der Kulturkirchen im Lande verwandeln sich in so einen ungewöhnlichen Veranstaltungsraum, der an sogenannte Eventagenturen, also professionelle Erlebnisverdichter, vermietet wird. Diese Kirche hier gehört dazu. Doch die Widmung der meisten Gebäude bleibt gottesdienstlich und die Gemeinde, die sich hier versammelt, entscheidet darüber, was in Ihrem Raum stattfindet und was nicht. Professionelle Beratung ist da sicher hilfreich. Die Gemeinde hat Kriterien entwickelt und versucht, sich in ihren Entscheidungen treu zu bleiben. Wie das geht: wie Kirchenräume durch die Musikformen der Gegenwart zum Schwingen gebracht wird, wie Tanz und Theater den Raum neu erlebbar machen, wie eine Dorfkirche sich in einen Kinosaal verwandelt und sich doch in die laufenden Bildern Fragen des christlichen Glaubens so stellen, wie es eine Predigt nur ganz selten vermag, wie eine künstlerische Intervention die alten Tafelbilder zu irritierenden Gegenwartskommentaren verlockt, wie Literatur den sprachlichen Klischees zu Leibe rückt, die sich in den Gottesdienst und in die Sprache der Gläubigen eingeschlichen hat? Fragen Sie ihren Nachbarn oder ihre Nachbarin, nachher, beim Wein, in der Umbauphase. Erzählen Sie sich, wie sie das machen und welche Flause Sie noch im Kopf haben. Beraten Sie sich.

Für mich sind Kulturkirchen sind schlicht Kirchen, die ihre kulturelle Dimension explizit machen, die den kulturellen Kontext, in dem sie stehen, sichtbar werden lasen und die ihre eigene Deutungskraft der Gegenwartskultur hinterfragen so wie sie sich von der Gegenwartskultur befragen lassen. Die beliebten Einteilungen – Exzellenz und Breitenkultur, Ernst oder Pop sind zweitrangig. Kulturkirchen sind Kirchen, weil sie es sein wollen, weil sie in dieser Beschreibung einen Schwerpunkt ihres Selbstverständnisses sehen, das gleichzeitig Aufgabe und Herausforderung ist. Wenn es gut läuft – und das Scheitern und Verfehlen muss in evangelischen Gotteshäusern immer möglich sein – dann werden Kirchen in diesem Sinne zu kulturellen Orten, die das zum Thema machen, was vieler Orten und Gemeinden unthematisch bleibt.

2. Auch in Kulturkirchen steht die Gottesfrage im Mittelpunkt und in dieser Frage die Frage nach dem Menschen, nach seiner Herkunft und seiner Zukunft, nach seinen Gewissheiten und seinen Zweifeln. Deshalb vollzieht sich in den kulturellen Experimenten eine Achsendrehung gegenüber kulturellen Experimenten in anderen Räumen. Nicht, weil Kirchenräume, ob alt oder neu, aus sich selbst heraus heilig oder exponiert wären. Sie sind als besondere Orte gebaut und werden als solche wahrgenommen, weil sie eine Aufgabe haben: Der Suche nach Gott einen festen Ort zu geben, der sich in dem Moment zu einem heiligen Ort verwandelt, wo Menschen sich auf diesen Gott, der ihnen in Christus nahe kommt, ausrichten. Die Menschen, ihre innere und äußere Orientierung, ihre explizierten und impliziten Gedanken und Gebete machen Kirchen zu heiligen Räumen. Dieses evangelische Kirchenverständnis ist Grundlage für die Öffnung zur Kultur, in und mit der man lebt. Die kulturellen Leidenschaften und Prägungen kommen nicht von außen, sie kommen mit denen, die diese Gotteshäuser bewohnen, ob als seltene Gäste oder als Dauerbewohner. Es ist selbstverständlich in diesem Verständnis nie ausgeschlossen, dass sich Fragen nach dem Sinn der eigenen Existenz auch an ganz profanen Orten aufdrängen. Gott braucht keine Kirchen. Aber Menschen brauchen sie. Sie sind phantastische Hilfskonstruktionen für den ablenkbaren, Geist und Sinn des Menschen, sich zu konzentrieren, ja, sich überhaupt als einen „Jemand“ wahrzunehmen, der mehr und anderes ist als die Rollen, die er in seinem Alltag auszufüllen hat. Kirchräume haben sich dieser Aufgabe verschrieben, als Räume des Unverfügbaren, in denen Menschen sich wieder als unverrechenbare Individuen erfahren. Kirchräume sind Manifestationen einer Frage und der tiefen Überzeugung, dass auf die Frage nach der eigenen Existenz in Gott, der sich durch Christus menschlich gemacht hat, eine Antwort wartet, die eine neue Deutung des eigenen Lebens möglich macht. Die Kulturkirchen, die ich kenne, wollen auf ihre Weise die Herausforderung annehmen und einen Beitrag zur Deutung der Grundannahme leisten, dass in der Festlegung des christlichen Glaubens ein Freiheitsversprechen steckt, dass Menschen heute die Angst vor der Freiheit nimmt – auch die Angst vor der Freiheit der Künste.

Nun könnte man mit Recht fragen, warum Kirchen sich denn in dieser Weise mit den Künsten der Gegenwart beschäftigen sollten. Wofür braucht es das Musiktheater Paulus, wenn die Passion von Bach die Kirchen im März und April rammelvoll sind? Warum sollte vor dem Altar eine Kinoleinwand aufgezogen werden, wo doch die Kirchenbänke viel unbequemer sind als die roten Plüschsessel im Filmpalast? Warum sollen Tänzerinnen den Kirchenraum ausloten, wenn die Protestanten schon beim Friedensgruß aus Verlegenheit vor soviel Körperlichkeit einen roten Kopf bekommen? Warum soll ein bildender Künstler den Christus auf dem Altar auf den Kopf stellen? „Konzentrieren Sie sich ausschließlich auf ihren Markenkern“ raten Unternehmensberatungen. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen bestätigen diesen Hinweis. Doch was ist der „Kern“, wenn man auf das Markengerede verzichtet? Wenn die Künste in die Kirche einziehen sollen, um den verloren geglaubten Glamour der eigenen Religion zu kompensieren, dann würden die Kulturkirchen tatsächlich zu Orten eines miesen Handels. Sie wären keine Kirchen mehr, so wie Kulturscheunen keine Scheunen und Kulturfabriken keine Fabriken mehr sind. Kunst ersetzt die Kirche nicht. Kunst ist nicht die Rettung für eine sprachlos gewordene Institution, die sich nach mehr Sinnlichkeit, Erfahrungsrausch und der wohlwollenden Beachtung der Menschen sehnt. Kunst widersteht metaphysischen Ansprüchen, wenn sie sich selbst nicht mit unzulässigen Versprechen ausstattet. Noch der Ausruf vom Ende der Kunst, das übrigens zeitgleich mit dem Ende der Religion ausgerufen wurde, zehrt von dem heilsgeschichtlichen Überschwang, mit denen Künste als Religionsersatz gefeiert wurden. Skepsis ist deshalb angebracht, wo Kulturkirchen der kunstreligiösen Versuchung erliegen. Kunst kann nicht von den Zumutungen des modernen Lebens erlösen. Sie macht weder tiefsinniger noch glücklicher, schon gar nicht moralischer, jedenfalls nicht auf Dauer. Kunst verwandelt die Welt in Kunst. Das macht sie unverzichtbar, ja existentiell, nimmt ihr aber den subtilen Heiligenschein, den die moderne Design- und Verschönerungskultur den Künsten aufgesetzt hat.

Kunst und Kirche haben augenblicklich in unterschiedlicher Weise einer Diskussion ausgesetzt, die unsere Kultur insgesamt tiefgreifend verändern kann. Beide, Kirchen und öffentliche Kultureinrichtungen, müssen immer stärker legitimieren, warum sie keine Privatsache sind. Wenn das Bewusstsein für die öffentliche, die gesellschaftliche Bedeutung beider ernsthaft erodiert, wenn das Betreten der großen Kultureinrichtungen eine Statusfrage und das Betreten von Gotteshäusern nur noch eine Bekenntnisfrage wird, dann haben wir uns in viel tiefgreifender Weise von den Einsichten der Reformatoren verabschiedet als es die Moderne mit ihren Säkularisierungsschüben das vermocht hat. Die Frage nach dem Wesen und Ziel des Menschen, nach seinen Abgründen, seiner Schuld, seiner Sehnsüchte und seinen Hoffnungen ist und muss bei aller Innerlichkeit öffentlich bleiben.

Ich würde mir deshalb wünschen, dass die sogenannten Kulturkirchen von ihrer eigenen Institution nicht privatisiert werden. Natürlich ist das private Engagement potenter Stifter und Sponsoren eine prima Sache, die zu fördern in Deutschland dringend Zeit war, nicht nur wegen der knappen Kassen. Aber wenn die Orte für kulturelle Experimente innerhalb wie außerhalb der Kirchen nur noch nach der Rationalität der Ökonomen gewertet werden, dann verlieren wir etwas, was zutiefst im Protestantismus verwurzelt ist: die Einsicht, dass wir das, was sich nicht rechnet oder verkauft, genauso brauchen wie das, was allen gefällt und ordentlich Kasse macht.

Kulturkirchen sind riskante Räume für die Kirche und für die Kultur. Der unsichtbare Bindestrich zwischen beiden Begriffen deutet auch auf eine Spannung. Aber ohne Risiko wird die Auslegungsenergie des Christentums an seiner eigenen Gewohnheit versiegen. Das gehört zum Kern, zur zentralen Aussage seiner Überlieferung. An diesem Kern mag sich jede Generation neu die Zähne ausbeißen, aber die Selbsthistorisierung des Christentums durch Festhalten an dem Gewohnten und den Rückzug in eine vertraute Gemeinschaft ist groß.

Diese Einsicht soll nicht zu einem fahrlässigen Umgang mit dem kulturellen Erbe der Vergangenheit führen. Die meisten Kulturkirchen stellen nicht umsonst auch die Pflege des Alten, der Tradition in den Mittelpunkt. Alte Musik und alte Kunst, alte Texte und alte Räume wollen gepflegt, sie wollen vor allem aber auch verstanden werden. Deshalb sind Kulturkirchen, die ihre Tradition lieben, auch Bildungsräume des Christentums. Die Alphabetisierung in der Sprache des Christentums ist hier erlebnis- und erfahrungsgesättigt. Wie wichtig diese Aufgabe ist, wird sich vielleicht schon in nächster Zukunft zeigen. Bildung, auch kulturelle und religiöse Bildung, droht immer stärker zum Statussymbol zu werden, mit der man sich von anderen unterscheidet. Kulturkirchen erheben durch ihr Programm hoffentlich Einspruch gegen diese ganz und gar unprotestantische Entwicklung. Sie erleichtern im übrigen Menschen die Schwelle über das Kirchenportal, die sich in normalen Gemeinden oft ausgeschlossen fühlen, weil sie auf eine geschlossene Gruppe mit oft unzugänglicher Sprache und Gewohnheit zu tun haben. Viele Kulturkirchen kann man beiläufig durchstreifen, mitten am Tag, ohne Verpflichtung. Die Verantwortlichen öffnen ihre Gotteshäuser den Wartenden, denen, die, wie Siegfried Kracauer es zu Beginn des letzten Jahrhunderts so schön beschrieben hat, die zögern und zweifeln, die sich aber mit dem Vertriebensein aus der religiösen Sphäre nicht abfinden wollen. Das ist ihre Mission.

In gewisser Weise übernehmen Kulturkirchen dieses Risiko für die anderen Gemeinden, die dieses Wagnis aus guten oder weniger guten Gründen nicht eingehen wollen. Sie haben deshalb eine Stellvertretungsfunktion. Da mag das eine oder andere Projekt in der Perspektive von Oberbürgermeistern, Leserbriefschreibern oder Superintendenten auch mal über die Strenge schlagen, da mag es einen heißen Streit darüber geben, ob „so was“ in „unserer Kirche“ erlaubt ist. Im Detail müssen alle Beteiligten sorgsam mit diesen Konflikten umgehen. Doch wenn es diese Konflikte nicht gäbe, müsste man sie erfinden. Denn noch in der Entrüstung wird eine Frage gestellt, die sonst nicht mehr gestellt würde. „Ja, was ist uns denn heilig? Und woran haben wir uns einfach nur gewöhnt? Wo liegt die Grenze zwischen bürgerlicher Wohlanständigkeit, die die Musik, den Raum und die Kunst als Zuckerguss auf unbefragter Restreligiösität verlangt und dem berechtigten Einspruch nach Einhaltung einer Grenze? Kulturkirchen sind riskante Räume und als solche können sie durchaus auch Konfliktverstärker sein. Sie machen auf unsichtbare Haarrisse im Zustand des – noch - Allgemeinchristlichen aufmerksam, sie erschüttern die Sicherheiten derer, die in den Fragen der anderen nur eine Bedrohung sehen. Sie zwingen zum Nachdenken, zur Position, zur Formulierung. In ihnen kann es aber auch nur schön und überwältigend sein. Ein Stück vom Paradies für zwei Stunden. Kulturkirchen machen deshalb sichtbar, hörbar, spürbar, wenn sie die Gegenwartskünste in ihre Räume lassen. Denn Kunst macht genau das: sich macht sichtbar. Sie zeigt die ganz normale Welt der Gegenstände, der sozialen Gefüge, der politischen Verwirrungen und der existentiellen Abgründe wie durch ein Brennglas: verzerrt, verwandelt, unerbittlich, manchmal auch zum Kaputtlachen komisch, aber eben so, wie wir im Alltag die Dinge schon lange nicht mehr sehen oder nie sehen konnten. Deshalb ist die Kunst keine Aneignungsform, die man auch lassen könnte, kein Luxus für ein paar privilegierte Christenmenschen, die von ihrer Kirche ein wenig kulturelle Dienstleistung verlangen. Die Künste sind die Form der Thematisierung der Welt, die der religiösen Thematisierung verwandt ist. Religion ist auf kulturellen Ausdruck angewiesen. Sonst bleibt sie leer und weltlos. Der christliche Glaube ist eine „Erfahrung mit der Erfahrung“ hat der Theologe Eberhard Jüngel gesagt und damit genau die Reflexivität, die Kunst und Religion gemeinsam ist beschrieben. Beide verwandeln die Welt, in der wir leben, sie machen sie auf andere Weise sichtbar, und zwar so, dass wir uns möglichst nicht ins Objektivieren entziehen können. Reflexivität geht sinnlich, unmittelbar, packend oder in Form einer Distanzierung, einer leichten Brechung. Nur eines geht nicht. Die Botschaft des christlichen Glaubens verharrt nicht im Allgemeinen, sie trifft jeden einzelnen in seiner Existenz. Die Künste treffen auf andere Weise. Sie dürfen unverbindlich in der Schwebe bleiben mit ihren Fragen und mit ihrem Potential der Verwandlung der Welt ins Ästhetische. Aber nur so, dass Menschen sich unmittelbar zu ihr verhalten müssen, zur Not, indem sie sich die Ohren zuhalten oder abwenden. Wenn Künste und Kirche sich auf diese Weise bewusst zusammen tun und auch mal einen Streit der Perspektiven riskieren, verstärken sie sich. Deshalb sind Kulturkirchen Räume, die nicht nur die christliche Überlieferung und ihre Darstellung in der Gegenwart fordern. Sie sind auch eine Herausforderung für die Künste. Ihre schöne Unverbindlichkeit, die die festgezurrten Dinge wieder in die Schwebe entlässt, ist zu einer Unverbindlichkeit geworden, in der Kunstmärkte, Händler, Jurys und Agenturen über die künstlerische Güte bestimmen. Viel ist in theologischen Kreisen von der Autonomie der Künste die Rede. Der Markt, auf dem die Künstler überleben müssen, hat in meinen Augen aber auch was von einem übellaunigen Despoten. In Kulturkirchen gelten andere Gesetze. Ihnen muss es allein um die Güte der Kunst gehen, nicht um ihren Preis.

Der jüdische Philosoph Hans Blumenberg hat einmal in seiner Annäherung an die Matthäuspassion von der schönen Unbestimmtheit zwischen Kunst und Religion geredet, die nichts mit der Unbestimmtheit zu tun hat, die die Begegnung beider beliebig macht sondern im Gegenteil eine genaue Bestimmung ihrer Leistung ist: in der künstlerischen Zuwendung zur Welt entstehen plötzlich Zugänge zum Religiösen, so wie umgekehrt das Religiöse sich für ästhetische Zugänge öffnet und neue Kraft entfaltet, „Schön“ ist diese Unbestimmtheit, weil sie einen Möglichkeitsraum öffnet, in dem die eigene Existenz aus den Fallen der Notwendigkeiten befreit ist. Alles könnte auch ganz anders sein. Was für ein Gewinn an Möglichkeiten. Spätestens hier wird deutlich, dass die Kulturkirchen ihr Selbstverständnis letztlich aus der Mitte des Gottesdienstes nehmen, wo dieser Raum der Verwandlung des Evangeliums von der freimachenden Gnade Gottes ins eigene Leben theologisch angelegt ist.

Von dieser theologisch-ästhetischen Grundlegung her ist es auch zu verstehen, dass Kulturkirchen keine Kontrastfigur zu den sogenannten Sozialkirchen sind, die in schwierigen Stadtbezirken stehen und ihrerseits einen Arbeitschwerpunkt ausflaggen. Kultur versus Sozial-Diakonisches- diese Gegenüberstellung ist ein technokratisches Missverständnis, das leider überraschend resistent gegen Aufklärungen aller Art ist, auch in der kirchlichen Öffentlichkeit. Dabei ist die Rede vom Raum der Verwandlung nicht nur metaphorisch gemeint. Weil Künste in Bewegung setzen, weil sie Menschen aus der passiven Rolle der Beobachter herausholen, sind sie das geeignete Mittel, um gerade die aus der Lethargie zu holen, denen Scham, mangelndes Selbstwertgefühl, und mangelnde Gelegenheit den Zugang zu kulturellen Institutionen schwer macht. Wenn Kultur in Kirchen zuhause ist, dann so, dass Sie Menschen ihre Stimme zurückgibt. Erst ist es nur eine Rolle in einem Theaterstück, dann ist es ein selbst geschriebener Rap und irgendwann vielleicht auch eine Stimme im politischen Sinne, weil Menschen ihr Leben selbst in die Hand nehmen, ihre Sehnsüchte und Bedürfnisse selbst auszudrücken in der Lage sind und sich auch buchstäblich in Bewegung setzen, um aus dem Teufelskreis vererbter Armut und vererbter Resignation auszubrechen. Kultur ist auch ein Medium, dass die Menschen, um die die Kirche sich sorgt, als Subjekte ernst nimmt, als Menschen, die ein Recht auf Ausdruck haben, so wie sie eine Möglichkeit zu einem anderen Leben haben. Anmut und Würde, Artikulationsvermögen und die Wahrnehmung des eigenen Körpers und der eigenen Lebenssituation gehören zusammen. Ausgrenzung, Segregation und Schamschwellen werden in der gegenwärtigen Kulturlandschaft oft leider eher befördert als abgebaut, oft gegen den Willen derer, die Kultur machen. Das liegt nicht nur an überkommenen Vorstellungen, was Kultur ist und was nicht. Auch uneingestandene Sehnsüchte danach, sich von anderen zu unterscheiden, spielen hier eine Rolle. Kulturkirchen haben auch den Auftrag, das zu ändern. Deshalb haben in Kulturkirchen auch Kinder und Halbwüchsige Platz, Menschen mit und ohne Gehaltskonto, Behinderte und die, die ihr Erinnerungsvermögen verloren haben, Alte und Kranke. Kulturkirchen registrieren wach und schonungslos, wie unsere Gesellschaft sich ändert.

Kulturkirchen reflektieren den Kontext ihres Kircheseins nicht zuletzt so, dass sie sich zu den anderen Religionen in Beziehung setzen. Es kommt deshalb nicht von ungefähr, dass Kulturkirchen auch Räume der Begegnung zwischen unterschiedlichen Christentümern, zwischen Judentum und Christentum, zwischen Islam und Christentum sind. Im Medium der Künste lassen sich Unterschiede und Gemeinsamkeiten, Selbstbilder und Fremdbilder, Konflikte und Konsens oft leichter thematisieren als auf Podien und an runden Tischen. Wenn gilt, dass Kultur „Bedeutung im Werden“ ist, dann sind Kulturkirchen auch Proberäume für eine andere Gesellschaft.