Predigt im Gottesdienst zur Orgelweihe in der St. Marien-Kirche zu Berlin (Epheser 3, 14-21)

12. Mai 2002

„Ich beuge meine Knie vor dem Vater, der der rechte Vater ist über alles, was da Kinder heißt im Himmel und auf Erden, dass er euch Kraft gebe nach dem Reichtum seiner Herrlichkeit, stark zu werden durch seinen Geist an dem inwendigen Menschen, dass Christus durch den Glauben in euren Herzen wohne und ihr in der Liebe eingewurzelt und gegründet seid. So könnt ihr mit allen Heiligen begreifen, welches die Breite und die Länge und die Höhe und die Tiefe ist, auch die Liebe Christi erkennen, die alle Erkenntnis übertrifft, damit ihr erfüllt werdet mit der ganzen Gottesfülle. Dem aber, der überschwänglich tun kann über alles hinaus, was wir bitten oder verstehen, nach der Kraft, die in uns wirkt, dem sei Ehre in der Gemeinde und in Christus Jesus zu aller Zeit, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“

(Epheser 3, 14-21)

I.

Einen herzlichen Glückwunsch möchte man ausrufen, wenn man die ersten Klänge dieser neu aufgebauten Orgel unserer Marienkirche hört. Einen herzlichen Glückwunsch habe auch ich auf der Zunge. Doch wem soll dieser Glückwunsch gelten. Dem Orgelbauer und allen, die mit ihm zusammengearbeitet haben, der Organistin und allen, die auf der Orgel und gemeinsam mit der Orgel musizieren werden, dem Gemeindekirchenrat und der Gemeinde sowie dem großen Kreis der Menschen, deren Gottesdienst durch die Orgel unterstützt und gestaltet wird, dem Förderverein und allen, die die Finanzierung dieser Orgel möglich gemacht haben, der Öffentlichkeit Berlins, deren älteste Kirche nun wieder vom Klang eines Instruments erfüllt wird, das dieser Kirche und der Stadt zur Ehre gereicht – und so könnte ich fortfahren, all denen Glück zu wünschen, die sich an diesem in der Tradition Joachim Wagners neu gestalteten Instrument freuen können. Auch von  den Predigerinnen und Predigern in St. Marien wäre dann zu reden, auch von dem neuen Pfarrer, dessen Dienst mit dieser Einweihung so festlich beginnt.

Doch der Brief an die Epheser schlägt in dem für den heutigen Sonntag Exaudi vorgesehenen Abschnitt einen anderen Ton an. Sein Glückwunsch gilt nicht diesem oder jenem unter uns, sein Glückwunsch gilt dem inwendigen Menschen in jedem von uns. Sein Interesse richtet sich nicht auf den Status des Einen oder des anderen, sondern auf den inneren Menschen in jedem von uns. Dass er gekräftigt wird durch den Reichtum der Herrlichkeit Gottes, das ist der entscheidende Wunsch.

Genauer und überraschender, zutreffender und befremdlicher kann man nun freilich gar nicht beschreiben, warum wir Orgeln in unseren Kirchen haben. Ihr letzter Zweck besteht nicht darin, dass Baumeister ihr Können vorführen, dass Orgelvirtuosen ihr Können entfalten, dass Verantwortliche stolz auf ihre Leistung blicken, dass Gemeinden ihre Orgeln vergleichen, dass Prediger sich am Brausen der Orgel während des „Kanzelmarschs“ freuen. Das alles ist wichtig und verdient unsere Anerkennung. Denn die menschlichen Fähigkeiten, die sich am Bau dieser Orgel zeigen und die deutlich werden, wenn sie erklingt, sind kostbare Gaben Gottes. Und doch: Orgeln haben wir, damit der inwendige Mensch erbaut wird, damit unsere Seele Nahrung erhält, damit wir ausgerichtet werden auf das Lob Gottes.

Am vergangenen Sonntag habe ich in Beirut, der Hauptstadt des Libanon, das orthodoxe Osterfest mitgefeiert. Fünf Wochen nach unserem westlichen Ostertermin lag in diesem Jahr der Termin der orthodoxen Osterfeier. Auch an Gottesdiensten der Karwoche habe ich teilgenommen, unter anderem in der ägyptischen Wüste, im Wadi Natrun, in dem seit 1600 Jahren in ununterbrochener Kette das geistliche Leben der Mönche seinen Ort hat. Von Orgeln keine Spur. Unbegleitet singen die Mönche und Geistlichen, über Stunden leitet ein kleiner Chor aus zwei Männern und drei Frauen das Singen der Gemeinde an. Aber man spürt, wie die Stärke des inneren Menschen wächst, wie Menschen sich aufbauen lassen von innen heraus. Rund um den Erdkreis gibt es christliche Gemeinden ohne Orgeln. Wir tun gut daran, uns das Ungewöhnliche und Außerordentliche, das beglückende Geschenk deutlich zu machen, das uns in diesem Instrument anvertraut ist. Als „Königin der Instrumente“ wird es bezeichnet. Gebe Gott, dass diese Königin sich vor allem anderen als „erste Dienerin“ der Gemeinde erweist, als Helferin für den inwendigen Menschen, als Erbauerin der Seele, als Gehilfin zum Gotteslob.

Gott wird im Epheserbrief als der gepriesen, „der überschwänglich tun kann über alles hinaus, was wir bitten oder verstehen“. Das überschwängliche Tun Gottes soll im Überschwang der Register sein Echo finden, von Principal bis zu den Flöten, vom Violon bis zu Posaune und Trompete, vom Bordun bis zu den Cimbeln. Der Überschwang all der Instrumente, die sich in dem einen Instrument vereinen, ist nur ein Echo, ein Gleichnis, ein Hinweis auf das überschwängliche Tun des einen Gottes, der sich uns offenbart als Vater, Sohn und Heiliger Geist, als Schöpfer, Versöhner und Erlöser, und der doch einer bleibt und gerade so alles in allem ist. Ihm „sei Ehre in der Gemeinde und in Christus Jesus zu aller Zeit, von Ewigkeit zu Ewigkeit“. Die Orgel von St. Marien nehmen wir in Gebrauch, damit sie zu diesem Soli Deo Gloria allzeit ihr Amen spielt.

II.

Die Rede vom inneren, vom inwendigen Menschen ist uns freilich fremd geworden. Die Veräußerlichung unserer Zeit zeigt sich in nichts deutlicher als darin, dass die Rede vom inneren Menschen auszusterben droht. Der Mensch, der im Glauben entsteht, der im Gegenüber zu Gott Bestand hat, hat keine Konjunktur. Denn alles muss machbar sein. Was zählt, muss sich vorzeigen lassen. Und wer das Innere so wichtig nimmt wie das Äußere, muss auch die Beschäftigung mit seinem Inneren als Leistung nachweisen können: in der Zahl der Meditationskurse oder der psychotherapeutischen Sitzungen muss er belegen, wie weit er es mit dem inneren Menschen gebracht hat. Auch dass esoterische Bücher wie Pilze aus dem Boden schießen, ändert nichts daran, dass der inwendige Mensch zu den bedrohten Arten in unserer veräußerlichten Welt gehört. Neben Seehunden oder Koalabären, Nashörnern oder bengalischen Tigern könnte auch der inwendige Mensch auf die Liste der bedrohten Arten aufgenommen werden. Die Kirche aber ist eine Schutzorganisation für den inwendigen Menschen. In aller Freundschaft zu Hunden oder Katzen legt sie einen liebevollen Einspruch ein, wenn wir mit unseren Hunden und Katzen behutsamer und zärtlicher umgehen als mit uns selbst.

Nicht darum geht es mir, dass wir in pausenloser Ichumkreisung unser inneres Ich zu optimieren versuchen. Nicht darum geht es, dass wir mit immer neuen Techniken unsere Innenwelt zu besserem Funktionieren bringen. Es geht darum, dass wir unser Herz für Gott öffnen, das Licht für unser Leben aus Gottes Geheimnis hervorgehen lassen, der Wahrheit über unser Leben Raum geben, die wir uns nicht selber sagen können. Mit kantiger Klarheit macht der Brief an die Epheser deutlich, worum es geht: „dass Christus durch den Glauben in euren Herzen wohne und ihr in der Liebe eingewurzelt und gegründet seid.“ Nur eine solche letzte Klarheit lässt uns die Weite unseres Lebens aushalten, die uns sonst nur schwindlig machen kann – jene Weite eines sich immer mehr ausdehnenden Lebenshorizonts, jene „Breite und Länge, Höhe und Tiefe“, die unser Predigtabschnitt so eindrücklich zur Sprache bringt. Ich höre Musik vor meinem inneren Ohr, wenn von dieser Breite und Länge, Höhe und Tiefe die Rede ist. Ich höre Orgelmusik, die Musik eines Instruments, das über eine Spannweite verfügt wie kein anderes. Aber auch die verführerische Kraft dieses Instruments wird zurückgebunden an die kantige Klarheit, um deretwillen es erklingt: „dass Christus durch den Glauben in euren Herzen wohne und ihr in der Liebe eingewurzelt und gegründet seid.“

III.

Nun bin ich der Bewegung bisher beharrlich ausgewichen, mit der die Fürbitte des Apostels für seine Gemeinde in Ephesus beginnt. Ich habe mich durch die Fülle der Worte, mit denen er die Hoheit Gottes preist und um den Glauben für seine Gemeinde bittet, so hinreißen lassen, dass ich die klare Handlungsanweisung ignoriert habe, mit der dieses Gotteslob und diese Fürbitte für die Gemeinde verbunden ist. „Ich beuge meine Knie vor dem Vater“ – so heißt es gleich zu Beginn. Der Beter kniet.

Das Knien kann zweideutig sein, ich weiß. Manchmal ist zweifelhaft, vor wem man in die Knie geht – vor einem, der übermächtig oder der allmächtig ist, vor einem, der uns zwingen oder der uns gerade aufrichten will, aus Ohnmacht oder aus Demut. In die Knie können wir gehen, weil wir Gottes Liebe in Christus vor Augen haben oder weil wir von Gottes Liebe nichts mehr wissen. Der Beter, der uns heute an die Hand nimmt, kniet vor der Gottesfülle. Wir aber gehen oft vor der Gottesleere in die Knie. Es gibt zwei Arten des Kniens. Sie sind grundverschieden, obwohl sie uns beide der Erde näher bringen.

Auch heute gehen Menschen vor der Übermacht der Verhältnisse in die Knie, werden dadurch niedergedrückt, dass der Sinn aus ihrem Leben verschwindet, Arbeitslose oder Opfer von Gewalt, in Bethlehem oder Erfurt. Auch heute werfen sich Menschen vor dem auf die Knie, was sie für heilig halten. Gerade an Sonntagen knien manche besonders gern vor ihren Autofelgen, um ihnen den letzten Glanz zu geben, oder sie werfen vor ihrer Angebeteten nieder, umn ihr vielleicht doch allzu bald den Rücken zu kehren. Zeige mir, wovor du kniest, und ich sage dir, wer dein Gott ist.

Knien kann aber auch der Ausdruck einer tiefsten Freiheit sein – ein deutlicher Hinweis auf den einen, der uns in die letzte Pflicht nimmt, den einen, „der der rechte Vater ist über alles, was da Kinder heißt im Himmel und auf Erden“. Knien kann ein Ausdruck für „die herrliche Freiheit der Kinder Gottes“ sein. Kein Mensch zwingt uns in die Knie; denn wir knien vor Gott allein. Dieses Knien wäre ein protestantischer Akt der Freiheit. Meditationsgottesdienste zu feiern, in denen Gesten Raum haben und Riten wieder gelernt werden können – auch das beginnt in unserer Kirche wieder.

Auch in den Dienst solcher Neuaufbrüche kann die Orgel gestellt werden, diese Königin der Instrumente, die eben deshalb eine erste Dienerin unseres Glaubens ist.

Denn Gott allein gebührt die Ehre heute und allezeit. Amen.