Predigt im Gottesdienst zur Eröffnung der EKD-Synode in der St. Matthäus-Kirche zu Berlin, Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres

Wolfgang Huber

4. Tagung der 10. Synode der EKD, Berlin, 6. - 10. November 2005

Es gilt das gesprochene Wort.

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen. Amen

Liebe Gemeinde!

Wenn in einer Kirche Bilder zu sehen sind, dann ist das keine Ausstellung. Es geht vielmehr um Fenster zum Himmel, um die Wahrnehmung dessen, was zwischen Himmel und Erde ist, um die Offenheit dafür, was Himmel und Erde miteinander verbindet.

Zwischen Himmel und Erde. Tausend Jahre Christentum in Brandenburg. Rund um Berlin weckt dieses Thema derzeit viel Aufmerksamkeit. In Brandenburg und in Berlin sind ihm Ausstellungen und Veranstaltungen in großer Zahl gewidmet.

Und die Menschen kommen, schauen, fragen. Viele Menschen spüren, dass es auf das Dazwischen ankommt. Sie wollen nicht, dass Himmel und Erde durch Welten voneinander getrennt sind. Sie wollen dahinter schauen. Sie spüren, dass wir auf diesen tieferen Grund angewiesen sind, den wir nicht haben, halten, besitzen, wohl aber erspüren, erahnen und erkennen können.

Dahinter Engel. So nennt Arnulf Rainer die Bilder, die uns in dieser Kirche umgeben. Sie fordern uns dazu heraus, die biblische Botschaft vom barmherzigen Gott neu zu sehen.

So auch das große Bild mit Blau als der dominierenden Farbe über dem Altar. Ein Gewandkreuz bildet die Basis und dient als tragende Form. Das Gewandkreuz ist eine mittelalterliche Kreuzesform. Es ist breiter als die vertrauten Formen des Kreuzes; es ist gleichsam in die Breite gegangen; denn es bildet die Proportionen des menschlichen Körpers ab. Jeder Mensch formt, wenn er die Arme ausbreitet, ein Kreuz. Aber nur einer hat diese Form des Menschseins so verwirklicht, dass keine Frage zurückbleibt. Christus hängt nicht nur am Kreuz, er ist zum Kreuz geworden. Seit er das Kreuz auf sich nahm, steht dieses Marterwerkzeug nicht nur für das Leiden und grausame Sterben eines unschuldigen Menschen; es strahlt zugleich Schwere und Gewicht, Stabilität und Stärke aus.

Ein Gewandkreuz – aus Stoff herausgeschnitten – kann uns Menschen umhüllen und zudecken; es kann uns schützen vor Kälte und bösen Blicken, es kann alle Blöße bedecken; es verbirgt Scham und Schuld. Das Gewandkreuz ist der Mantel der Liebe, der gütig um uns gelegt wird. Es ist ein Symbol für Gottes Zuwendung zu dem Menschen, der fern von ihm lebt. Das Gewandkreuz zeigt, dass wir Menschen vor Gott nur bestehen können, weil er uns mit seiner Gnade umhüllt.

Dem Reformator Martin Luther möchte man das Bild widmen, das wir vor uns sehen. Seine Überzeugung hieß, dass Christus – und er allein – uns dazu hilft, vor Gottes Angesicht treten zu können. Um Christi willen fällt Gottes Blick nicht auf unser kleines, ängstliches, ichbezogenes Leben, sondern auf unsere von Gott geschenkte Würde. Die Freiheit eines Christenmenschen liegt darin begründet, dass wir uns nicht mit unseren verschlissenen Lebensmänteln vor Gott zeigen müssen. Wir dürfen uns seinen Mantel der Güte ausleihen, bevor wir vor sein Angesicht treten.

Doch das umhüllende Gewandkreuz bleibt bei Arnulf Rainer nicht für sich.. Es weitet sich, es gerät in Fluss, besser in den Flug. Es verbindet sich mit den Schwingen der Engel. Wir können es nicht einfach umlegen. Es kommt uns entgegen und trägt den schützenden Geist des Kreuzes in alle Welt. Das Gewandkreuz bekommt Flügel: hell und klar, blaues Licht und große Weite.

Mitten in dieser Bewegung aus Farbe und Form findet sich ein heller Fleck, eine Andeutung von Antlitz, ein Schatten des Schauens. Ist es ein Engel, der aus dem Bild schaut? Ist es der Auferstandene, der hinter dem Engel hervorblickt? Ist es Christus mit einem Engel oder Christus als Engel? Der Maler spielt mit Möglichkeiten, mit Andeutungen, mit gemalten Gesten. Sie lassen Platz für unsere inneren Bilder. Es ist wie bei großer Musik: Unterbrechungen, Auslassungen und Pausen steigern die Tiefe des Klangs.

Zwischenspiel: Saxophon-Improvisation zum Altarbild ‚Gewandkreuz’ von Arnulf Rainer.

Beim Evangelisten Lukas heißt es: Wenn ich aber durch Gottes Finger die bösen Geister austreibe, so ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen. Ein Finger reicht, um Gottes Reich nahe zu bringen, in dem für die bösen Geister kein Raum ist. Aber es muss Gottes Finger sein.

Das Altarbild von Arnulf Rainer erinnert uns an eine besondere Gestalt von Gottes Finger, an seine Engel, seine Gesandten, seine Boten. Aber bei aller Klarheit und bei aller Güte, die der Form des Gewandkreuzes innewohnt, tragen die Engel doch auch Trauer, sie scheinen zu weinen, es fließen Streifen von Tränen aus dem Bild. Es ist ein überfließender Kummer, es ist, als liefen die Flügel der Engel leer vor Leid.

Können Engel eigentlich weinen? Müssen sie weinen? Und wenn ja, worüber?
Wenn Sie sich, liebe Gemeinde, umdrehen, und zur Orgelempore schauen, dann sehen sie eine unscheinbare Metallarbeit des russischen Künstlers Vadim Sidur. Sie trägt den Titel Antlitz und zeigt ein Christusgesicht: demoliert und zerhauen, zerbeult und gequetscht, gestaucht und geschlagen.

Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte. Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet. Fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen.

Diese berühmten Verse über den Gottesknecht aus dem Buch des Propheten Jesaja klingen wie eine genaue Beschreibung dieses deformierten Christusgesichts. Julija Sidur schrieb 2001, fünfzehn Jahre nach dem Tod ihres Mannes, zur Installation dieser Arbeit hier in unserer Kirche: Vadim Sidur macht das Antlitz des Erlösers aus Materialien, die von Menschenhand geschaffen, benutzt und auf den Müll geworfen wurden. Einen völlig zerbeulten Eimer, eine zerdrückte Konservendose, große Holzstücke, alte Aluminiumdeckel oder Eisendeckel. Alle diese nichtigen Abfälle werden von der Liebe, dem Talent und dem Können des Künstlers beseelt. 

Weinen die blauen Engel aus Arnulf Rainers Bild über dieses entstellte Antlitz? Sehen sie auf die Last und das Leiden des Erlösers? Oder trauern sie über eine Generation, die den Erlöser wegwirft wie einen alten Eimer, eine zerdepperte Dose? Ist das Bild von Arnulf Rainer in der Raumanordnung hier in St. Matthäus im Letzten gar kein Bild, sondern ein Spiegel, in dem wir das Antlitz des leidenden Christus erkennen oder erahnen können?

Die Engel schauen auf ihn, den einen, dem alle Engel dienen wollten. Ihn wollten alle guten Geister im Himmel und auf Erden trösten und halten in jener Nacht, da er verraten ward. Sie mühten sich vergeblich; denn er wollte und musste seinen Weg zu Ende gehen. Er wollte sich nicht retten, nicht befreien lassen. Denn nur so konnte sein Kreuz der eine und entscheidende Fingerzeig Gottes werden gegen alle bösen Geister.

Engel wie Menschen müssen lernen und verstehen, dass dieser Fingerzeig Gottes mitten im Lärm der Welt nur wirksam und kräftig werden kann, wenn der Weg bis zum Ende gegangen wird. Schon für die Jünger war das schwer zu begreifen, die lieber die Schwerter ziehen wollten, als Jesus in Gefangenschaft zu sehen. Auch für Pilatus war es schwer, der meinte, Macht zu haben über Leben und Sterben dieses einen. Auch für die Engel ist es schwer; so zeigt es uns das Bild von Arnulf Rainer. Sie wollen helfen, retten, beispringen; aber sie werden abgewiesen wie Petrus, wie die Jünger, wie Pilatus. Auch die Engel müssen weinen, weil sie ihn nicht halten, trösten und behüten dürfen, weil sie nicht umsetzen können, was doch gerade ihm, dem einen, verheißen wurde. Hat Gott doch seinen Engeln befohlen, dass sie ihn behüten auf allen seinen Wegen, dass sie ihn auf den Händen tragen und er seinen Fuß nicht an einen Stein stößt.

Zwischenspiel: Saxophon-Improvisation zum Christusgesicht (Empore unterhalb Orgel) von Vadim Sidur.

Wenn ich aber durch Gottes Finger die bösen Geister austreibe, so ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen.
Prägend für die Bildersprache, die gegenwärtig diesen Raum bestimmt, ist das Dahinter der Engel – und der bösen Geister. Denn im Kern wissen wir alle: Der Teufel oder Beelzebub oder die Sünde oder das Böse oder wie immer man die Quelle der bösen Geistern nennen möchte, ist nicht dadurch verschwunden, dass wir Menschen uns aufgeklärt und rational geben.

Es gehört vielmehr gerade zur Verführungskraft des Bösen, dass es sich wandelt und in ganz unauffälligen Gestalten versteckt. Es kommt daher im Gewand der leichten Anerkennung, gekleidet in den Glanz des schnellen Erfolgs. Es will uns erobern mit dem Applaus der falschen Freunde, es will uns verführen im Mantel des Selbstmitleids.

Der Teufel trägt keine festen Schuhe, er schleicht und tarnt sich, er trickst und täuscht. Deshalb erkennen wir ihn oft nicht. Wir brauchen geistliche Augen, Blicke, die dahinter schauen. Wir brauchen auch in unserem vermeintlich so vernünftigen Leben die realistische Perspektive der Bibel. Sie weiß davon, dass es böse Geister und dunkle Mächte gibt, vor denen uns nur Gott und seine guten Engel bewahren können.

Es ist genau so wie in dem wuchtigsten aller Wim-Wenders-Filme, dem Himmel über Berlin, den zu zitieren sich beim Auftakt einer Synode in Berlin nahe legt. Die Engel in diesem Film können heilen und helfen, sie wohnen in Bibliotheken, sie haben eine angeborene Nähe zu altem Wissen, sie können den Unruhigen Schlaf schenken und den Ängstlichen Mut machen, sie können die aufgewühlte Seele beruhigen und den Verunsicherten Selbstbewusstsein schenken. Auch Engel trösten auf leisen Sohlen, sie sind nicht Sensationen im Diesseits, sondern Klänge des Jenseits, die uns von Innen heraus stärken.

Ich bin davon überzeugt, dass uns Bilder und Kunstwerke, wie wir sie heute in dieser Kirche sehen, wie sie uns aber auch in anderen Kirchen begegnen, dabei helfen können, dahinter Engel zu sehen. Uns allen tut Unterricht in den Fächern Kunst und Glaube gut, denn sie gehören auch heute so zusammen, wie der Kirchenvater des 19. Jahrhunderts - der Berliner Theologe Friedrich Schleiermacher - es beschrieben hat: Kunst und Glaube sind Verwandte im Geist, Freunde im Offenhalten der Welt, die das Dazwischen erkennbar machen und die Engel dahinter.

So entsteht ein Raum für jenen, der in der äußersten Einsamkeit und Not ohne die Hilfe der Engel bleiben wollte, damit es das Kreuz als den einen Fingerzeig Gottes geben kann, damit die bösen Geister vertrieben sind und das Reich Gottes kommt. In seinem Namen dürfen wir auch seine Boten zur Hilfe rufen. Aber auf ihn allein wollen wir uns gründen; kein anderes Ziel soll uns von ihm ablenken. In ihm liegt unsere Seligkeit. Amen.