Werte heute - Bausteine einer zukunftsfähigen Gesellschaft - Vortrag bei der Jugendmedienschutztagung „Besonders WERTvoll. Fernsehen und Jugendmedienschutz zwischen Wirklichkeit und Vision“ in Berlin

Wolfgang Huber

I.
Es gibt Bilder, die eine ganze Generation nicht vergisst. Meiner Generation hat sich die Landung der Apollo-Rakete auf dem Mond in das Gedächtnis eingeprägt. Der Kniefall von Willy Brandt in Warschau gehört zu diesen Szenen. In herausragender Weise gehören die Bilder vom Mauerfall am 9. November vor 15 Jahren dazu.  Auf ganz andere Weise haben sich  die erschütternden Bilder vom 11. September in unsere Erinnerung eingebrannt.  Jede und jeder von uns kann vermutlich sagen, wann und an welchem Ort er sie gesehen hat. Solche Bilder prägen sich in das kollektive Gedächtnis einer ganzen Generation ein. Vielleicht lassen sich auch der Sturz der Saddam-Hussein-Statue in Bagdad oder die Folterbilder aus irakischen Gefängnissen dazu rechnen. Die zu Geiseln genommenen Kinder in Beslan oder die ahnungslosen Opfer der Flutkatastrophe um den Indischen Ozean sind Bilder aus der jüngsten Vergangenheit von vergleichbarer Eindringlichkeit.

Die Macht der Bilder ist gewaltig, sie erschrecken, faszinieren - wir reden über sie. Audiovisuelle Medien ziehen ihre Macht aus der Macht der Bilder. Printmedien haben an dieser Macht teil. Auch der Rundfunk ruft die Erinnerung an solche Bilder wach. Medien arbeiten mit Hilfe solcher Bilder am Gedächtnis der  Gesellschaft, sie bestimmen die Werte von Generationen. Prägend sind sie für die Wertbildung und Wertbindung gerade der jungen Generation. In der Jugend wächst die Gesellschaft von morgen heran; es ist unsere Aufgabe zu fragen, welche Grundlagen ihre Wertebildung haben soll.

Eine Verständigung über die sie tragenden Fundamente ist für jede Gesellschaft geboten.  Und es ist ein Ausweis ihrer Humanität, dass sie sich immer wieder über folgende Fragen austauscht: In welcher Gesellschaft will ich leben? Welche Werte sind unverzichtbar? Welche Bausteine brauchen wir für ein Haus unserer Gemeinschaft, unter dessen Dach neben Kreativität und Entfaltung vor allem auch Schutz und gegenseitige Achtung beherbergt werden? Die Verständigung über solche Fragen braucht Begegnung, sie ist auf konkrete Beziehungsfelder angewiesen, wie sie etwa Musik, Sport und Spiel, aber auch Religion und Medien darstellen. Durch Gestaltung und Kritik werden solche Begegnungsräume mit Inhalten gefüllt.

Um das Leben zu verstehen und zu deuten, ist gerade in einer von der Schnelligkeit der Medien bestimmten Gesellschaft die Fähigkeit zum Innehalten nötig. Wir brauchen Raum und Zeit zum Hören und zum Nachdenken, zum Verstehen und zum Weitergeben. Wenn man angesichts der explosiven Entwicklung insbesondere von (digitalisiertem) Fernsehen und Internet verstärkt nach einem Schutz insbesondere Jugendlicher vor der Gefährdung durch diese Medien ruft, dann kann die Aufgabe eines solchen Jugendmedienschutzes nicht allein defensiv dahingehend verstanden werden, dass Kinder und Jugendliche vor der Darstellung von Sex, Gewalt und die Menschenwürde verachtenden Szenen geschützt werden. Der Jugendmedienschutz hat es vielmehr mit der  Aufgabe eines aktiven, also eigenständigen und verantwortlichen Umgangs mit den Medien zu tun. Kinder und Jugendliche brauchen zuallererst die Fähigkeit zu unterscheiden. Sie brauchen Zeit, das auf sich wirken zu lassen, was Wertbildung und Wertbindung fördert. Sie brauchen  Freiräume, um die eigene Fähigkeit des Unterscheidens auszuprägen. Es gibt deshalb keine Alternative zu dem Vorhaben, dass Kinder und Jugendliche Medien maßvoll nutzen. Die von manchen für altmodisch gehaltene Festlegung bestimmter und begrenzter Zeiten der Mediennutzung ist gerade bei einer Vervielfachung der Medienangebote ebenso unentbehrlich wie das Gespräch mit Kindern und Jugendlichen über die Frage, welche Sendungen sie sehen und welche nicht. Dass dabei die Mediennutzung der Erwachsenen eine erhebliche Vorbildwirkung entfaltet, versteht sich von selbst. Das Einüben einer verantwortbaren Mediennutzung gehört heute ohne jeden Zweifel zu den zentralen Erziehungsaufgaben in der Familie, aber auch in der Schule. Neben allen rechtlichen Fragen, die sich im Bereich des Jugendmedienschutzes stellen mögen, ist es gerade Aufgabe des  'Hauses, das die Träume verwaltet' – wie Fulbert Steffensky die Kirche sensibel und treffend genannt hat – , sich dafür einzusetzen, dass Jugendlichen dieser Raum gewährt wird.

Renate Schmidt, die zuständige Bundesministerin für Fragen des Jugendschutzes, konstatierte in ihrem Grußwort zur Jahrestagung der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien am 26./27. April 2004 in Würzburg, „dass es in der Bundesrepublik Deutschland einen gesamtgesellschaftlichen Konsens darüber gibt, dass Kinder und Jugendliche vor allen Gefahren geschützt werden sollen, die ihre Entwicklung zu eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten beeinträchtigen oder sogar gefährden können.“ Der in dieser Aussage formulierte Konsens ist zu begrüßen. Aber er entbindet uns nicht von der Aufgabe, den qualifizierten Beitrag der Kirchen und des christlichen Glaubens zur „Entwicklung einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“ in einer humanen Gesellschaft einzubringen.

II.
Die Kirchen bringen in die medienpolitische Arbeit der einzelnen Selbstkontrollgremien das christliche Menschenbild ein. Wie notwendig ein Dialog über die grundsätzlichen ethischen Orientierungen einer gesamtgesellschaftlichen Medienkompetenz im Vorfeld regulierender Maßnahmen ist, unterstreicht schon der Hinweis, dass das weltweite Netz nicht einfach zu kontrollieren ist, wenn man nicht zu drastischen Zensurmaßnahmen greifen will, die einer Demokratie eigentlich unwürdig sind. Es ist doch illusionär, zu erwarten, dass Personen sich in den Medien und gerade im „weltweiten Netz“ an gemeinsame Moralkodizes halten, so lange sie  nicht eigene ethische Fundamente haben. Es gehört sicherlich zu den spannenden Fragen, wie wir die Zusammenhänge von sozialem und virtuellem Netz fruchtbar machen. Das, was für unsere Gesellschaft menschlich von Bedeutung ist, passiert nicht nur durch das Netz, sondern vor allem in personalen Begegnungen und im Einüben moralischer Haltungen.

Die global vernetzten Kommunikationsmedien erzeugen eine Spannung: Sie konstituieren einerseits eine Weltöffentlichkeit, die Menschenrechtsverletzungen an entlegensten Orten der Erde zum Bewusstsein bringen; anderseits ist aber das Internet dank seiner Schnelligkeit, Anonymität und mangelnden Kontrollierbarkeit auch eine gefährliche Waffe gegen Humanität, Menschenwürde und eine integre Privatsphäre. Die Folgewirkungen der neuen Kommunikationstechniken sind – wie die jeder Technik – ambivalent und erfordern die Anstrengung einer menschendienlichen und sozialverträglichen Gestaltung. Das haben die Kirchen schon in ihrer gemeinsamen Erklärung zu „Chancen und Risiken der Mediengesellschaft“ von 1997 deutlich gemacht.

Die Dynamik des Wertewandels der letzten vier Jahrzehnte hat gezeigt, dass zukunftsfähiges Handeln auf die Grundbausteine der Achtung der menschlichen Würde sowie der Verknüpfung von Freiheit und Verantwortung des Einzelnen nicht verzichten kann. Ob unsere Gesellschaft zukunftsfähig ist, entscheidet sich nicht nur daran, ob wir mit den natürlichen Ressourcen verantwortlich umgehen und unsere Wirtschaft leistungs- und wettbewerbsfähig erhalten. Es entscheidet sich vielmehr ebenso daran, ob wir die Institutionen des sozialen Zusammenlebens pfleglich behandeln, und ob wir unsere kulturelle Identität bewusst bewahren und weiterentwickeln. Sonst könnte es sein, dass wir wichtige Elemente des sozialen Zusammenhalts und des kulturellen Erbes innerhalb kurzer Zeit verspielen, ohne dass irgendein tragfähiger Ersatz dafür in Aussicht steht.

Die Erwartungen, die sich in diesem Zusammenhang an die Kirchen richten, sind hoch, auch unabhängig von quantitativen Kategorien wie Mehrheit oder Minderheit.  Und sie wachsen in diesen Tagen der Buchhaltermentalitäten, einer Zeit, die von einem „ungeduldigen, teilweise oberflächlichen, pragmatischen, eher ungeistigen Verhalten geprägt ist“, wie Renate Köcher 2002 vor der Synode der EKD gesagt hat. Der Beitrag der Kirchen zu einer humanen Gesellschaft muss sich an ihrem profilierten Einsatz für eine gottoffene Humanität zeigen; ihr Beitrag zu einem tragfähigen ethischen Fundament hängt an der Klarheit und  Gegründetheit ihrer Positionen und der sie vertretenden Personen. Freilich versteht sich dieser Beitrag als eine Einladung zum authentischen und auskunftsfähigen Dialog; denn an dem notwendigen Klärungsprozess müssen sich alle gesellschaftlichen Gruppen beteiligen. Auch das lässt sich am Jugendmedienschutz als Beitrag zu verantwortlicher Mediennutzung verdeutlichen. Wirksame Konzepte kann es bei einem solchen Thema nur dann geben, wenn alle relevanten gesellschaftlichen Gruppen es sich zu eigen machen. Denn andernfalls werden sich die wirtschaftlichen Interessen an einer zeitlich und qualitativ schrankenlosen sowie thematisch schamlosen Mediennutzung unweigerlich als stärker erweisen. Wir sollten deshalb das Interesse am Schutz von Kindern und Jugendlichen nicht in einem falsch verstandenen Sinne an Beauftragte delegieren.  Wir sollten vielmehr Medienkompetenz und Medienpädagogik  offensiv  vor allem in Schulen und Vereinen, im Konfirmandenunterricht, in der Kinder- und Jugendarbeit, aber auch in der Arbeit mit Erwachsenen und Senioren zum Thema machen.

Ein Blick in das Programmangebot des Fernsehens oder die Auslagen von Bahnhofsbuchhandlungen zeigt, was Menschen heute vordergründig bewegt. Die Medienprodukte zur Lebenshilfe, zur aktiven Lebensgestaltung, zu Bildung, Sinnenfreude und Genuss, für die unterschiedlichsten Hobbys und Interessen sind Legion. Die Sehnsucht des Menschen nach Leben, nach Angenommensein, nach Wertschätzung und Achtung ist riesengroß. Die Entwicklung der Werte der sechziger Jahre, die von Pflicht und Akzeptanz geprägt waren (Sparsamkeit, Ordnung, Disziplin, Genügsamkeit, sich in eine Ordnung einfügen, sich anpassen - die Themen der Achtundsechziger waren auch ein Ausbruch aus solchen alten Wertvorstellungen) hin zu den Werten der heutigen Generation, für die persönliche Neigungen und die Tendenz zur Selbstentfaltung bestimmend sind (Freizeit, Genuss, Selbstwert, Geld, Bildung, Schönheit, Gesundheit, Frieden, Besitz, Geliebtsein, Selbstverwirklichung), zeigt bei allem Wertewandel anthropologische Konstanten: Menschen wollen in ihrem Leben vorkommen, sie suchen ihren Platz im Leben und wollen dieses in der Fülle und Tiefe menschlicher Existenz erfahren. Menschen wollen bedeutsam und wichtig sein. Ihr Leben soll einen Sinn haben.

Sinnvolles Leben ist unvorstellbar ohne die Erfahrung, gewollt und wertvoll zu sein. Diese Erfahrung ist an Vertrauen gebunden. Ohne Vertrauen gibt es kein erfülltes Leben. Vertrauen ist notwendig, weil wir uns, um leben zu können, auf eine Zukunft einstellen müssen, die wir nicht vollständig überblicken können. Vertrauen sucht nach Gründen für die Erwartung, dass es mit dieser Zukunft gut gehen wird, dass ihre Risiken sich bändigen lassen, dass Leben gelingt. Es hält sich an die Zusage, dass Gott Gutes mit uns vorhat, und fördert deshalb Verlässlichkeit unter den Menschen.
 
In der Erneuerung solchen Vertrauens sehen wir einen zentralen Beitrag der Kirche zum Zusammenleben in der Gesellschaft. Dieser Beitrag ist von der Gewissheit des Gottvertrauens geprägt, das auch für das wechselseitige Vertrauen der Menschen die entscheidende Grundlage und für das Selbstvertrauen des Menschen den entscheidenden Maßstab bildet. In solchem Vertrauen liegt die wichtigste Grundlage für eine Wertorientierung,  die in den Unsicherheiten unserer Zeit neue Klarheit vermitteln kann.

III.
Es gilt als ein elementarer Grundsatz christlicher Ethik, dass ich anderen Menschen  mit eben der Achtung begegne,  die ich auch um meiner eigenen Würde willen erwarte.  Über die Renaissance und die Aufklärung hat der Begriff der Menschenwürde Eingang gefunden in die demokratischen Verfassungen und bildet den Kern der Menschenrechte. Allerdings droht der Ausverkauf menschlicher Würde in den Medien (wie in anderen Lebensbereichen) fortzuschreiten, wo die Mechanismen des Marktes wie Einschaltquoten und Marktanteile um jeden Preis vergöttert werden.
 
Die Grenzen zwischen Information und Unterhaltung sind fließend geworden. Infotainment oder Politainment sind die Formen, in denen ein Großteil unserer Zeitgenossen am ehesten noch zur Teilnahme am politischen Geschehen motiviert werden kann. In den Massenmedien – so hat die Evangelische Kirche in Deutschland in einer kritischen Reflexion dieser Entwicklung festgestellt – wird die Leitkategorie ‚Klärung’ weitgehend durch ‚Aufmerksamkeit’ ersetzt. Der Neuigkeits- und Konfliktwert der Information, die Prominenz der Sprecher, der Sensationsgehalt der Bilder, der Symbolwert der Inszenierung rangieren vor Relevanz und Sachgehalt der Themen.

Aufmerksamkeit ist eine der wichtigsten Brücken zwischen Medien und Moral. Erst wenn es dahin komme, so hat Immanuel Kant bemerkt, dass die Menschenrechtsverletzung, die an einem Ort geschieht, an allen Orten gespürt wird, ist die Vorstellung von einem Weltbürgerrecht nicht länger eine „überspannte Vorstellungsart des Rechts“, sondern eine in der Aufmerksamkeit der Menschen verankerte Kategorie. Anders gesagt: Ohne die mediale Vermittlung von Sachverhalten – auch über große räumliche und zeitliche Abstände hinweg – wäre die Rede von universalen Menschenrechten obsolet. Ohne die Wirksamkeit der Medien hätten die Menschenrechte keine Wirksamkeit. Wer im Namen der Menschenrechte Medienkritik übt – und dazu gibt es immer wieder hinreichend Anlässe - , muss sich gleichzeitig klarmachen, dass es ohne Medien gar keine Möglichkeit gäbe, die weltweite Geltung der Menschenrechte einzufordern.

Freilich schließt das nicht aus, dass Medien auch in einer Weise verwendet und eingesetzt werden, die mit der Würde der menschlichen Person unvereinbar ist. Wo Gewalt und Intimität zur bloßen Unterhaltung werden, überschreiten die Medien eine Grenze, die ihnen durch die Unantastbarkeit der Menschenwürde gesetzt ist. Die Belagerung von Menschen, die den Tod ihrer Tochter betrauern, hat mit Information nichts zu tun. Und für Unterhaltung ist das Thema nicht geeignet. Die Medien beziehen ein Stück ihrer moralischen Autorität daraus, dass sie Anwälte der Menschenwürde zu sein vermögen. Sie sind das aber nur, wenn sie auf bestimmte Bilder auch zu verzichten bereit sind. Mir ist das immer dann am deutlichsten geworden, wenn Medien in die Trauer von Menschen schamlos eingedrungen und eingebrochen sind.

An diesem Tatbestand ändert sich im Übrigen auch nichts, wenn Menschen Würdelosigkeit freiwillig auf sich nehmen. Die „Dokumentation“ von Schönheitsoperationen an allen Teilen des Körpers überschreitet die Grenze, die die Achtung vor der Würde eines anderen verlangt; das entwürdigende Wohnen in einem Container oder einem Dschungelcamp schließt sich hier nahtlos an. Auch die Freiwilligkeit eines Betroffenen und sein Einverständnis bieten keine Rechtfertigung dafür, sich einer würdelosen Programmgestaltung zu unterwerfen. Auch wenn Wellness und Wohlbefinden, Fitness und Gesundheit hoch geschätzt werden und vielen ihr Körper als ein neuer Himmel, als Ort der Sehnsucht, als Raum der Vergewisserung von Heil und Ganzheit erscheint, so gilt doch, dass eine Verherrlichung des gesunden Körpers unweigerlich in die Verachtung des kranken Körpers umschlägt. Die Verletzlichkeit des menschlichen Lebens, die Würde des Leidenden, die Kraft, die sich nur in der Schwachheit zeigt: wenn all das nicht mehr als zum Menschsein gehörig wahrgenommen wird, dann leidet die Menschlichkeit Schaden. Es ist charakteristisch für die Mentalität des Nicht-zu-kurz-kommen-wollens, wenn sich bei Jugendlichen heute ein Kategorienwechsel von „gut und böse“ hin zu „stark und schwach“ vollzogen hat. Doch die Entwürdigung des Schwachen, die sich daraus unweigerlich ergibt, ist für Christen nicht hinnehmbar. Denn sie empfangen ihre eigene Würde immer wieder neu aus der Selbsthingabe dessen, der sich selbst um der Menschen willen der Schwachheit preisgibt.

Um der Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft willen gehört es deshalb zu den unverzichtbaren Aufgaben der Kirche, zur verantwortlichen Gestaltung des individuellen wie des gemeinsamen Lebens aufzufordern. Dass dabei Mut und Phantasie vonnöten sind, hat sich bei allen Klärungsprozessen gezeigt, die von Seiten der Kirchen zu solchen Fragen stattgefunden haben. Beispielhaft nenne ich den Konsultationsprozess zur wirtschaftlichen und sozialen Lage, der 1997 in das Gemeinsame Wort der Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage mündete. In diesem Zusammennhang ist auch deutlich geworden, dass das Selbstwertgefühl des Menschen wie seine Bereitschaft zur Achtung für andere davon abhängt, dass er sich nicht in eine passive Konsumentenhaltung drängen lässt, sondern zur aktiven Gestaltung des eigenen Lebens und zur aktiven Mitgestaltung des gemeinsamen Lebens bereit und im Stande ist. Jugendliche, in denen sich das Gefühl breit macht, nicht gebraucht zu werden, empfinden Feindschaft gegen diejenigen, die sie für ihre Konkurrenten halten. Sie werden empfänglich für die Darstellung von Gewalt wie für die ideologische Rechtfertigung von Gewalt. Sie werden auch willige Abnehmer von Gewaltdarstellungen in den Medien sein. Eine Umgestaltung des Arbeitsmarkts, die insbesondere auch die Zugangschancen für Jugendliche verbessert, ist nicht nur um der Zukunftsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme notwendig. Notwendig ist sie ebenso im Blick auf die Wertbildung und Wertbindung von Jugendlichen. Ebenso notwendig ist die Anerkennung und Aufwertung von Arbeitsformen außerhalb der Erwerbsarbeit. Die Respektierung von Familienarbeit ist um des Selbstwertgefühls junger Mütter und Väter willen genauso notwendig wie die Respektierung ehrenamtlicher Arbeit. Wir treten für unterschiedliche Arbeitsmodelle und bürgerschaftliches Engagement ein, weil uns bewusst ist, wie Arbeit und Leistung weit über den Gelderwerb hinaus die Persönlichkeit prägt, Selbstwertgefühl und Erfolgserlebnisse schaffen. Unsere Kirche engagiert sich bewusst und mit Nachdruck für Familien; sie plädiert für einen Perspektivwechsel hin zu Kindern und sieht die Potenziale des Alterns.

Nur in der wechselseitigen Achtung kann Freiheit Gestalt gewinnen. Freiheit im christlichen Sinne meint eine Freiheit zur Weltgestaltung. Das verbreitete Leitbild der Individualisierung hat den Irrglauben genährt, Freiheit erschöpfe sich in der Sorge des Menschen um sich selbst und sei dann am Ziel, wenn man es im Erleben des eigenen Lebens möglichst weit gebracht hat. Bei diesem Irrglauben kann es nicht bleiben. Das Projekt „Schönes bequemes Leben mit Dauerunterhaltung“, Ablenkung und Show ist ein Auslaufmodell.

Die Evangelische Kirche in Deutschland hat bei ihren Überlegungen zum Verhältnis von Glauben und Kultur auf die veränderten Einstellungen bei Kindern und Jugendlichen hingewiesen: Die Dominanz der Medien kann auf Seiten ihrer Nutzer, insbesondere der Kinder und Jugendlichen, zum Verlust von realem Erleben und authentischen Erfahrungen führen. Der wachsende Konsum virtuell inszenierter Welten beeinträchtigt Realitätsbezug und Wirklichkeitswahrnehmung. Wenn die menschliche Lebenswirklichkeit, insbesondere auch in Gestalt der zu ihr gehörenden Leid- und Konflikterfahrungen, zum Gegenstand bloßer Unterhaltung wird, fällt es schwer, zwischen Fiktion und Realität zu unterscheiden. Ein angemessenes Bild von sich selbst und der Welt ist nur auf der Grundlage realer Sozialkontakte und personaler Interaktion zu entwickeln. Die Abhängigkeit von den Angeboten der Massenmedien und die einseitige Nutzung technischer Kommunikationsformen können die Ausbildung einer eigenen Identität und den Erwerb von kommunikativer Kompetenz verhindern. Daraus ergeben sich wichtige Aufgaben für die Medienpädagogik.

Sie sollte Einsicht in die Chancen, Möglichkeiten und Gefahren alter und neuer Medien vermitteln, zu eigenständigem Denken und Handeln motivieren und dazu befähigen, Orte innerhalb und außerhalb der Medien zu entdecken, an denen menschliche Kommunikation möglich ist. Stärkung der Medienkompetenz bedeutet, die herkömmlichen Kulturtechniken Sprechen, Lesen, Schreiben, Rechnen usw. durch die Fertigkeit zu ergänzen, Fernsehen und Computer nicht nur zu benutzen, sondern zu beherrschen, d.h. selbstgesetzten Zwecken unterzuordnen.

IV.

Es gehört zu den grundlegenden Aufgaben menschlicher Selbstbildung und menschlichen Selbstverständnisses, Individualität und Sozialität nicht auseinander zu reißen, sondern zusammenzuhalten. Für den Aufbau der Persönlichkeit ist es entscheidend, Selbstbestimmung und Verantwortung für den Nächsten nicht gegeneinander zu stellen, sondern miteinander zu verbinden. Was wir von der menschlichen Würde halten, zeigt sich deshalb nicht nur an den Ansprüchen, die wir um der eigenen Würde willen geltend machen.  Was wir von der menschlichen Würde halten, zeigt sich vielmehr in besonderem Maß daran, wie wir mit der Würde der anderen umgehen, insbesondere derer, die unter Einschränkungen leiden und an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Mitleid und Verantwortung sind Werte, denen in unserer Gesellschaft zukünftig mehr Raum  zuerkannt werden muss.

Die Nächstenliebe, von der das Neue Testament spricht, und die Verantwortung für den Nächsten, zu der es einlädt, orientieren sich in besonderer Weise am Leid des Mitmenschen. Jesus selbst wird als einer geschildert, der sich den Leidenden zuwendet und sie aufrichtet. Leid zur Sprache kommen zu lassen, vermeidbaren Schmerz zu vermeiden, Verantwortung nicht zu verweigern und die Fürsorge für die Integrität des andern nicht zu versäumen: das sind Dimensionen der Mitmenschlichkeit, für die der christliche Glaube steht. Die Kirchen haben diese Dimensionen in ihrer Geschichte selbst sehr oft verdunkelt. Christliche Kirchen haben bisweilen eher Menschen ihre Schuld vorgehalten als ihr Leid mit ihnen getragen; sie haben oft mehr von der Sünde geredet als von der Verantwortung für den Nächsten. Dabei kann man sogar noch bei Fernsehübertragungen von Sportereignissen beobachten, wie es Menschen anrührt, wenn wirkliches Mitleid, echte Fürsorge für einen gefährdeten oder verletzten Gegner, den Geist des Wettkampfs und des Siegenwollens in die Schranken weist. Wie Lance Armstrong und Jan Ullrich bei der Tour de France jeweils nach dem Sturz des anderen aufeinander warteten, ist ein starkes Bild für diese Form des gegenseitigen Aufeinanderschauens.

Erst eine solche Empathie, die auch die Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme einschließt, eine Leidempfindlichkeit, die sich von Wehleidigkeit gründlich unterscheidet, schafft eine Basis dafür, dass sich in uns und um uns eine Kultur der Achtung entwickeln kann. Wo nur derjenige Anerkennung genießt, der sich durch besondere Leistungen oder besonderes Glück hervortut, steht es um eine solche Kultur der Achtung nämlich schlecht. Solange wird nämlich die Achtung der einen mit der Geringschätzung der anderen erkauft.

Dieses Plädoyer, auch wenn es durch die Frage nach dem Jugendmedienschutz ausgelöst ist, läuft im Grunde darauf hinaus, der Förderung von Wertebewusstsein den Vorrang zu zuerkennen. Jugendschutz aller Art hat in meinen Augen einen subsidiären Sinn. Auch in diesem Sinn bleibt er wichtig. Doch der Umgang mit Grenzen setzt ein Bewusstsein der Mitte voraus. Wer Grenzen ziehen will, muss wissen, was er schützen möchte. Auch im Zusammenhang mit Jugendmedienschutz sollte nicht nur über das geredet werden, was verhindert werden soll. Vor allem muss man deutlich machen, was gefördert werden soll: das Bewusstsein von Wert und Würde des Menschen.