Predigt im Festgottesdienst „500 Jahre Luthers Freiheitsschrift“ am 30. Oktober 2020 in der Margarethenkirche, Gotha

Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland

EKD-Ratsvorsitzender Heinrich Bedford-Strohm im Talar

Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland (Archivbild)

Joh 8,31-36

Da sprach nun Jesus zu den Juden, die an ihn glaubten: Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger 32und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen. 33Da antworteten sie ihm: Wir sind Abrahams Nachkommen und sind niemals jemandes Knecht gewesen. Wie sprichst du dann: Ihr sollt frei werden? 34Jesus antwortete ihnen und sprach: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer Sünde tut, der ist der Sünde Knecht. 35Der Knecht aber bleibt nicht ewig im Haus; der Sohn bleibt ewig. 36Wenn euch nun der Sohn frei macht, so seid ihr wirklich frei.

Liebe Gemeinde,

der Reformationstag ist für mich so etwas wie der Tag der Freiheit. Er steht für eine innere Freiheit, die sich fest getragen und gehalten weiß in Gottes Hand, die weiß, dass nichts uns trennen kann von der Liebe Gottes, weder Tod noch Leben, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges – und auch kein Virus! Und die genau daraus die Kraft zur Liebe gegenüber den Mitmenschen gewinnt. Ja, der Reformationstag ist der Tag einer Freiheit, die in der Liebe ihre Erfüllung findet.

Niemand hat diesen Zusammenhang eindrucksvoller vor Augen geführt als Martin Luther. Und nirgendwo hat er es brillanter getan als in seiner berühmten Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“, die in diesem Jahr 500 Jahre alt wird. Eine Erstausgabe dieser Schrift wird als UNESCO-Weltdokumentenerbe hier in Gotha in der Forschungsbibliothek in Schloss Friedenstein aufbewahrt. Und so ist es für mich eine große Freude, heute am Vorabend des Reformationstags hier bei Ihnen in Gotha Gottesdienst feiern und miteinander ins Gespräch kommen zu können. Aus keiner anderen Schrift Luthers habe ich bei den vielen Vorträgen und Predigten im Reformationsjubiläumsjahr 2017 so oft zitiert wie aus Luthers Freiheitsschrift. Heute dieser Schrift so nahe zu sein, dem Original physisch so nahe zu sein, ist auch für mich etwas besonders Schönes.

Besonders oft habe ich einen Satz aus der Schrift zitiert, der für mich in unübertroffener Weise den Zusammenhang zwischen Glauben und Liebe zum Ausdruck bringt, der den Kern von Luthers Freiheitsverständnis ausmacht und der heute aktueller ist denn je: „Sieh, so fließt aus dem Glauben die Liebe und die Lust zu Gott und aus der Liebe ein freies, williges, fröhliches Leben, dem Nächsten umsonst zu dienen. Denn so wie unser Nächster Not leidet und unseres Überflusses bedarf, so haben ja auch wir Not gelitten und seiner Gnade bedurft. Darum sollen wir so, wie uns Gott durch Christus umsonst geholfen hat, durch den Leib und seine Werke nichts anderes tun als dem Nächsten helfen.“

Das ist ein bemerkenswerter Satz. Denn er appelliert an die Einsicht der Menschen: „Du kennst doch selbst diese Not. Du weißt doch, wie sehr du dir selbst wünscht, dass die anderen dir beistehen. Also öffne dein Herz genauso für die anderen, wie du selbst das in der gleichen Situation erhoffst.“ Das ist kein Appell an Aufopferung oder Selbstverleugnung. Das ist ein Appell an die Einsicht aller Menschen guten Willens.

Er ist hochaktuell in diesen Tagen, da wir um den richtigen Umgang mit der Corona-Pandemie ringen. Denn er schärft uns ein: Einander beistehen, ist die beste Basis für einen erfolgreichen Umgang mit der Pandemie. Pandemiebekämpfung kann nicht zuallererst auf staatlichen Zwangsmaßnahmen beruhen. Die können auch nötig sein, nämlich da, wo gerade verletzliche Menschen nicht anders geschützt werden können. Aber Pandemiebekämpfung ist vor allem eine Konsequenz der Liebe. Der Selbstliebe, aber auch der Nächstenliebe. Und damit Aufgabe eines jeden und einer jeden von uns.

Freiheit eines Christenmenschen in Pandemiezeiten heißt selbst Verantwortung zu übernehmen. Selbst dafür zu sorgen, dass unser Zusammenleben sowohl das menschliche Grundbedürfnis nach Beziehung und Nähe im Blick hat  als auch die Vorsichtsregeln beachtet, um Ansteckungsrisiken so weit wie möglich zu begrenzen.

Freiheit eines Christenmenschen in Pandemiezeiten heißt sorgsam mit Gesundheitsrisiken umzugehen und gleichzeitig dafür einzutreten, dass Menschen keinen sozialen Tod sterben.

Freiheit eines Christenmenschen in Pandemiezeiten heißt, sich anrühren zu lassen von der Not der Menschen, deren ökonomische und soziale Existenz durch die Coronamaßnahmen immer mehr wegbricht, und gemäß den eigenen Möglichkeiten Solidarität zu üben.

Das ist Freiheit! Luther hat seiner Schrift zwei Thesen vorangestellt: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr aller Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan!“ Wenn wir heute darüber diskutieren, wie die in Pandemiezeiten notwendige Klarheit staatlichen Handelns mit der unverzichtbaren Rolle einer starken Zivilgesellschaft in unserer Demokratie am besten zusammengehen kann, dann sind diese beiden Thesen genau die richtige Orientierung: Freiheit heißt einerseits kein Untertanengehorsam! Selber denken! Für seine Überzeugungen einstehen! Und Freiheit heißt andererseits: nicht sich in abstrusen Verschwörungsphantasien verlieren oder rücksichtslos seine Eigeninteressen verfolgen, sondern dem Nächsten dienen und immer auch sein Wohl im Blick haben. Freiheit widerspricht der Liebe nicht, sondern sie mündet in Liebe.

Was ist die Quelle für eine solche Haltung? Wie kann diese Haltung in unserem Herzen, in unserer Seele wachsen? Wie kann sie sich in schwierigen Zeiten bewähren? Die Worte Jesu aus dem Johannesevangelium geben eine klare Antwort: „Die Wahrheit wird euch freimachen.“ Und weil das immer noch ein wenig geheimnisvoll klingt, wird er wenig später noch konkreter: „Wenn euch nun der Sohn freimacht, so seid ihr wirklich frei.“

Christus selbst ist die Quelle der Freiheit. Christus selbst ist die Quelle für den Mut, für die Zivilcourage, um auch den Autoritäten zu widerstehen, wo es nötig ist. Christus selbst ist die Quelle für die Liebe, die Zivilcourage von Rücksichtslosigkeit zu unterscheiden hilft.

Wenn Menschen heute für Freiheiten demonstrieren, die andere in Gefahr bringen, dann können sie sich nicht auf das christliche Freiheitsverständnis berufen. Weil die Liebe verlangt, gerade auf die Schwachen und Verletzlichen Rücksicht zu nehmen. Wenn sie in ihrem Protest aber auf die Not von Menschen aufmerksam machen, die ihre Existenz verlieren und verzweifelt sind, dann ist das anders. Dann gilt es genau hinzuhören, sich von der Not anrühren zu lassen und nach Wegen zu suchen, wie Menschen wieder Boden unter den Füßen bekommen können.

„Die Wahrheit wird euch freimachen.“ Dass Christus als Quelle der Freiheit hier mit der Wahrheit verknüpft wird, spricht mitten hinein in unsere Situation. Denn wir erleben gerade so etwas wie einen Kampf um die Wahrheit. Für manche Menschen verschwimmt gerade der Unterschied von wahr und falsch. Die Verschwörungsmythen, Falschmeldungen und Halbwahrheiten, die sich im Internet ausbreiten, lassen das Thema Wahrheit zu einer der zentralen Fragen im Umgang mit der Pandemie werden.

Wahrheit - das sind erstmal die schlichten Fakten. Wenn vor mir fünf Menschen stehen, dann kann mir niemand erzählen, dass es in Wirklichkeit zehn sind. Zu Recht hat die Welt den Kopf geschüttelt, als eine Mitarbeiterin des frisch ins Amt eingeführten amerikanischen Präsidenten von „alternativen Fakten“ sprach, so als ob fünf eben doch zehn sein könnte. Das Schlimme ist, dass selbst diese Verdrehung der Wahrheit durch die Mechanismen der sozialen Medien noch salonfähig wird. Denn was auf den Bildschirmen erscheint, entscheiden Algorithmen, die so programmiert sind, dass die Werbeeinnahmen möglichst hoch sind. Der größte Unsinn wird massenhaft auf die Bildschirme gespült, weil Unsinn, Hass und alles mögliche Extreme einfach häufiger angeklickt wird und mehr Werbeeinnahmen einbringt.

„Die Wahrheit wird euch freimachen.“ Im Hinblick auf das Internet heißt das, eine digitale Ethik zu entwickeln und gesellschaftlich und politisch umzusetzen, die solche Verirrungen überwindet.

Im Johannesevangelium heißt Wahrheit aber noch viel mehr. Wahrheit ist die Quelle jener Freiheit, von der auch Martin Luther gesprochen hat. Und sie hat einen Namen: Jesus Christus. „Wenn euch nun der Sohn frei macht, so seid ihr wirklich frei.“ – sagt Jesus. Wer die innere Freiheit spürt, die durch die Christusbeziehung entsteht, der schaut mit den Augen der Liebe auf die Welt mit all ihren Fakten, der sieht die Notleidenden, der entwickelt Perspektiven für die Welt, in der Gerechtigkeit, Freiheit des Glaubens, Überwindung der Gewalt und ein achtungsvoller Umgang mit der Natur eine Chance bekommen.

Wenn euch nun der Sohn freimacht, so seid ihr wirklich frei.“ Freiheit heißt in ihrem tiefsten Sinne die Überwindung aller Angst, die Vergebung aller Sünden, die Überwindung der Macht des Todes. Wer sich in der Einheit mit Christus weiß, der spürt tief in der Seele, dass der Tod nicht das letzte Wort hat, dass wir sterben mit Christus und dass wir auferstehen mit Christus und mit ihm zugehen auf den neuen Himmel und die neue Erde, die er uns verheißen hat und in dem kein Leid, kein Geschrei, kein Schmerz mehr sein wird und in dem alle Tränen abgewischt sind.

In einer Situation der Ungewissheit aus dem Vertrauen zu leben. Im Gebet immer wieder neue Kraft zu gewinnen. Im Hören auf Gottes Wort immer wieder Orientierung zu finden. Und so nicht aus dem Geist der Furcht zu leben, sondern aus dem Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit. Das, liebe Gemeinde in diesen Zeiten der Pandemie, das ist wahre Freiheit!

Und der Friede Gottes…