Bibelarbeit

05. November 2002 (7. Tagung der 9. Synode der EKD Timmendorfer Strand)

(EG 446, Strophen 1 bis 4 und 7 bis 9 - Gemeinsames Sprechen von Luthers Morgensegen)

Hohe Synode!
Wir beschäftigen uns heute Morgen mit einer Art Kontratext zu Psalm 8. Auf der Rückseite des Liedblattes habe ich ihn abdrucken lassen. Es handelt sich um Hiob 7, Vers 17 bis 21.

"Was ist der Mensch, dass du ihn achtest und dich um ihn bekümmerst?" oder wörtlich übersetzt: "... dass du ihn vergrößerst und dein Herz auf ihn richtest?" "Jeden Morgen suchst du ihn heim und prüfst ihn alle Stunden. Warum blickst du nicht einmal von mir weg und lässt mir keinen Atemzug Ruhe? Habe ich gesündigt, was tue ich dir damit an, du Menschenhüter? Warum machst du mich zum Ziel deiner Anläufe, dass ich mir selbst" - oder andere Lesart: "dir selbst" - "eine Last bin? Und warum vergibst du mir meine Sünde nicht oder lässt meine Schuld hingehen? Denn nun werde ich mich in die Erde legen, und wenn du mich suchst, werde ich nicht mehr da sein."

Liebe Gemeinde, das hätte sich Hiob auch nicht träumen lassen, dass er diesen wunderbaren Psalmvers, den er aus seinen Glanz-und-Gloria-Zeiten auswendig konnte, einmal unter dermaßen verschlechterten Lebensbedingungen wiederholen würde und wiederholen müsste, nur von Dur nach Moll transponiert, nicht mehr im Tempel unter dem Panorama des nächtlichen Sternenhimmels, sondern draußen vor der Tür, auf der Asche. Diese Liturgie in der Asche haben wir hier. Welch' eine Wendung durch Gottes Wette!

Der ganze liturgische Rahmen, der einmal für diesen Text galt, wo es von der Gottesanbetung zur Selbstbewunderung ging, ist weggebrochen. Keine Sterne mehr, an denen der Mensch Maß nehmen könnte, ohne deprimiert zu werden von der Weite des Kosmos, weil er ja den Eindruck hat, Gott hefte da oben leuchtende Lampen dran, nahezu in Reichweite, und was sein Finger da schafft, das schafft seine Hand auf Erden erst recht. Das Große ist für ihn nicht zu groß, das Kleine nicht zu klein. Also, wenn ich sehe den Himmel, deiner Finger Werk, was ist der Mensch, dass du an ihn denkst, und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst? Allerhand! Alle Achtung!

Diese Sterne sind nun weg und wir haben die Asche.

Ich hatte einen Klassenkameraden, der ein Musterbeispiel für Selbstbewunderung war. Jedes Mal, wenn er eine Klassenarbeit wiederbekam, die er einigermaßen geschafft hatte, selbst bei einer 3, brach er in den Ausruf aus: "Ich könnte mich küssen!"

Das ist mir damals schwerer gefallen, nicht weil die Arbeiten schlechter waren, sondern weil ich einfach in dieser fröhlichen Identität nicht lebte. Das war Identität pur. Ich könnte mich küssen!

Von dieser Selbstbewunderung ist der arme Hiob nun weit weg. Er geht den Weg von der Selbstverachtung zur Gottesanklage. Er muss sagen: Ich muss mich leider kratzen und es juckt mich überall, auch in meinem Verhältnis zu Gott. - Das Ambiente aus dem Tempelgottesdienst ist weggebrochen, der erhabene Anblick, die erhebende Stimmung, die erhobenen Hände. Und da sind auch keine Schafe und Rinder mehr, an denen er Maß nehmen könnte, an denen er seine Vollmacht ablesen und ausprobieren könnte, denn die wurden entweder vom Blitz erschlagen oder gestohlen, Tausende von dieser Sorte.

Im Psalm 8 nimmt der Mensch an den Tieren Maß. Es heißt: Alles hast du unter seine Füße getan, Schafe und Rinder allzumal, dazu auch die Fische im Meer. - Das ist ein klein bisschen übertrieben und ein lyrischer Selbstläufer, denn vor dem Meer hatten die Israeliten im Grunde enormen Respekt und Gott erinnert in seiner abschließenden Rede an Hiob auch daran, dass es wohl lächerlich wäre, dem Krokodil oder dem Nilpferd ein Bändchen umzubinden und mit ihm zu spielen und es zu dirigieren (vgl. Hiob 40, 15ff und 25 ff).

Aber in Psalm 8 ist die Herrschaft über alles, was die Meere durchzieht, nun mal lyrisch schlüssig: alles hast du unter seine Füße getan. Hiob jedoch hat nun nichts mehr, das ihm untertan ist, und konsequenterweise sitzt er auf dem Boden.

Psalm 8 nimmt Maß an den Sternen, an den Rindern und schließlich an den Kindern. Denn da ist ein Gottesgeschrei, vielleicht ein illegaler Kindergottesdienst gleichzeitig mit der offiziellen Liturgie oder die Kinder laufen einfach schreiend im Tempel herum. Da wird dann wunderbarerweise gesagt: Aus dem Mund der jungen Kinder hast du eine Macht zubereitet auch gegen den Feind und den Rachgierigen.

Dieses Gottesgeschrei der Kinder, das Hoffnung und Mut macht, das ist auch für Hiob verklungen. Während einer Feier seines ältesten Sohnes mit all seinen Kindern - sechs weitere Söhne und drei Töchter - ist das Haus zusammengestürzt über deren Köpfen. So kann er auch sein Leben nicht mehr einbetten in das Leben einer Familie, die Hoffnung hat und Zukunft sieht.

Der heutige Morgen ist wunderbar. Wir saßen zu Tisch und sahen aufs Meer. Zwei klassisch gebildete Landessuperintendenten zitierten Homer: Die "rosenfingrige Morgenröte" kam über die Ostsee. Wir werden ja hier auch sonst sprachlich wirklich verwöhnt. Gestern die "Dichterlesung" war wunderbar, und so muss man fortfahren - mit Homer am Frühstückstisch. An einem solchen wunderbaren Morgen möchte ich Sie nicht krampfhaft in eine melodramatische Stimmung versetzen und aus Ihnen Hiob machen - aus mir auch nicht. Es geht mir gut. Ich danke Gott. Danken Sie Gott auch!

Aber es gibt viel mehr Hiobs in der Welt als uns glückliche Timmendorf-Leute, die an diesem wunderbaren Morgen hier sitzen und, wenn wir den Himmel ernst nehmen würden, aus dem Fenster sehen könnten. Alles Große ist umsonst, auch der Blick auf das Meer. (Vorhänge werden spontan zurückgezogen. Kommentar des Bibelarbeiters: "Das ist lebendige Liturgie!")

Ich will uns nicht durch eine rhetorische Dialektik und verbale Radikalität krampfhaft in eine melodramatische Stimmung treiben. Aber mir ist bei der literarischen Verarbeitung des Hiob-Stoffes etwas aufgefallen. Da gibt es einen Roman des englischen Romanciers Herbert George Wells von 1919 "The undying fire" ("Das unsterbliche Feuer"): Da treffen sich Gott und der Versucher, genannt "der Unerwartete", während des ersten Weltkrieges wieder. Der Unerwartete sagt: "Hiob lebt immer noch ... Die ganze Erde ist jetzt - Hiob." "Es wäre an der Zeit, eine neue Wette abzuschließen", sagt der Versucher. Doch dieses Mal geht es ihm nicht um Hiobs Treue, sondern er wettet, ob er sich (in seinem Leiden) "überhaupt noch an Gott erinnert". (zitiert und übersetzt in Georg Langenhorst, Hiob unser Zeitgenosse. Die literarische Hiob-Rezeption im 20.Jahrhundert als theologische Herausforderung. Mainz 2. Aufl. 1995 Seite 73).

Das macht schon 1919 sehr schön deutlich, welche Schwierigkeiten wir haben, den Hiob, der sich an Gott abmüht, ins Heute zu transponieren, wo die Trennung von Gott offenbar schmerzfreier vonstatten gegangen ist. Hiob hat nämlich im Gegensatz zum heutigen Menschen und auch im Gegensatz zu uns, wenn es uns trifft, noch Sprache. Eine Flughafenseelsorgerin in unserer Landeskirche, die es mit manchen Menschen zu tun hatte, die von Unglücken lebend zurückkamen, sagte: "Bis sie zu mir kamen, hatten sie noch nicht gesprochen." Hiob kann sprechen. Und für diese Sprache macht er Anleihen, so als könnte er den ganzen Psalmisten auswendig; Sie werden gleich sehen, wie oft das vorkommt.

Er leiht sich die liturgische Sprache. Man sagt manchmal in der Auslegung: Er pervertiert sie, er karikiert sie, er macht daraus sarkastische Bemerkungen: "Was hab’ ich dir getan, du Menschenhüter? Muss dich jede Kleinigkeit kratzen? Da steht man doch drüber!" Diesen Sarkasmus betont man in der Auslegung.

Aber unser erster Satz, der Kernsatz: Was ist der Mensch, dass du ihn vergrößerst und dein Herz auf ihn richtest, heftest, fixierst - das hebräische Wort hat eine große Bandbreite -, dass du dich so an ihn hängst und dass du aus dem Menschen eine Herzensangelegenheit machst und nicht eine bürokratische Angelegenheit, eine Massensache? Nein! Was ist der Mensch, dass du ihn vergrößerst? ... dieser erste Satz ist keineswegs eine Karikatur, Sarkasmus oder pervertierte Psalmensprache, sondern wird von Hiob sehr sorgfältig formuliert, um Gott an seine ursprünglichsten Verheißungen zu erinnern und um die alte Treue Gottes zu provozieren.

Wir merken: Hiob kämpft um Gott, und er kämpft zusammen mit seinen Freunden - das tun die nämlich auch - um den Segen. Er kämpft um den fortdauernden Segen.

Wir sind erst in Kapitel 7, bei der zweiten Hiob-Rede. Wir haben noch sieben Freundesreden, sechs Gegenreden des Hiob und zwei Schlussplädoyers vor uns. Dann setzt ein gewisser Elihu noch vier Reden drauf (Hiob 32-37). Dann kommt das Schlusswort Gottes und zu allerletzt das Machtwort Gottes, das die Lage ändert. Wir haben noch einiges vor uns, und wir dürfen auch die Freunde nicht von vornherein schlecht machen, als würden sie im Stil einer Diskussion im Ruhrgebiet sprechen, wo man oft phantastisch aneinander vorbeiredet und endlich alles sagt, was man immer schon mal sagen wollte und was sowieso noch nie jemand hören wollte. Sie rezitieren auch die Tradition und man hat in der Tat den Eindruck, der Faden wird nicht aufgenommen; Kommunikation ist sowieso Glückssache. Man macht die Freunde des Hiob aber zu schnell so schlecht. Wir dürfen nicht vergessen, da heißt es: Und als die Freunde des Hiob hörten von dem Unglück, das Hiob betroffen hatte, wurden sie eines Sinnes, zu ihm zu gehen und ihn zu beklagen und zu trösten. Und als sie zu ihm kamen, da kannten sie ihn nicht wieder und weinten, da warfen sie Staub in die Luft, denn sie sahen, dass der Schmerz sehr groß war, und setzten sich zu ihm auf die Erde und saßen dort sieben Tage und sieben Nächte und sagten kein Wort (vgl. Hiob 2,11-13). Das geht all den Freundesreden, die mal vorbeischießen, mal nicht vorbeischießen, voraus. Dieses "sieben Tage mit ihm auf der Erde sitzen und sagten kein Wort" - ich möchte, wir hätten solche Freunde und wir wären solche Freunde!

Hinterher wird es dann natürlich etwas verworren. Ein neuerer Kommentator übersetzt immer die Einstiege zu den Reden: Und Bildad von Schuach "nahm Stellung" und Hiob "nahm Stellung." Das kennen wir ja aus der EKD, die Stellungnahmen zu Stellungnahmen.

Da geht einem manchmal die Übersicht verloren, wenn es aus dem Theologischen Ausschuss der VELKD und dem Theologischen Ausschuss der EKU und der Arnoldshainer Konferenz Stellungnahmen gibt - da haben wir mittlerweile nur noch einen, früher hatten wir zwei, also auch zwei Stellungnahmen - und dann noch aus der Kammer für Theologie, dann hat man die Stellungnahme zur Stellungnahme zur Stellungnahme. So ist das auch im Hiob, bibelkundlich sehr schwer zu lernen. Es wird im Verlauf der Diskussion kompliziert. Aber am Anfang ist da eine wunderbare stillschweigende Solidarität, ganz toll. Ich möchte, wir wären solche Freunde und wir hätten solche Freunde.

Nun möchte ich nach diesem ersten Panorama über diesen Text ihn in drei Stichworten noch einmal versuchen aufzuschlüsseln und die Deutung zu vertiefen. Das erste Stichwort: Selbstverkleinerung. Wir sind darauf eingestellt, dass der Mensch sich selbst vergrößert. Gott widersteht dem Hochfahrenden, und falls einer hoch fährt, dann haben wir sofort unseren theologischen Rasenmäher bereit und schneiden ihn auf schwache Größe runter, egal wie viel schöne Blumen dabei auch draufgehn.

Wir sind auf diese hochkommenden Menschen eingestellt, sie runterzubringen. Die Spinner dämpfen wir.

Aber Gott "widersteht nicht nur den Hochfahrenden" (vgl. 1. Petr. 5,5), sondern auch den Tiefstapelnden und den Tieffahrenden und den "Talfahrenden", das habe ich jetzt in Schleswig-Holstein im plattdeutschen Gesangbuch gelernt, leider habe ich nicht mitgeschrieben. Es heißt dort ungefähr so, dass Christus eine Talfahrt in das Reich des Todes unternahm. "Tal" hat im Plattdeutschen, so sagte mir der Küster, nichts mit der Tour von Köln nach Rotterdam zu tun, sondern 'Tal' heißt "tief", "nach unten".

Gott widersteht den Hochfahrenden, aber auch denen mit der andauernden Drang nach unten, mit der "Talfahrt". Gott widersteht den Hochmütigen, aber auch den Schwermütigen. Kierkegaard hat das so formuliert: "Das ist meine Schwermut, dass ich nichts mehr richtig wollen kann." Wollen wir eigentlich die Leute, die noch was wollen, auch in ihrem Wollen zerbrechen? Und wollen wir nicht denen, die nichts mehr richtig wollen können, gescheite Ziele zeigen, sie aufbauen, so wie wir doch in der Adventszeit singen werden: "Ich lag in schweren Banden, du kommst und machst mich los. Ich stand in Spott und Schanden, Du kommst und machst mich groß, und bringst mich hoch zu Ehren." Wer sich selbst wegwirft, tut Gott weh.

Deswegen übergeht Gott auch dieses Gebet des Hiob kommentarlos. Er meldet sich nicht ab aus dem Zuhören, er legt den Hörer nicht auf, aber er sagt auch gar nichts dazu, dass Hiob sagt: Mann, mach nicht so viel Gedöns um den Menschen. "Was ist der Mensch, dass du ihn vergrößerst?" Kuck mich an. Lohnt sich das? Hiob verkleinert sich selbst, und Gott sagt erst mal nichts. Übrigens, Hiob versucht diese Selbstverkleinerung im Gebet. In der Übersetzung von Martin Buber steht immer so schön: "Du, du", Hiob hat eine Adresse.

Selbstverkleinerung - wie die Selbstverkleinerung ohne Gott klingt, das werden wir nachher noch hören. 1) Die Selbstverkleinerung führt bei Hiob zur Gottesverscheuchung. Während er den ersten Kernsatz der liturgischen Tradition aus Psalm 8 keineswegs karikiert oder pervertiert, wird Hiob im Verlauf seines Gebetes - also keine Stellungnahme - immer bissiger und bitterer. Der Sitz in der Asche wirkt sich auf die liturgischen Merkverse verheerend aus. Er kann sich einfach an nichts mehr freuen, was Gott ihm zugesagt und geschenkt hat. Er sieht überall nur das Negative, auch wenn er die schönsten Verheißungen durchmustert. Er müsste immer sagen: Für Risiken und Nebenwirkungen achten Sie bitte auf mein Schicksal. Wenn Sie es dann noch sagen können, dann ist es gut, ich aber zur Zeit nicht.

Da ist zum Beispiel diese Verheißung, dass Gottes Gnade jeden Morgen neu ist (Klagelieder 3,23) und dass er früh am Morgen hilft (Psalm 46,6). Das hört Hiob alles ganz anders: "Jeden Morgen suchst du den Menschen heim." Deine Krankenvisiten bei mir sind ja schon richtige Visitationen, eine Kontrolle. Kaum ist man wach, fühlt man sich schon beobachtet, und unter den Augen Gottes nimmt der Schmerz nur zu. Ich suche nach der Leichtigkeit des Daseins, könnte Hiob sagen, so wie C. G. Jung sagt: "Lohnt es sich für einen Starken, eine Maus zu erschrecken?" Also überall Beobachtung durch Gott. Nie kann man sich unter seinen Augen okay fühlen.

Und dann dieser Segen, dieser aronitische Segen (auch den mustert Hiob durch du hört ihn kritischer): "Der Herr erhebe sein Angesicht über dir?" Ich krieg ja keinen Augenblick von Gott Ruhe. Ich kann noch nicht mal meine Spucke in Ruhe runterschlucken - so heißt es nämlich wörtlich übersetzt. Lass mir doch einen Schluck Ruhe.

Und dann die Sünde: Was kratzt sie dich? "Der Hüter Israels schläft noch schlummert nicht. Der Herr behütet dich, der Herr ist ein Schatten über deiner rechten Hand, dass dich des Tages die Sonne nicht steche noch der Mond des Nachts." '(Psalm 121) Das hört er nicht mehr tröstlich, sondern: Der Herr beschattet dich, er überwacht dich, er ist das ewige Auge an deiner Gefängnistür. - Okay, sagt Hiob, ich streite ja gar nicht ab, dass ich auch Sünde und Schuld kenne, und hier sagt er das sogar in Gegenwart seiner Freunde, die ihn immer davon überzeugen wollten. Aber gut, sagt er, selbst wenn es Sünde und Schuld bei mir gibt, du könntest sie leichter nehmen. Du könntest mehr vergeben und vergessen, übersehen und nachsehen.

Und dann macht Hiob Schluss. Es geht nicht mehr weiter mit uns, sagt er zu Gott, du bist mir eine Last, ich dir, und ich mir auch. Die Variationen im hebräischen Text, wo die Forschung sagt, dass die Masoreten den Text verbessert hätten, um Gott keine Last zuzumuten und deshalb hätten sie geschrieben, daß "ich mir selbst zur Last bin" und nicht "dir Gott" zur Last bin, so als könnte man Gott überhaupt nicht zur Last fallen, dieser Streit - es lohnt sich noch einmal, darüber nachzudenken. Was ist die härtere Lesart: Dass jemand Gott zur Last fällt oder sich selbst zur Last fällt? Gott kann doch viel aushalten!

Natürlich wusste Hiob von dem Gott, der Lasten auf uns legt und uns mit unseren Lasten trägt (Psalm 68,20). Aber jetzt sagt er, geht es nicht mehr weiter, ich erkläre die Zerrüttung. Irgendwann später sagt er, es müsste eigentlich einen Schiedsrichter geben, der seine Hände auf uns beide legt. Das Verhältnis ist zerrüttet. Natürlich hat Ernst Bloch besondere Freude an dieser harten Trennung von Gott und Zerrüttung des Verhältnisses, auch an der Demontage der Fürsorge Gottes. Manches sieht er klarer als viele andere Ausleger, aber er sieht eines nicht: Hier ist Trennungsschmerz, hier ist Liebe im Spiel. So endet eine Liebesbeziehung, hier war und ist immer noch Gemeinschaftstreue. Und wenn Menschen heute dasselbe spüren und denken wie Hiob, aber nicht vor Gott, dann müssten wir neben sie treten und sagen: Da ist eine Adresse, der hört dich, der achtet dich, der sucht dich.

Was ich in England gelernt habe als Analyse unserer Zeit "Nihilism with a smile" - selbst wenn da ein smile, ein Lächeln ist, eine Leichtigkeit der Verabschiedung von Gott, so sagen wir doch Gott noch nicht einmal ordentlich Goodbye. Und deshalb ist Hiobs Trennungsschmerz viel ehrlicher und offener: Er sagt Gott "Adieu", auf eine bessere Erfahrung mit Gott hin. Damit sind wir nach Selbstverkleinerung und Gottesverscheuchung schließlich bei Grenzverletzung und Grenzüberschreitung (vgl. besonders Vers 21).

Ich werde mich in die Erde legen, und wenn du mich suchst, werde ich nicht mehr da sein. Da hast du was davon. Das ist theologisch die absolute Katastrophe, nicht nur ein gottloser Mensch; den kennen wir, sondern ein menschenloser Gott. Das hast du dann davon, sagt Hiob, zu spät fängst du an, mich so zu suchen, wie es verheißen ist. Darauf bezieht sich ja der 176. Vers nach 175 Versen eines so genannten Gesetzestreuen im Psalm 119: "Ich bin wie ein verlorenes und verirrtes Schaf, Herr suche deinen Knecht, denn ich vergesse deine Gebote nicht." Wessen Weisheit nach 175 Versen da landet, dem kann ich was glauben. Und so ist das bei Hiob auch. Du würdest mich suchen. Du würdest dich nach mir sehnen, und dann auf einmal bin ich abgetreten und nicht mehr da. Das wäre Pech für dich, schlecht. Das kann nicht wahr sein. Denn dann stimmen beide Definitionen nicht mehr: Die nicht mehr vom Menschen, der aus Gottes Hand kommt, und die nicht mehr von Gott, der den Menschen ihm zum Bilde geschaffen hat.

Bei diesem letzten Gebetsvers können wir uns als Christen anschließen. Du kannst doch nicht das Suchen aufgeben! Du kannst deine Sehnsucht nach den Menschen nicht unterdrücken, solange du ein Herz hast. Sören Kierkegaard hat betont: "Weil Jesus auferstanden ist, muss alles gut werden." Das ist keine schnelle und billige Lösung für die ganze Hiob-Geschichte, durch die manche Menschen in unserer Welt hindurch müssen und wir vielleicht auch noch einmal. Aber es zeigt doch, dass alles auf Auferstehung hin drängt, entweder in diesem Leben durch Rehabilitation, durch Revitalisierung des ganzen Lebens, wie Hiob es erlebt. Die Zahl der Tiere alle multipliziert und dann noch einmal sieben Söhne und drei Töchter, alles doppelt so viel wie früher (Hiob 42,10), wobei nach Auslegung der lutherischen Orthodoxie 2) die früheren Söhne und Töchter ja alle für Gott leben - und es also auch hier mit der Verdoppelung des Segens stimmt. Also entweder die vorweggenommene Auferstehung in dieser Welt - oder das neue Leben in der kommenden Welt, darauf drängt alles in Hiob.

Unsere kleine Enkeltochter hat mit drei Jahren einen seltsamen Drang, sich über den Tod zu erkundigen. Sie gibt keine Ruhe, und sie ist mal nachts wach geworden und hat unvermittelt gesagt, ja der Uropa ist auch schon tot. Nun hat sie gelernt, die sind bei Gott. Aber ihre eigene Sprache geht so: "Die sind bei Gott und dürfen alle wieder aufstehen." Das ist für Kinder ja was Schönes, aufstehen zu dürfen. Wir Erwachsene denken manchmal, was mag schon aus einem Tag werden, der mit dem Aufstehen beginnt. Für Kinder ist das anders. Insofern ist der Hiob voller Aufstehen und Auferstehung. Auferstehung in dieser Zeit und das, was hier nicht mehr gut werden kann, das wird in der neuen Welt gut werden. Weil Jesus auferstanden ist, muss alles gut werden.

Ich schließe damit, dass ich ein kleines Stück aus dem späteren Hiob vorlese, wo er meines Erachtens die Grenze noch etwas mehr überschreitet und wo ich kein Bedürfnis habe, als Christ weiterzukommen als Hiob: "Ach dass du mich im Totenreich verwahren und verbergen wolltest, bis dein Zorn sich legt und mir ein Ziel setzen und dann an mich denken wolltest. Meinst du, ein toter Mensch wird wieder leben? Alle Tage meines Dienstes wollte ich harren, bis meine Ablösung kommt. Du würdest rufen und ich dir antworten. Es würde dich verlangen nach dem Werk deiner Hände (im Hebräischen gibt es eigentlich keinen Konjunktiv. Man kann übersetzen: Es wird dich verlangen nach dem Werk deiner Hände). Du würdest meine Schritte zählen, aber hättest doch nicht Acht auf meine Sünden. Du würdest meine Übertretung in ein Bündlein versiegen und meine Schuld übertünchen." Das ist wahr. Amen.

(Psalmlied: "Der Herr ist mein getreuer Hirt", danach Segensbitte:)

Und der Herr unser Gott sei uns freundlich und fördere das Werk unserer Hände bei uns. Ja, das Werk unserer Hände wollest Du fördern. Amen.

(Tonband-Nachschrift, vom Autor korrigiert und mit zwei ergänzenden Anmerkungen versehen, die im mündlichen Vortrag aus Zeitgründen nicht mehrvorgetragen werden konnten.)

1)
"Ein Streben zum Himmel? Eher ein Niedergehen ... Sie hatten keine Lust, zu existieren, sie konnten es aber nicht hindern, das war es. So spielten sie eben, langsam und lautlos, mit ... Aber jeden Augenblick schienen sie bereit, alles stehen und liegen zu lassen und in nichts zu zerfließen. Müde, alt und schlechtgelaunt fuhren sie fort zu existieren, weil sie einfach zu schwach waren, um zu sterben, und weil der Tod ihnen nur von außen kommen konnte ... Jedes Existierende wird ohne Grund geboren, lebt aus Schwäche weiter und stirbt durch äußere Einwirkung" ... (Das Dasein) ist in eine "scheußliche Marmelade" verwandelt (Jean Paul Sartre, Der Ekel, Rowohlt Ausgabe S. 142)

2)
Heinricus Tectandrus, Symbolum Hiobi, Halle 1610; Titelblatt: "Das ist: Das Lehr und Trostreiche Glaubens Bekentniß / des wolgeplagten und hochgedüldigen Hiobs / auß dem schönen Heldenspruche: Ich weiß das mein Erlöser lebet / etc. Darinnen er nicht allein / als in einem lebendigen Osterspiegel die Person / beneben den herrlichen Amptswolthaten unsers aufferstandenen und triumphirenden Siegfürsten Jesu Christi gar artig beschreibet / sondern uns auch mit seinem Exempel lehret, wie wir uns hier mit in letzten Todeszügen kräfftiglich erquicken und auffrichten sollen."
Dieser Titel wurde von Professor Lothar Steiger in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel entdeckt. Vgl.: Predigtmeditationen zu Continuatexten, hrsg. von Klaus-Peter Jörns, Göttingen 1985, Seite 154 Anm. 4.