Predigt im Ökumenischen Gottesdienst am Sonntag Jubilate im ehemaligen Konzentrationslager Sachsenhausen (5. Mose 6,20-25)

Wolfgang Huber

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Amen.

„Wenn dein Kind dich morgen fragt“: das ist ein gewichtiges Leitwort für unser Erinnern. Sechzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, anderthalb Generationen nach der Befreiung der Konzentrationslager und unseres Kontinents von der Gewaltherrschaft des Hitler-Regimes fragen wir nach unserer Verantwortung.

„Wenn dein Kind dich morgen fragt“: die Passage aus dem Alten Testament, die wir gerade gehört haben, bildet auch das Motto für den Deutschen Evangelischen Kirchentag, der in wenigen Wochen in Hannover stattfinden wird. Das 5. Buch Mose, aus dem sie stammt, enthält keine Kinderlehre. Es handelt sich vielmehr um Ratschläge für Erwachsene dafür, wie sie mit den Fragen der Kinder umgehen sollten. Nicht um Kinderlehre, sondern um Elternschulung handelt es sich. Die Weitergabe prägender Erfahrungen an die nächste Generation ist das Thema. Welche Erfahrungen sind prägend – welche geben wir weiter? So fragen wir am 60. Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager Sachsenhausen und Ravensbrück. In Ehrfurcht vor den Toten und in Hochachtung vor den Überlebenden stellen wir diese Frage.

Martin Niemöller  – im 1. Weltkrieg U-Boot-Kommandant, später Pfarrer in Berlin  - gehörte zu den in Sachsenhausen Inhaftierten. Am Karfreitag 1938 empfing er im Konzentrationslager das Abendmahl von Kurt Scharf, dem damaligen Ortsgeistlichen von Sachsenhausen. Der Lagerkommandant Karl Koch lehnte eine seelsorgerliche Betreuung der KZ-Insassen strikt ab. Doch Kurt Scharf, der spätere Bischof unserer Kirche und damalige Pfarrer von Sachsenhausen, sah in dem Konzentrationslager einen Teil seines Seelsorgebereichs. Immer wieder versuchte er eine Sprecherlaubnis bei den Gefangenen zu erhalten, die aufgrund ihres christlichen Glaubens inhaftiert waren. Die schlichte Einsicht, dass auch den Opfern menschenverachtender Gewalt Seelsorge gebührt, gehört zu dem, was weiterzuerzählen ist – über den Wechsel der Generationen hinweg.

Am 2. März 1938 war Martin Niemöller zu einer Geldstrafe und zu Festungshaft verurteilt worden, die durch die Untersuchungshaft als verbüßt galt. Verärgert über das milde Urteil ließ Hitler Niemöller unverzüglich als seinen persönlichen Gefangenen in das Konzentrationslager Sachsenhausen bringen. Er wollte die Freiheit des Gewissens brechen. Es gelang ihm nicht. Auch das gehört zu den unvergesslichen Lehren jener Zeit.

Am Karfreitag 1938 beteten Kurt Scharf und Martin Niemöller gemeinsam den 69. Psalm. In diesem Psalm wird das Los dessen geschildert, der um Gottes willen leidet, gefangen gehalten und auf den Straßen und in den Gaststuben verspottet wird. Feinde bedrängen ihn ohne Grund. Aber er vertraut auf Gott; denn „er hört dier Armen und verachtet seine Gefangenen nicht“. Diese Lesung traf ganz unmittelbar die Situation der Häftlinge. Die Gestapo sah in der Auswahl des Psalms eine bewusste Provokation und verbot Scharf weitere Besuche.

Eine entsetzliche Erfahrung stellte für die Gemeinde die Ankunft von 18.000 sowjetischen Kriegsgefangenen am Bahnhof Sachsenhausen ab Ende August 1941 dar. Viele waren bereits auf dem Transport gestorben. Ihre Leichen wurden auf dem Bahnhof gestapelt. Zur Ermordung der sowjetischen Kriegsgefangenen errichtete die SS im Industriehof eine Genickschussanlage, mit der sie mehr als 10.000 Gefangene tötete und anschließend in Krematoriumsöfen verbrannte. Kurt Scharf erinnerte sich, dass man bei drückendem Wetter den süßlichen Geruch von verbranntem Menschenfleisch roch, der wie „eine physische Wolke bei feuchtem Wetter“, sonst aber wie eine „psychische Wolke drückend über der Gemeinde“ lag. Jeder noch vorhandene Zweifel an der menschenverachtenden Brutalität des Nationalsozialismus wurde in der Gemeinde, so berichtete Kurt Scharf, durch diese Ereignisse beseitigt.

Wer heute die Gedenkstätte Sachsenhausen betritt, vermag noch etwas von den menschlichen Abgründen des Bösen zu ahnen. Jeder Schritt offenbart die Perversion und das menschenverachtende Planen und Handeln des Nationalsozialismus. Das Krankenrevier – Ort so genannter medizinischer Versuche an Häftlingen. Der Zellenbau – Folterstätte der SS. Der Galgen mitten im Lager – Demonstration der den Henkern zuerkannten Macht. Unter das Joch dieses Vernichtungswillens geriet das Schicksal der Tausende von Menschen, die dem Regime auf die eine oder andere Weise missliebig geworden waren. Hier sollte denjenigen die Freiheit des Handelns genommen werden, die um der Menschenwürde aufbegehrten. Noch im Fallen verlangte Hitler selbst ihren Tod. Hans von Dohnanyi ist ein Beispiel dafür, hier getötet am 9. April 1945, wenige Tage vor der Befreiung des Lagers.

Unsere Kinder fragen uns nach den Maßstäben unseres Lebens. Die Erinnerung an diejenigen, die hier ihr Leben ließen, hilft uns dabei, diese Maßstäbe zu finden und unserer eigenen Schwäche zum Trotz an ihnen festzuhalten. Im Licht dessen, was hier geschah, können wir wissen, warum es wichtig ist, Gott allein die Ehre zu geben und den Nächsten zu lieben. Hier in Sachsenhausen können wir spüren, wohin es führt, wenn der Allmachtswahn des Menschen an die Stelle von Gottes Allmacht rückt und wenn die Verachtung des andern die Liebe zum Nächsten verdrängt. Hier können wir immer wieder die Antwort auf die Frage buchstabieren, warum wir uns im Gebet an Gott wenden, warum wir Fremde aufnehmen, warum wir uns den schwächsten Gliedern unserer Gesellschaft zuwenden und warum wir uns der Erinnerung an vergangenes Unrecht stellen.

Das Volk Israel wurde aufgefordert, sich in die Tradition der Mütter und Väter stellen: wir waren in Ägypten, wir wurden unterdrückt, wir wurden befreit. Die kommenden Generationen sollen sich so verstehen, als hätten sie all das selbst erlebt.

Heute begehen wir den Tag der Befreiung von Ravensbrück und Sachsenhausen gemeinsam mit vielen europäischen Freunden. Wir sind mit ihnen in der festen Überzeugung verbunden, dass die Unrechtsgeschichte, die in den Abgrund führte, sich nicht wiederholen darf. Ich werde morgen nach Moskau reisen, um mich gemeinsam mit dem Patriarchen der Russisch-Orthodoxen Kirche an das Geschehen vor sechzig Jahren zu erinnern. Und gestern standen wir an den Seelower Höhen und erinnerten uns der hunderttausend Todesopfer, die von der letzten großen Schlacht des Zweiten Weltkriegs gefordert wurden. Welch eine Dichte der Erinnerung!

Die Scham über die von Deutschen verübte Gewalt und die Solidarität mit ihren Opfern muss fest im kulturellen Gedächtnis verankert bleiben. Die Stimmen derer, die dieses Erinnern verdrängen und darin gar einen Ausdruck „nationaler Befreiung“ sehen, dürfen in Deutschland kein Echo haben. Deshalb müssen wir gerade in einer Zeit, in der die Zahl der Zeitzeugen schwindet, der Erinnerungsarbeit einen festen Platz in unserer Gesellschaft geben – und auch in der Arbeit unserer Kirchen. Dazu mahnt uns das biblische Gebot: „Wenn dein Kind dich morgen fragen wird.“ Von der Befreiung Israels aus der Knechtschaft in Ägypten sollen die Eltern erzählen, wenn sie so gefragt werden. Von der Befreiung Europas aus der Sklaverei menschenverachtender Gewalt haben wir zu berichten, wenn unsere Kinder uns fragen. An uns ist es dann zu bekennen, worin wir unsere Überzeugungen und Werthaltungen verankert wissen: darin, dass wir Gott allein die Ehre geben und unseren Nächsten lieben.

Das ehemalige Konzentrationslager Sachsenhausen erinnert an die menschenverachtende Behandlung der KZ-Häftlinge und deren tausendfache Ermordung. Zugleich erinnert dieser Ort an das Sowjetische Speziallager, das nach der Befreiung der KZ-Häftlinge hier errichtet wurde. Die Asche der im Krematorium verbrannten Häftlinge und die Massengräber aus der Zeit danach enthalten die Verpflichtung, allen Opfern gerecht zu werden und sich der Geschichte unverkürzt zu stellen.

Der heutige Sonntag heißt im Kalender der christlichen Kirchen „Jubilate“. Dieser Tag ist geprägt von dem österlichen Jubel, der im Bekenntnis zur Auferweckung Jesu Christi von den Toten den Sieg des Lebens über den Tod feiert. „Jubilate“ heißt für mich am heutigen Sonntag, dass wir in den Jubel der vor sechzig Jahren befreiten Häftlinge einstimmen und die Erinnerung an ihren Lebensmut im Herzen bewahren.

Durch unser Erinnern können wir dazu beitragen, dass die Spuren der Hoffnung nicht verwischt werden. Wenn wir uns erinnern, lernen wir, welcher Weg in die Zukunft führt: der Weg der Barmherzigkeit und des Friedens.

Amen