Predigt im Ökumenischen Gottesdienst am 3. Oktober 2005 in der St. Nikolaikirche zu Potsdam

Wolfgang Huber

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Festgemeinde!

Unter der Kuppel der Nikolaikirche halten wir vor Gott inne, um ihm zu danken und seine Wegweisung zu erbitten. Wir tun es in Anwesenheit zahlreicher Gäste, deren Gegenwart uns ehrt und mit Freude erfüllt. Uns alle schließt das Wort Jesu zusammen: Wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein.

Fünfzehn Jahre, eine halbe Generation dauert die deutsche Einheit schon an; aber für viele unter uns ist die „gefühlte Zeit“ weit kürzer. Denn beides umfasst diese Zeit: Unsere Hoffnungen wurden erfüllt oft über unser ausdrückliches Bitten hinaus; hatten doch manche mit der Einheit in Freiheit gar nicht mehr gerechnet, jedenfalls nicht zu dieser Zeit. Und zugleich: Manche Wünsche blieben offen und mancher Weg war steiniger als gedacht.

 Wir ziehen Bilanz und vergewissern uns der Aufgaben, die vor uns liegen. Sie sind immer wieder beschrieben worden. Die Verschuldung unseres Staates ist eine untragbare Hypothek für unsere Kinder. Dauerhafte Arbeitslosigkeit lässt die Kräfte von Millionen von Menschen brach liegen und treibt sie in die Bitterkeit. Immer weniger Erwerbstätige müssen für die Altersversorgung von immer mehr Rentnern aufkommen. Zukunftsangst verdrängt die Freude an Kindern. Alle Antworten, die wir finden, müssen sich bewähren angesichts eines weltweiten Wettbewerbs darum, wer die Zukunft am besten bestehen wird. Die Last, die politisch Verantwortliche zu schultern haben, ist groß.

Mir steht der Atlas mit der Weltkugel auf den Schultern vor Augen. Man findet ihn auf einer der drei Kuppeln, die das Bild von Potsdam prägen. Auf der Spitze des Rathauses stehend, trägt er bis auf den heutigen Tag schwer an der Verantwortung für die gesamte Welt. Blickt der Atlas vom Rathaus aus auf die beiden anderen Kuppeln Potsdams, so hat er die Wahl zwischen Fortuna und dem Kreuz. Diese beiden Insignien umgeben ihn. Fortuna, die launische Diva, schüttet aus ihrem Füllhorn das Glück dorthin, wo sie will. Manche mögen in ihr heute die Göttin der Globalisierung sehen, das Amulett des sich selbst verzinsenden Kapitals. Sie mögen denken, dass die Last der Weltkugel nur tragen kann, wer sich den Kapitalströmen beugt, die, von einer unsichtbaren Hand gesteuert, den Erdball umkreisen.

Der andere Blick aber gilt dem Kreuz, das die Nikolaikirche bekrönt.  In diesem Zeichen drückt sich das Bekenntnis aus, dass Jesus Christus der Retter und Herr der Welt ist. Seine Vollmacht schließt das Leid und die Leidenden ein; keine und keinen gibt er verloren. An ihm lässt sich Gottes Güte ablesen. Das Zeichen des Kreuzes steht für einen Lebensweg, der nicht in den Palästen der Mächtigen endete. Der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und gebe sein Leben als Lösegeld für viele.  Als er verhaftet werden soll, zieht er kein Zauberschwert. Er liefert sich seinen Feinden aus. Er geht den Weg hinab bis in den Bezirk der Todesschatten. Dort sprengt er die teuflischen Ketten und nimmt dem Tod den Stachel. Von dort kehrt er zurück an die Oberfläche des Lebens. Der Erwählte Gottes hat gesiegt – ein für alle Mal. Tod, wo ist dein Stachel! Seither feiern wir die Auferweckung Jesu Christi. Auch dafür steht das Kreuz.

Jesu Kreuz steht nicht unangefochten in unserer Welt. Auch das Kreuz über der Kuppel der Nikolaikirche stürzte 1945 in das Trümmermeer von Potsdam. 36 Jahre später wurde diese Kirche wieder eingeweiht. Auch das ist eine kleine Auferstehungsgeschichte. Das Kreuz ist wieder aufgerichtet, neben Atlas und Fortuna.

Hören wir noch einmal auf das Evangelium für diesen Gottesdienst: Ihr wisst, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an. Aber so ist es unter euch nicht; sondern wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele.

Wird hier ein christlicher Sonderweg beschrieben? Gewiss geht es zunächst um die Ordnung im Haus Gottes. Wer hier darauf pocht, der erste zu sein, verletzt die Regeln. Denn wer Jesus als den Herrn bekennt, der sich allen zum Diener gemacht hat, der richtet sich auch im eigenen Handeln am Wohl des Nächsten aus, nicht am eigenen Machtanspruch. Das Kreuz Jesu steht als Zeichen dafür, dass Menschen sich nur vor Gott beugen, sonst vor keiner Macht der Welt. Aufrecht stehen sie und lassen sich nicht verbiegen. Aber sie beugen sich für den Nächsten, der ihre Hilfe braucht. Sie stellen sich in den Dienst einer Botschaft, in der sich die Liebe zu Gott mit der Liebe zum Nächsten verbindet. Es ist die Aufgabe der Kirchen, an Christi Statt stellvertretend tätig werden und mit Wort und Sakrament auf den Glanz des Evangeliums zu weisen.

Nicht nur gegenüber tyrannischer Herrschaft, sondern gegenüber aller Machtausübung empfiehlt Jesus einen anderen Weg: den Weg, auf dem Menschen füreinander zu Helfern werden. Ein politisches Programm lässt sich daraus nicht unmittelbar ableiten, weder vor noch nach Wahlen. Politische Wahlen verleihen Herrschaft auf Zeit. Wer sich der Wahl stellt, ist zur Verantwortung bereit und will die dafür nötige Macht erringen und ausüben.

Aber Auswirkungen hat die Weisung Jesu auch für den politischen Bereich. Wenn im Zentrum unserer Welt und unseres Glaubens einer steht, dem es nicht aufs Herrschen ankommt, sondern aufs Dienen, dann bleibt das nicht ohne Folgen für die Ausübung von Herrschaft. Auch in der Politik sind wir auf verlässliche und integre Menschen angewiesen, die sich vor Gott beugen, sonst jedoch aufrecht stehen und sich nicht verbiegen lassen. Wir brauchen Verantwortungsträger, die bereit sind, den Hilfsbedürftigen eine Hand zu reichen, damit Starke und Schwache gemeinsam ans Ziel kommen.

Macht ist kein Selbstzweck. Sie dient dem gemeinsamen Leben. Sie wird ausgeübt, um die Probleme eines Landes zu lösen und Verantwortung über seine Grenzen hinaus wahrzunehmen. Daraus ergibt sich ein eindeutiger Vorrang der gemeinsamen Aufgaben vor den persönlichen Zielen. Die politischen Aufgaben sind wichtiger als die politischen Farbkombinationen. Die Themen, die die Menschen bewegen, wiegen schwerer als die Namen, mit denen sie beschäftigt werden. Die Sorgen der Menschen haben es verdient, ernst genommen zu werden. Mit der Erwartung, dass die nötigen Reformen im Geist sozialer Gerechtigkeit verwirklicht werden, verbindet sich die Hoffnung auf überzeugende Resonanz.

Auf dem schwierigen Weg, der jetzt gemeistert werden muss, wollen die Menschen mitgenommen werden. In dieser Botschaft des 3. Oktober 2005 sehe ich eine Chance. Es ist die Chance dazu, wieder Vertrauen zu wecken und zu gemeinsamen Lösungen zu kommen. Die Menschen erwarten ehrliche Antworten und wollen dabei sein, wenn es darum geht, unser Vaterland zu erneuern.

Das Kreuz Jesu Christi, die launige Fortuna und die Atlaslast der politischen Verantwortung stehen im Stadtgefüge Potsdams in einer spannungsreichen Beziehung zueinander.  An uns liegt es, dieser Beziehung eine eindeutige Ausrichtung zu geben. Die Wegweisung Jesu kann uns allen dabei helfen:

Wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele.

Amen.