Predigt über Römerbrief 14, 17–19 und Markus 12, 28–4 zur Eröffnung der Lutherdekade in Wittenberg

Mark S. Hanson

Gnade sei mit Euch und Frieden, im Namen unseres Herrn Jesus Christus. Amen.

Es ist eine große Freude, heute mit Ihnen Gottesdienst zu feiern. Ich bringe Ihnen Grüße vom LWB und von den Mitgliedskirchen der ELCA in Amerika. Herzlichen Dank für Ihre Gastfreundschaft und für die wichtige Rolle, die Menschen in Wittenberg für die Feierlichkeiten zum 500. Reformationsjubiläum übernehmen. Welche Fragen bringen Sie in diesem Gottesdienst mit? Sind es brennende Fragen wie die von Martin Luther: „Wie begegne ich Gott (coram deo)?“ Sind es Fragen, die wir lutherischen Christen uns immer stellen sollten: Welches Evangelium verkünden wir? Wer ist Jesus, den wir uns vor unserem inneren Auge vorstellen – ist es der, der für die Erlösung der Welt gekreuzigt wurde? Welchen Glauben bekennen wir?

Vielleicht stellen Sie sich ähnliche Fragen wie die Christen in Rom, an die Paulus schrieb: „Wie soll ich Christus treu bleiben angesichts einer brutalen Kaisermacht?“ Geht es in Ihren Fragen darum, wie wir als Christen in einer vielfältigen Glaubenswelt leben, die einerseits den religiösen Extremismus anzieht und andererseits die Säkularisierung? Vielleicht fragen Sie sich, ob es für Gottes Schöpfung, angesichts unseres Lebensstils und des kriegerischen Wahnsinns eine Zukunft geben wird. Oft enthüllen unsere Fragen unsere größten Ängste  und tiefsten Wünsche.

Zu Beginn der Dekade, die der lutherischen Reformation gedenkt, ist der richtige Zeitpunkt um zu fragen: „Wie weit sind wir miteinander gekommen - in der lutherischen Tradition und in der Glaubensgemeinschaft? Sind wir im 16. Jhd. stecken geblieben? Sind diese Feierlichkeiten unsere nostalgische Sehnsucht einer vergangenen Ära? Einige sehen das so. Ich denke das nicht.

Wir haben tatsächlich gemeinsam Neuland betreten. Was vor 500 Jahren als eine Reformbewegung begann, ist gewachsen. Heute sind 68 Millionen lutherische Christen in 140 Mitgliedskirchen in 78 Ländern in den Lutherischen Weltbund einbezogen, als einer Gemeinschaft von  Kirchen.

Wie Sie wissen, gibt es das schnellste Wachstum lutherischer Kirchen in Afrika und Indonesien. Doch an anderen Orten, wo Lutheraner einmal sehr stark vertreten waren, gehen die Mitgliederzahlen zurück und manchmal fehlt dort der Sinn für einen lebendigen Dienst. Die ELCA, der ich als Leitender Bischof diene, verliert jährlich im Durchschnitt 40.000 getaufte Mitglieder. Die Zahl Gemeinden in denen weniger als 50 Menschen sonntags Gottesdienst feiern, wächst schnell.

Was auch immer unser jeweiliger Kontext ist, lassen Sie dies eine Zeit sein, in der wir uns, die wir durch die Reformation geprägt sind, neu verpflichten, die Botschaft weiterzusagen, in Gottes Auftrag und für die Welt. Diese Dekade bietet die Möglichkeit 500 Jahre zurück zu schauen. Dabei sehen wir, dass wir als Lutheraner gemeinsam Neuland betraten. Wir haben Geschichte geschrieben. Aber was können wir über den Weg sagen, den wir gemeinsam als lutherische Christen in fast fünf Jahrhunderten beschritten haben? Vergessen Sie jedwede Idealvorstellung, dass es ein Weg ohne Sünde und Irrwege war. Zuviel ist geschehen, was der Vergebung Gottes, anderer Gläubiger und der Menschheit bedarf. Dass wir gleichzeitig Heilige und Sünder (simul iustus et peccator) sind, ist keine Doktrin. Es ist eine Beschreibung für unser Leben und für unser Vermächtnis.

Dieses Wochenende beginnt hoffentlich ein geistreicher globaler Dialog – auch über die Frage: „Wo stehen wir als Menschheit 500 Jahre nach Luthers Ankunft?“ Gibt es eine Rechtfertigung für 500 Jahre Durchhaltevermögen als Kirche? Hat es Auswirkungen, dass wir uns evangelisch nennen?

Offensichtlich sind wir technologisch weiter vorangeschritten (obwohl Ihnen meine Kinder und Frau erzählen werden, dass ihr Vater nicht auf dem Laufenden ist). Einige leben in materiellem Überfluss. Es gibt große Fortschritte in der Gesundheitsfürsorge, in der Lebensmittelproduktion, in wissenschaftlichen Entdeckungen von der DNA bis hin zu weit entfernten Galaxien. Trotz der Wohlstandsunterschiede verstehen einige diese Entwicklungen als Zeichen von „Fortschritt“.

„Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken“, schrieb Paulus an die Christen in Rom. Wo sind wir angekommen? So beunruhigend wie die Unterschiede im Wohlstand, im materiellen Überfluss sind, so beunruhigend ist die damit zusammen-hängende Wirklichkeit unserer eigenen Spiritualität. Es ist Realität, dass jeder angenommene Fortschritt in Technologie, im wissenschaftlichen Verständnis, bei Reisen und im Unterhaltungsbereich mit einer wachsenden Ausbeutung der Erde und ihrer Bewohner zusammenhängt und mit einem wachsenden Sturm an Gewalt und Zerstörung. Die letzten 100 Jahre der menschlichen Geschichte haben uns aufgezeigt, wie tiefer und blinder Hass zu mörderischer Gewalt wird - bis zum heutigen Tag. Zu oft war die Nation, deren Bürger ich bin, ein Komplize der Gewalt, sei es durch Stillschweigen oder durch aggressive Gewaltakte. Das vor Augen kann man nur nüchtern fragen: „Wo sind wir angekommen?“ Es zerreißt einem das Herz und man erschrickt, wenn man erkennt, wo wir angekommen sind.

Dennoch die Frage: Wissen Sie, wo Sie stehen? Was Sie unter der Tünche technologischer Wunder und kultureller Errungenschaften sehen, erscheint gottvergessen, wie ein riesiges wüstes Land leerer Beschäftigung, oder schlimmer,  als ein bleibendes Übel. Wenn es das ist, was Sie sehen, dann haben sie eine genaue Beobachtungsgabe. Aber was ist mit  Ihren Ohren, den Organen des Glaubens?

„Du bist nicht fern vom Reich Gottes.“ (Markus 12, 34)

Haben Sie das Wort gehört, das Jesus sprach? Haben Sie gehört, wann und wo es gesprochen wurde: vor zweitausend Jahren zum Mitglied einer besiegten, besetzten Nation, weit entfernt vom Zentrum der Macht, zu einem kleinen örtlichen Beamten, dessen Name nicht einmal in den historischen Aufzeichnungen enthalten ist? Haben Sie es jetzt gehört, über Jahrhunderte hinweg gesprochen in Ihr Ohr, hier, heute?

„Du bist nicht fern vom Reich Gottes.“

Wer kann so etwas sagen? Jeder hätte die Worte in den Mund nehmen können. Aber es war Jesus, der so sprach. Der Eine, der seinen öffentlichen Dienst begann, indem er ankündigte: „Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist herbeigekommen. Tut Buße und glaubt an das Evangelium!“ (Markus 1, 14-15). Das Reich Gottes geschah direkt vor ihren Augen, als Jesus die Ausgestoßenen umarmte und sich mit den Sündern anfreundete. Es geschah direkt in ihrer Mitte, als erwartungsvoll die Kranken zu Jesus kamen, oder Freunde sie brachten, und sogar ein Dach aufmachten: Leben wurden erneuert, neu geöffnet, befreit. Oh meine Freunde, die Herrschaft Gottes wurde plötzlich über dem gesamten Ort offenbar – in Worten der Vergebung, in den Versprechen, die mit Brot und Wein gegeben werden, in einem neuen Bund der Gnade gerade mit denen, die wertlos schienen.

„Du bist nicht fern vom Reich Gottes.“

Sprach Jesus einfach mutmachende Worte an den Schreiber und an uns, dass wir durch stetiges Mühen,  durchs Halten des Gesetzes bald das Reich Gottes erringen werden? Oder hat uns Jesus ein Versprechen gegeben, dass das Reich Gottes zu uns durch Jesu Tod und Auferstehung kommen wird, dass wir es als ein Geschenk von Gottes Gnade durch Glauben erhalten werden?

Die Herrschaft Gottes am Kreuz – dem gottverlassensten Ort, der durch mensch-lichen Hass und Ignoranz geschaffen wurde, durch Angst und Zynismus. Dort, am Kreuz wurde Jesu Treue zu Gottes Versprechen - sichtbar erhöht - für uns alle öffentlich. Jesus kam, um die stetige und standhafte Liebe Gottes zum gott-verlassensten Ort zu bringen. Jesus kam, um gehorsam bis zum Tod zu sein, sogar dem Tod am Kreuz. Seht das Lamm Gottes. Das Reich Gottes ist sehr nah.

„Du bist nicht fern vom Reich Gottes.“

Solche Worte sind wahr, denn das Reich Gottes wird durch Diener des Wortes ausgerufen. Die Stadt Wittenberg und alle, die den Namen „Lutherisch“ tragen, können zu Recht Gott danken, dass dieser Mann Martin, der die „Gerechtigkeit und Friede und Freude in dem heiligen Geist.“ (Römer 14, 17) erfahren hat, an so viele Orte kam – auf die Kanzeln Deutschlands und auf die Seiten der Geschichte – mit der tröstenden Botschaft des Lebens in Jesus Christus auf seinen Lippen.

Durch Gottes Gnade, durch das Wort, mit dem Sie der Heilige Geist weiterhin zum Glauben ruft und Sie zu Gottes Liebe befreit, „zu lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften“.  In Christus sind Sie befreit, Ihren Nachbarn wie sich selbst zu lieben. Wie Luther uns lehrte, hat Christi Liebe zwei Dimensionen: „Christi Liebe, die uns vielversprechend trägt und die Liebe, die wir unserem Nachbarn schulden.“ Er sagte auch: „In der Tat, durch Glauben werden wir zu Göttern, und Teilhaber der göttlichen Natur … aber durch Liebe werden wir den Ärmsten gleich … zu Dienern von allen. Durch Glauben erhalten wir Segen von oben, von Gott; durch Liebe geben wir sie weiter nach unten zu unserem Nachbarn.“

Deshalb ist es heute eine der wichtigsten Fragen: „Wie meine Haltung meinem Nachbarn gegenüber ist –  meinem muslimischen Nachbarn, meinem jüdischen Nachbarn, gegenüber Nachbarn, die sich für ihre Armut schämen oder die wegen ihres Wohlstandes verachtet werden?“ Genau so, wie das Wort einmal einen namenlosen Schreiber anzog und einen Diener mit Namen Martin rief, so ruft es uns zu, „was zum Frieden dient und zur Erbauung untereinander.“ (Römer 14, 19).

Eine passende Gedächtnisfeier der lutherischen Reformation ist die tägliche Erneuerung unseres Taufbefehls, die frohe Botschaft von Gott in Christus durch Wort und Tat zu verkündigen, allen Menschen zu dienen, dem Beispiel Jesu zu folgen, und für Gerechtigkeit und Frieden auf der ganzen Erde zu kämpfen. Indem Sie das tun, werden Sie zu einem bedeutenden Zeugen von Gottes versprochener Zukunft. Sie werden kundgeben: „Du bist nicht fern vom Reich Gottes.“
Amen.

Bischof Mark S. Hanson ist Präsident des Lutherischen Weltbundes (LWB)  und Leitender Bischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Amerika (ELCA)