Predigt im Festgottesdienst zum fünfhundertjährigen Jubiläum der Mauritiuskirche Betzingen (Lukas 22, 32)

Wolfgang Huber

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Der Anlass für ein Fest sind die großen Einschnitte des menschlichen Lebens – so sagt es ein Lexikon. Als Beispiele werden aufgeführt: Die Geburt eines Menschen, Pubertät, Hochzeit und Tod. Der heutige Anlass ist darin nicht enthalten, und doch ist es ein großer Einschnitt im Leben der Gemeinde, weil ein bedeutender Abschnitt in ihrer Geschichte markiert wird: 500 Jahre Mauritiuskirche Betzingen. Das ist wirklich ein Grund zum Innehalten und zum dankbaren Bedenken.

Ich gebe zu: Für mich persönlich gibt es einen weiteren Grund zum Feiern. Für mich ist es ein großes Fest, aus diesem besonderen Anlass zum ersten Mal nach 37 Jahren wieder auf dieser Kanzel zu stehen. Ich habe mit Absicht wieder denselben Talar angezogen, den ich schon damals, zwischen 1966 und 1968, als Vikar und Pfarrverweser trug. Ich freue mich darüber, Menschen wiederzusehen, die ich damals konfirmiert, getraut, getauft habe. Und ich soll Sie herzlich von meiner Frau grüßen, die leider nicht mitkommen konnte; sie ist gerade sechzig Jahre alt geworden, woraus Sie schließen können, wie jung sie damals war. Und von unserem Sohn Ansgar, der in dieser Kirche getauft worden ist, grüße ich Sie ebenfalls. Es ist für mich eine große Freude, gemeinsam mit einem anderen Betzinger Vikar, mit Ihrem Landesbischof Otfried July, heute abend hier zu sein.

Ein ganzes Festjahr gestalten Sie. Und das aus gutem Grund. Ihre heutige Grundgestalt hat die Mauritiuskirrche vor einem halben Jahrtausend gefunden, gerade noch kurz vor der Reformation. Erweitert und umgestaltet wurde sie vor hundert Jahren; Querschiff und Emporen gehen auf den Anfang des 20. Jahrhunderts zurück. Aber der Turm zeigt die weit längere Geschichte des christlichen Glaubens an diesem Ort. Wenn es nach dem Turm ginge, könnten wir auch tausend Jahre Mauritiuskirche in Betzingen feiern. In jedem Fall: dankbar feiern. Unübertroffen hat es der alttestamentliche Prediger formuliert: Klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit. Arbeiten hat seine Zeit, feiern hat seine Zeit – so ließe sich die Weisheit des Predigers auf den heutigen Tag hin ausziehen.

Auf dem Höhepunkt dieses Festjahres hören wir auf ein biblisches Wort, das uns durch dieses ganze Jahr geleitet. Wir hören auf das Wort der Jahreslosung für das Jahr 2005, auf ein Wort Jesu: Ich habe für dich gebeten, dass dein Glaube nicht aufhöre. (Lukas 22,32)

Die Jahreslosung ist eine Zusage Jesu. Er wendet sich an Petrus. Mit ihm und mit den anderen Jüngern sitzt Jesus zusammen. Nach der Erzählfolge des Lukasevangeliums haben sie gerade miteinander das Abendmahl gefeiert. Gleich werden sie gemeinsam hinausgehen nach Gethsemane. Jesus wird verhaftet werden. Das Gespräch zwischen Jesus und Petrus markiert den Einschnitt zwischen dem Reden, Heilen und Begleiten Jesu und seinem Leiden, Sterben und Auferstehen. An diesem Einschnitt feiern sie ein Fest. Sie sitzen beisammen. Sie teilen das Brot. Sie teilen den Kelch. Sie reden und teilen einander mit.

Nach dem Ende der Mahlzeit spricht Jesus persönlich mit einzelnen seiner Jünger. Eines dieser Gespräche gilt Petrus, der sich kurz zuvor mit besonderem Nachdruck zu ihm bekannt hatte, als er sagte: Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes.

Ihn, der seinen Mut und seine Selbständigkeit besonders deutlich zeigen wollte, erinnert Jesus in diesem Moment an seine Grenzen. Jesus hat klar vor Augen, dass durch sein bevorstehendes Leiden und Sterben für die Jüngerinnen und Jünger eine Situation entsteht, in der nicht mehr gefragt wird, wer von ihnen der Stärkste oder der Erste ist. Auf diesen Rangstreit antwortet Jesus mit der ohnehin klaren Weisung: Der Größte unter euch soll sein wie ein Diener. Sondern angesichts von Leiden und Tod wird es um die Frage gehen, wer überhaupt in der Nachfolge Jesu bestehen, wer Nachfolgerin oder Nachfolger Jesu bleiben wird.

Petrus scheint die Warnung zu überhören. Auch angesichts der äußersten Gefahr kündigt er an, er sei schon bereit, sie aus eigener Kraft zu bestehen. Die Reaktion von Petrus ist gar nicht so untypisch für den Moment der Feier: Im Rausch des Miteinanders, in der Fülle der Eindrücke, der Erinnerungen, der Erwartungen fühlt er sich beflügelt und zu Höherem in der Lage. Als Held des Leidens will er sich präsentieren, der sich für Jesus ganz und gar hingibt, der mit ihm auch ins Gefängnis oder in den Tod geht. Eingedenk des Vergangenen sieht er sich in der Lage, das Zukünftige heldenhaft zu meistern.

Doch Jesus wehrt den Versuch des Petrus, sich in die vorderste Reihe der Leidenden zu stellen, glatt zurück. Denn ihm geht es nicht um die eigene Bereitschaft zu leiden oder heldenhaft zu sterben. Glaubensstärke zeigt sich nicht im vorschnellen Hinnehmen des Leidens oder gar in der eigenmächtigen Preisgabe des eigenen Lebens. Das Wagnis des Glaubens unterscheidet sich von Leichtsinn ebenso wie von Selbstüberschätzung. Nachfolgen heißt nicht Stärke zeigen, sondern stärken und gestärkt werden. Die Antwort Jesu ist ein Gebet: Ich habe für dich gebeten, dass dein Glaube nicht aufhöre. Und wenn du dereinst dich bekehrst, so stärke deine [Schwestern und] Brüder.

Mit seinem Gebet nimmt Jesus Petrus in Schutz. Er relativiert auf heilsame Weise dessen übersteigerte Leidensbereitschaft. Er richtet den Blick dorthin, woher Petrus Stärke empfangen kann: aus der Barmherzigkeit Gottes. Dem, der sich so stolz auf seinen Glauben beruft, macht er klar, dass die wirklichen Proben für seinen Glauben noch vor ihm liegen. Wenn du dich dereinst bekehrst, so stärke deine Schwestern und Brüder. Damit lenkt Jesus die Energie seines Jüngers dorthin, wo Hilfe gebraucht wird: bei den Menschen, die Stärkung und Unterstützung brauchen. Bei all dem soll er sich nicht zu stark auf sich selbst verlassen. Seine Zuversicht hat einen anderen Grund: Christus selbst kommt seinem Glauben zu Hilfe.

Das ist eine Grundorientierung für jede und jeden von uns. Immer wieder erleben wir Einschnitte. Wir fangen etwas Neues an – im Beruf oder im persönlichen Leben. Eine neue Aufgabe kommt auf uns zu. Wir spüren, dass unsere innere Kraft dafür nicht reicht. Es widerfährt uns etwas, was uns aus der Bahn trägt. Die Kraft des Gebets versiegt. Wir dürfen wissen, wo dann unsere Zuflucht liegt. Es gibt den einen, der auch dann noch für unseren Glauben einsteht, wenn wir selbst mit unserem Glauben nicht mehr weiter wissen. Wir können uns dann auf die Autorität des bittenden Christus verlassen, der unserem Glauben immer wieder einen neuen Anfang gibt. Ich habe für dich gebeten, dass dein Glaube nicht aufhört.

Auch für unsere Kirche und für jede Gemeinde ist das eine wichtige Orientierung. Auch im kirchlichen Leben zeigen sich derzeit gravierende Einschnitte. Die Rahmenbedingungen kirchlicher Arbeit verändern sich in einem dramatischen Tempo. Der Altersaufbau unserer Gesellschaft wandelt sich; das hat auch Auswirkungen auf die Kirche. Die finanziellen Mittel, die der Kirche zur Verfügung stehen, werden knapper. An vielen Orten und in vielen Formen wird die kirchliche Arbeit umgebaut. Das geschieht immer wieder – so wie auch dieses Kirchengebäude immer wieder umgestaltet worden ist.

An vielen Orten erleben wir gegenwärtig eine zuversichtliche Konzentration der Kräfte. Das geschieht, damit wir nahe bei den Menschen bleiben können, bei den glaubenden wie bei den suchenden. Es geschieht, damit die Kirche von innen heraus lebt und sich so auch in Stadt und Land aktiv einbringt.

Wir wissen: Das Evangelium will die Menschen erreichen, so wie vor tausend, vor fünfhundert und vor hundert Jahren, immer wieder in neuen Formen, aber doch immer wieder mit der gleichen Wahrheit: Jesus steht dafür ein, dass unser Glaube nicht aufhört.

Das Wort des Herrn wuchs und breitete sich aus. Unter diesem Leitwort steht der Bericht des Evangelisten Lukas über die Entstehung der ersten christlichen Gemeinden in der Apostelgeschichte. In meiner ersten Predigt hier von dieser Kanzel – am 25. September 1966 – habe ich mich an dieses Wort gehalten und gefragt, ob es für unsere Zeit noch zuträfe. Ich habe damals dagegen gefragt, ob denn am Ende die Beschreibung für unsere Zeit ganz anders lauten müsse, nämlich: Das Wort des Herrn schwand und verlor immer mehr an Raum.

Heute sage ich: Auch in unserer Generation schafft das Wort Christi sich Raum. Über Dürrestrecken hinweg bleibt es der untergründige Strom des Lebens, der immer wieder ans Licht tritt und in dem Menschen immer wieder den Quell des Lebens finden. Über diese beinahe vierzig Jahre hinweg ist mein Vertrauen in die Kraft dieses Wortes nicht geringer geworden, es ist gewachsen. Ich bin gewiss, dass Gottvertrauen der beste Weg dafür ist, dass wir auch in dieser Welt unseren Ort finden.

Um den Menschen dabei zu helfen, wollen wir auch heute und morgen eine lebendige Kirche sein. „Mittendrin“ steht als Jubiläumsmotto über dem 500. Geburtstag der Mauritiuskirche – mitten im Alltag der Menschen muss das Zeugnis des Glaubens hörbar sein und greifbar werden.

Gerade in einer Zeit, in welcher Menschen wieder nach dem Glauben fragen und religiöse Interessen bis in die Medien hinein lebendig werden, ist unser Zeugnis als Christen gefordert. Überzeugungsarbeit ist wieder gefragt; Vorbilder werden wieder gesucht, Menschen, die sich im Glauben stärken lassen und ihre Schwestern und Brüder stärken. Fragende – sei es innerhalb oder außerhalb der Kirche – sollten wir genauso ins Herz schließen wie diejenigen, die schon im Glauben zu Hause sind. Dann wächst ihr Mut, wirklich Antworten auf ihr Fragen zu suchen und sich für die Antworten zu öffnen, die das Evangelium auf ihre Fragen gibt.

Für Überheblichkeit ist kein Platz. Ausgerechnet an der Gestalt des Petrus wird uns das klar gemacht. Gerade in einem Papstjahr ist das ein hilfreicher Hinweis. Die Stärke unseres Glaubens zeigt sich nicht an der Größe und Kühnheit der Pläne, die wir für Kirchen und Gemeinden aushecken. Sie sind wichtig und nötig. Aber sie sind nur dann gut, wenn sie unseren Blick auf Gott und auf den Nächsten richten. Gut von Gott zu reden und dem Nächsten Gutes zu tun, diese beiden Aufgaben jeder christlichen Gemeinde bleiben auch dann auf alle Menschen bezogen, wenn die Zahl der Menschen kleiner wird, die diese beiden Grundhandlungen selbst kennen und stellvertretend für andere vollziehen. Das Wort Jesu lenkt den Blick auf den, der stark macht: auf Gott, der neue Hoffnung schenkt. Und der Blick wird auf die gelenkt, die unsere Stärke nötig haben: auf die Menschen, die auf unsere Solidarität hoffen. Ich habe für dich gebeten, dass dein Glaube nicht aufhöre. Dieses Wort Jesu weckt Hoffnung. In ihm scheint ein Realismus der Barmherzigkeit auf, zu dem beides gehört: ein nüchterner Blick auf die Grenzen und Anfechtungen unseres Glaubens wie ein dankbarer Blick auf die Fülle und den Reichtum der Barmherzigkeit Gottes. Beides ist in Jesus Christus vereint, so wie in ihm Gottheit und Menschheit, Kreuz und Auferstehung verbunden sind.

In einer solchen Gewissheit lässt es sich gut feiern. Sie gilt für die Gemeinde hier am Ort wie an allen Orten über den Wechsel der Generationen hinweg. Und sie gilt für jede und jeden von uns in der Mitte wie an den Grenzen unseres Lebens. Sie gilt für jeden Tag von neuem: Ich habe für dich gebeten, dass dein Glaube nicht aufhöre.

Welch ein Glück! Darauf können wir vertrauen. Daraufhin können wir es wagen. Auf diesem Grund lässt es sich feiern!

Amen.