Predigt im Gottesdienst zur Einführung des neuen Präsidenten und des neuen Vizepräsidenten des Kirchenamtes der EKD

Hermann Barth

Predigt über Josua 1, 1-9

Nein, liebe Gemeinde,

nein, diesmal nicht Jesus Sirach. Obwohl - Texte aus dem Buch Jesus Sirach würden zum heutigen Anlaß nicht schlecht passen. Geht es in ihnen doch nahezu durchgängig um den Erwerb von Weisheit, also auch von Amtsklugheit. Etwa im Umgang mit dem Wort:

Laß dich nicht treiben von jedem Wind
und folge nicht jedem Weg ...,
sondern bleibe fest bei dem, was du erkannt hast,
und rede nicht bald so, bald anders.
Sei schnell bereit zum Hören
und laß dir Zeit, freundlich zu antworten.
Verstehst du etwas von der Sache,
so erkläre es deinem Nächsten,
wenn nicht, so halt deinen Mund (5,11-14).

Daß sie diese Mahnung beherzigen - das wünscht man sich doch von einem Präsidenten und einem Vizepräsidenten des Kirchenamtes. Und ist gerade bei der Einführung in ein Leitungsamt nicht auch die Mahnung zur Demut angebracht?

Tu deine Arbeit in Demut;
das ist besser als alles, wonach die Welt trachtet.
Je größer du bist, desto mehr demütige dich;
so wirst du beim Herrn Gnade finden ...
Strebe nicht nach dem, was zu hoch ist für dich,
und frage nicht nach dem, was deine Kraft übersteigt,
sondern was dir Gott befohlen hat,
das halte dir immer vor Augen ...,
und was deines Amtes nicht ist,
da laß deinen Vorwitz (3,19-24).

Dennoch - es soll dabei bleiben: Diesmal kein Jesus Sirach als Predigttext. Die Predigt in diesem Gottesdienst ist ja auch nicht der Ort, an dem vornehmlich der neue Präsident und der neue Vizepräsident angesprochen werden sollen. Für alle, die heute versammelt sind, soll Gottes Wort ausgerichtet und ausgelegt werden. Anknüpfend an die Jahreslosung habe ich als Predigttext einige Verse aus dem 1. Kapitel des Buches Josua ausgewählt:

Nachdem Mose, der Knecht des Herrn, gestorben war, sprach der Herr zu Josua: ... So mach dich nun auf und zieh über den Jordan, du und dies ganze Volk, in das Land, das ich ihnen, den Israeliten, gegeben habe ... Wie ich mit Mose gewesen bin, so will ich auch mit dir sein. Ich will dich nicht verlassen noch von dir weichen ... Sei nur getrost und ganz unverzagt, daß du hältst und tust in allen Dingen nach dem Gesetz, das dir Mose, mein Knecht, geboten hat. Weiche nicht davon, weder zur Rechten noch zur Linken, damit du es recht ausrichten kannst, wohin du auch gehst. Und laß das Buch dieses Gesetzes nicht von deinem Munde kommen, sondern betrachte es Tag und Nacht, daß du hältst und tust in allen Dingen nach dem, was darin geschrieben steht. Dann wird es dir auf deinen Wegen gelingen, und du wirst es recht ausrichten. Siehe, ich habe dir geboten, daß du getrost und unverzagt seist. Laß dir nicht grauen und entsetze dich nicht; denn der Herr, dein Gott, ist mit dir in allem, was du tun wirst.

Wenn es stimmt, was der lateinische Spruch sagt: nomen est omen, also: Der Name hat etwas zu bedeuten, der Name ist wie ein Lebensmotto - wenn das stimmt, dann möchte ich gern "Unverzagt" heißen. Diesen Namen gibt es tatsächlich. Ich bin in meinem Leben bisher zwei Menschen mit dem Namen "Unverzagt" begegnet. Es hat mich interessiert, ob es auch in Hannover den Namen "Unverzagt" gibt. Darum habe ich das Telefonbuch aufgeschlagen. Dort fiel mein Blick zuerst auf den Namen "Unverricht" - das wünschen Sie sich von einem Präsidenten und einem Vizepräsidenten des Kirchenamtes nun allerdings gerade nicht, daß sie unverrichteter Dinge amtieren. Das Telefonbuch hat noch mehr in dieser Richtung zu bieten: "Unbescheiden" - das verbietet der Anstand. "Unbehauen" - das klingt wie unfertig und ungeschlacht. Mit "Unverdorben" und "Unverblümt" wird's schon besser. Ein oder eine "Unverzagt" fehlt - während in den aktuellen deutschen Telefonbüchern über 400 "Unverzagts" eingetragen sind.

Aber ob mit oder ohne diesen Namen - die evangelische Kirche und die ganze Christenheit, ja die Gesellschaft und die Welt insgesamt brauchen unverzagte Menschen - Menschen, die unverzagt reden und auftreten und auch dann noch unverzagt bleiben, wenn keines Menschen Reden und Auftreten mehr hilft. Darum ist dies für mich Kern und Stern des Predigttextes: "Siehe, ich habe dir geboten, daß du getrost und unverzagt seist. Laß dir nicht grauen und entsetze dich nicht; denn der Herr, dein Gott, ist mit dir in allem, was du tun wirst."

I

Dürfen wir dieses mutmachende Wort auf uns beziehen? Sind wir überhaupt gemeint? So zu fragen mag zunächst überraschend erscheinen. Denn wir haben ja gelernt, an die Texte der Bibel mit der Erwartung heranzugehen: Hier geht es um dich, hier wird deine Sache verhandelt. An diesem Zugang zur Bibel soll sich im Prinzip auch nichts ändern. Aber als wer werden wir hier angesprochen? Ich stelle diese Frage nicht von ungefähr. Denn im ursprünglichen Zusammenhang ist es ja Josua, der von Gott angeredet wird, Josua und mit ihm das ganze Volk Israel, die davor stehen, die letzte Schwelle auf dem Weg ins verheißene oder - wie wir sprichwörtlich sagen - ins Gelobte Land zu überschreiten: "So mach dich nun auf und zieh über den Jordan, du und dies ganze Volk, in das Land, das ich ihnen, den Israeliten, gegeben habe."

Freilich - diese Geschichte wurde niemals anders weitergegeben, ja, sie wurde von den allerersten Anfängen an niemals anders erzählt als in der Überzeugung, daß in Josua und seiner Generation die späteren Generationen mitgemeint sind: "Heute, wenn ihr seine Stimme hören werdet, so verstockt eure Herzen nicht" (Hebräer 3,7f). Gottes Wort veraltet nicht, es wird nicht vom Lauf der Zeiten überholt, es wird jeder Gegenwart neu gleichzeitig. Und es ist eben diese Perspektive, in der sich die christliche Gemeinde die heiligen Schriften Israels angeeignet und sie als das Alte Testament dem Neuen an die Seite gestellt hat. Nicht daß sie damit das Volk Israel und die Juden enteignen, ihnen ihre heiligen Schriften wegnehmen wollte. Solange wir im Glauben und nicht im Schauen leben, werden jüdische und christliche Auslegung der heiligen Schriften nebeneinander stehen, sie werden sich in vielem ergänzen und bereichern, und sie werden doch in manchem auseinandergehen.

Darin sind sie sich im übrigen einig: Das Wort Gottes an Josua und seine Generation gilt speziell dem Volk Gottes, nicht generell jedem Menschen, es gilt denen, die dem Ruf Gottes gefolgt und in seinen Dienst getreten sind, die sich auf den Weg ins Gelobte Land gemacht haben, die auf diesem langen Weg immer wieder davon bedroht sind, zu verzagen und den Mut sinken zu lassen, und darum diesen Rippenstoß brauchen - nicht nur einfach: "Sei getrost und unverzagt", sondern: "Siehe, ich habe dir geboten, daß du getrost und unverzagt seist."

II

Der Schluß des Predigtextes klingt wie ein Blankoscheck: "Der Herr, dein Gott, ist mit dir in allem, was du tun wirst." Wirklich in allem? Auch in der Legitimierung und Anwendung von Gewalt? Auch in der verbrauchenden Forschung mit menschlichen Embryonen, wenn die Forschungsziele - etwa die Entwicklung einer Therapie für die Parkinsonsche Krankheit - nur hochrangig genug sind?

Der Predigttext wendet sich, wie gesagt, an diejenigen, die Gottes Ruf folgen und in seinen Dienst treten. Gott dienen aber heißt, nicht den eigenen Willen tun, nicht selbstgemachten Regeln folgen, sondern Gott gehorsam sein und auf seine Gebote und Weisungen achtgeben. Der Predigttext macht das geradezu impertinent deutlich. Fettgedruckt ist in der Lutherbibel nur der Schlußvers: "Siehe, ich habe dir geboten, daß du getrost und unverzagt seist." Aber dem gehen Aussagen voraus, die gern überlesen werden und die doch den Aufruf zur Furchtlosigkeit erst vor möglichen Mißverständnissen schützen: "Sei nur getrost und ganz unverzagt, daß du hältst und tust in allen Dingen nach dem Gesetz, das dir Mose ... geboten hat ... Laß das Buch dieses Gesetzes nicht von deinem Munde kommen, sondern betrachte es Tag und Nacht". Das ist keineswegs abgetane alttestamentliche Gesetzlichkeit, über die die Freiheit eines Christenmenschen erhaben wäre. Hier wird vielmehr Gottes Anspruch an uns laut. Auch im Neuen Testament und in der christlichen Verkündigung begleitet er seinen Zuspruch. Sicher - was Gottes Anspruch an uns konkret ist, was seine Gebote und Weisungen in der konkreten Situation zu bedeuten haben, ist der Auslegung bedürftig. Und da gibt es wie in jeder Auslegung Unterschiede. Aber diese Unterschiede führen mitnichten zur Beliebigkeit. Sie markieren vielmehr einen Korridor, einen abgesteckten Weg, den zu verlassen nicht tunlich ist. "Weiche nicht davon, weder zur Rechten noch zur Linken, damit du es recht ausrichten kannst, wohin du auch gehst."

Die Zusage von Gottes Beistand ist also alles andere als ein Blankoscheck. Gottes Gebot ist ein kritischer Maßstab für alles, was wir uns zu tun vornehmen. Und dieser kritische Maßstab ist auch im und gegen den Predigttext selbst zur Geltung zu bringen. Das ist der Grund, warum ich mir die Freiheit genommen habe, den ausgewählten Bibelabschnitt nur in Auszügen als Predigttext zu verlesen. Im Josuabuch gehören zu der Gottesrede an Josua auch folgende Sätze: "Jede Stätte, auf die eure Fußsohlen treten werden, habe ich euch gegeben ... Von der Wüste bis zum Libanon und von dem großen Strom Euphrat bis an das große Meer gegen Sonnenuntergang ... soll euer Gebiet sein. Es soll dir niemand widerstehen dein Leben lang" (V 3-5a). Wir können nicht die religiöse Legitimierung von Gewalt in bestimmten Strömungen des Islam verurteilen, ohne den selben kritischen Maßstab an die Bibel und die eigene Tradition anzulegen. Dies um so mehr, als die Landnahme "von der Wüste bis zum Libanon und von dem großen Strom Euphrat bis an das große Meer gegen Sonnenuntergang" in nationalistischen Kreisen Israels und in der Christian Right der USA als religiöse Legitimation für den Gebietsanspruch des heutigen Staates Israel in Anspruch genommen wird. Nicht alles, was in der Bibel steht, ist automatisch Gottes Wort. Kirche und Theologie haben die bleibende Verantwortung, gegenüber dem fundamentalistischen Irrweg das rechte Verständnis der Bibel einzuschärfen: Wir verehren die Bibel, weil uns hier im Menschenwort Gotteswort begegnet; aber wir haben die Freiheit, ja, die Aufgabe, von der sachlichen Mitte der Bibel her Kritik an ihren menschlich-allzumenschlichen Zügen zu üben.

III

"Unverzagt und ohne Grauen soll ein Christ, wo er ist, stets sich lassen schauen." Einmal mehr ist es unter den Liederdichtern Paul Gerhardt, der der Sache und dem Ton nach die biblische Botschaft am besten getroffen hat. Von allen Liedversen, die von der Unverzagtheit singen, geht die Hälfte auf Paul Gerhardt zurück. Furchtlosigkeit soll die Christen auszeichnen, stets und überall: ob in der Situation des vom christlichen Gewissen gebotenen Widerstandes oder in der Alltagssituation, ob in der Verantwortung eines Amtes oder im Leben der kleinen Leute, ob in Zeiten der Kraft oder der Schwäche. Furchtlosigkeit ist nicht nur etwas für die Großen und Starken. Was ist die Quelle dafür?

Die Jahreslosung hält uns Gottes Zusage vor Augen: "Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht." Oder in Luthers Übersetzung: "Ich will dich nicht verlassen noch von dir weichen." Jeder und jede darf sich heute gemeint und angesprochen fühlen: "Siehe, ich habe dir geboten, daß du getrost und unverzagt seist." Wir dürfen uns nichts vormachen: Die Realität unserer christlichen Existenz ist, gemessen an dieser Zusage, häufig recht kümmerlich. Es hilft dann nichts, noch eindringlicher und beschwörender zu reden oder gar die Verzagten zu beschimpfen. Die Folge wäre ja nur, daß zur Kümmerlichkeit noch das schlechte Gewissen hinzutritt. Gelegentlich hört man die Klage, daß es in kirchlichen Führungsgremien viele mutlose Menschen gebe. In Wirtschaftsunternehmen - so wird gesagt - wäre so etwas unmöglich: Ein mutloser Vorstand halte sich nicht lange, der fliege raus. Ob so der Mut in kirchlichen Führungsgremien wächst? Wir sollen Gottes Zusage nicht einhämmern wollen. Und außerdem - Gottes Zusage gilt auch, sie gilt gerade den mutlos Gewordenen: "Ich will dich nicht verlassen noch von dir weichen."

Im Predigttext steht das Volk Israel unmittelbar davor, das Gelobte Land zu betreten. Es hat dann auch den Jordan überschritten und ist in dieses Land eingezogen. Aber im Lauf der Jahrhunderte ist für Israel die Einheit von Volk und Land zerbrochen. Daran hat sich weder durch die Gründung noch wegen des gebotenen Schutzes des modernen Staates Israel etwas geändert. Auch wir sind unterwegs zu einem Gelobten Land. "Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir" (Hebräer 13,14). Das Gelobte Land, zu dem es uns hinzieht, ist das Himmelreich. Paulus hat dieses Land so beschrieben: Es sei "Gerechtigkeit und Friede und Freude in dem Heiligen Geist" (Römer 14,17). Insofern läßt sich auch sagen: Im Glauben sind wir schon da. Und keine irdische noch teuflische Macht können uns aus diesem Gelobten Land vertreiben oder es uns wegnehmen. Fast überflüssig, in diesem Bonhoeffer-Gedenkjahr ausdrücklich an Dietrich Bonhoeffers Weg zu erinnern: Wollt uns "auch der Tod aufreiben, soll der Mut dennoch gut und fein stille bleiben." So besteht ein unverzagtes und getrostes Herz selbst die äußerste Herausforderung. Den meisten von uns bleibt diese Probe erspart. Aber gebe Gott, daß wir wissen, was das Herz fest macht, und ein Leben lang an diesem Bekenntnis festhalten:

"Von guten Mächten wunderbar geborgen erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist mit uns am Abend und am Morgen und ganz gewiß an jedem neuen Tag."

Amen.