Predigt im Eröffnungsgottesdienst der EKD-Synode in Würzburg

Johannes Friedrich

Liebe Gemeinde,

mag sein, dass einige von Ihnen die Berichte, die wir vorhin zum Kyrie gehört haben, mit unwilliger Kritik bedenken: Immer dieses Sozialgerede! Was hat das mit Jesus Christus zu tun? Solche Geschichten begleiten mich schon die ganze Woche. Im Gottesdienst am Sonntag möchte ich keinen Appell an meine politische Moral vernehmen.

Andere werden es umgekehrt sehen: Endlich redet die Kirche nicht abstrakt, sondern kommt in der Wirklichkeit unserer Welt an, die von Leid und Not geprägt ist. Der Gottesdienst muss doch zu aktiver Nächstenliebe führen, die der Not abhilft!

Hier stehen sich zwei unterschiedliche Erwartungshaltungen gegenüber. Was ist das Wichtigste im Leben eines Christen: Gottesdienst oder gesellschaftspolitische Sozialarbeit? An diesem Punkt scheiden sich die Geister.

Die Geister haben sich schon an Jesus Christus geschieden.  Wir hörten es vorhin in der Lesung des Evangeliums. Jesus nahm sich der Blinden und der Armen, der Sünder und der Kranken an. Und er ging zum Gottesdienst in die Synagoge. Er hat zwischen Frömmigkeit und sozialem Handeln offenbar nicht unterschieden. Beides gehörte für ihn zusammen.

In den Synagogen zur Zeit Jesu hielt die Predigt jeweils einer der Männer, die sich dazu berufen fühlten.

Lukas erzählt, wie in einem dieser Gottesdienste Jesus aufsteht, das Wort ergreift. Sein Predigttext steht beim Propheten Jesaja. Er legt ihn so aus:

Der Geist des Herrn hat von mir Besitz ergriffen. Der Herr hat mich erwählt, den Armen das Evangelium zu bringen; er hat mich gesandt , den Gefangenen zu verkünden, dass sie frei sein sollen, den Blinden, dass sie sehen werden, den Unterdrückten, dass sie frei und los sein sollen. Was ihr da hört, das geht heute mit mir in Erfüllung.

Die Predigt löst Empörung aus. Man wird geradezu handgreiflich gegen Jesus: Welch unerhörte Anmaßung! Und: Wo ist das denn Wirklichkeit?

Wo ist das denn Wirklichkeit? fragen heute auch viele, die die Botschaft von Christus in der Kirche hören. Was hat denn nun die Christuspredigt den Armen gebracht? Konnte sie in die Gesellschaft hinein wirken? Etwa politisches Handeln prägen?

Oder hatte Jesus es nicht so konkret gemeint?

Was wir aus der Geschichte Jesu wissen ist, dass Jesus Menschen nicht sich selbst überlassen, sondern sich ihrer Not angenommen hat; dass er ohne Rücksicht auf Feiertagsgesetze geheilt, dass er Kontakt mit Ausgegrenzten der Gesellschaft persönlich gesucht und Gesindel – das Wort „Gesindel“ kommt von „Sünde“ – zum Essen eingeladen hat. Das hat einerseits Bewunderung, andererseits eine solche Empörung hervorgerufen, dass maßgebende Kreise ihn weghaben wollten. Nicht ohne diese Vorgeschichte endete sein Weg am Kreuz.

Wahr ist aber auch, dass zweitausend Jahre später  Leid und Elend nicht aus der Wirklichkeit unserer Gesellschaft verschwunden sind. Allerdings hat die Not der Menschen heute oft strukturelle Gründe. Persönliches Leid wie Arbeitslosigkeit und Armut sind nur zu einem geringen Teil Folge persönlicher Schuld, vielmehr oft Resultat weltweiter politischer und ökonomischer Prozesse.

Dabei wird doch so viel gegen die Not in der Welt und auch gegen die Armut und die Arbeitslosigkeit in unserem Land getan. Wir leben in einem Sozialstaat. Das heißt, das Gemeinwesen will den einzelnen nicht seinem Schicksal überlassen, sondern die Solidargemeinschaft will und muss dafür sorgen, dass möglichst niemand durch die Maschen des sozialen Netzes fällt.

Daneben gibt es viel großartiges  privates Engagement. Und dennoch steigt die Zahl derer, die in Armut leben.

Deshalb könnte man die Hoffnung auf die Verbesserung der Welt verlieren. Man könnte den Glauben daran verlieren, dass mit Jesus Christus die Zeit des Heils erfüllt ist.

Sicher der Kampf gegen Hunger und Elend und Unterdrückung und das Evangelium gehören für Jesus und demnach auch für uns Christen zusammen. Aber trotzdem: Der christliche Glaube ist kein Programm zur Verbesserung der Welt, kein Aufruf zu sozialem Aktionismus, sondern zunächst ein Ruf zu Jesus Christus. „In mir ist es erfüllt“, sagt Jesus Christus. Also geht es zunächst darum ihn aufzusuchen.

Das ist durchaus keine Abkehr von den Nöten, die uns umgeben.
Damit ist auch kein moralischer, versteckter Zeigefinger gemeint. Denn hinter dem Leid, hinter dem Hunger, hinter der Unterdrückung von Menschen stehen ja selten sadistische Kräfte, die anderen bewusst schaden wollen. Selbst Massenentlassungen sind sehr oft kein gewissenloser Akt von Bossen, die ihr Schäfchen ins Trockene bringen wollen. Die meisten, die Verantwortung tragen, wollen es im Grunde recht machen. Und das Ergebnis ist dennoch so, dass es Opfer gibt. Die Politiker in unserem Land wollten mit Hartz IV etwas gegen Arbeitslosigkeit und Verarmung tun. Und nun sagen viele, sei die Lage eher dramatischer geworden. Das Thema „Neue Armut“ beherrscht derzeit die Schlagzeilen.

Wie oft blicken wir auch im privaten Leben zurück und sagen: Ich hatte es doch so gut gemeint. Und jetzt ist alles noch schlimmer geworden.

Und genau das hat Jesus gemeint: Es nutzt dabei nicht viel, mit dem Finger auf die zu zeigen, die wir für das Unglück für verantwortlich halten, und Schuldige auszumachen. Das Übel liegt nicht in dieser oder jener Fehlentscheidung, sondern in einer falschen Grundhaltung.

Die Bibel sagt: Wir werden nicht aus unseren Werken vor Gott selig. Ich wage den Satz: Mit dem, was wir im eigenen Interesse tun, werden wir auch hier auf Erden nicht glücklich. Solange wir beim Handeln unsere eigenen Interessen im Auge haben, fallen unserem Interesse andere zum Opfer.

Wo bleiben wir mit unserer Schuld, weil andere Opfer dessen geworden sind, dass wir unsere Interessen verfolgt haben? Wie verarbeiten wir, dass wir das Gute, das wir wollen, nicht tun, sondern das Böse, das wir eigentlich vermeiden wollen?

Christus sagt: In mir ist erfüllt, dass Blinde sehen, die Gefangenen frei sind und den Armen das Evangelium widerfährt.

Der biblische Text lädt uns also ein, den Blick von unseren eigenen Interessen weg auf Christus zu richten. Denn nicht in unserer Person und nicht durch unseren Aktionismus ist die Welt heil, sondern allein aus ihm.

Als Christen wissen wir, dass wir vor Gott mit leeren Händen stehen und sie uns nur immer wieder von ihm füllen lassen können. Wir scheitern mit unserem „ Recht haben wollen“. Es gibt keine Gerechtigkeit, die man sich erarbeiten kann, keine Gerechtigkeit aus den Werken, gerecht werden wir nur aus Gnade durch den Glauben. Und so hängen dann auch Gottesdienst und soziales Handeln zusammen.

Das sagten schon Martin Luther und seine Mitstreiter, an die wir am heutigen Reformationsfest denken. Sie waren überzeugt: Wir sind Gott recht nicht aufgrund unserer Taten, sondern weil er uns gnädig und barmherzig ist. Im Glauben an ihn empfangen wir alles, was uns vor ihm recht macht. Wer mit leeren Händen vor ihm steht, wird von ihm mit Glauben, Hoffnung und Liebe beschenkt. Weil Christus alles für mich tut, muss ich nicht mehr darüber nachdenken, wie ich es mir recht mache, sondern ich habe die Hände frei, um der Not anderer Menschen abzuhelfen.

Suchet der Stadt Bestes, schreibt der Prophet Jeremia. Wenn es ihr wohlgeht, geht es euch auch wohl. Das Wohl der Stadt, des Gemeinwesens resultiert so wenig aus purer Selbstlosigkeit, wie es aus purem Eigeninteresse resultiert. Baut euch Häuser und pflanzt Gärten und genießt deren Ertrag, schreibt Jeremia. Wohlstand und Privateigentum sind kein Widerspruch zu sozialem Handeln. Wohlstand und Wohl der Stadt hängen zusammen.

Und er sagt: Betet für sie zum Herrn. Legt die Stadt und euch selbst Gott ans Herz. Bekennt vor Gott, dass auch ihr die Lösung nicht wisst. Öffnet eure leeren Hände und lasst sie euch füllen von Gottes Gedanken, die er über euch hat: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, wie der Prophet Jeremia schreibt.

Und so feiern wir heute auch hier diesen Gottesdienst. Wir benennen vor Gott die Nöte unserer Welt, die uns erheblichen Kummer bereiten. Wir bringen sie im Gebet vor Gott, weil wir wissen: Wir stehen mit leeren Händen da, ratlos und hilflos vor der Not der Welt. Auch die Kirche hat keine Patentrezepte. Kirchenleitende Gremien sind nicht die besseren Politiker. Es ist nicht unsere Aufgabe, der Politik vorzuschreiben, wie sie sich verhalten soll. Unser Land hat in den letzten vierhundertfünfzig Jahren von der Orientierung an der Zwei-Regimenten-Lehre profitiert und einen konstruktiven Weg jenseits von Klerikalismus und Laizismus gefunden. Es geht nicht um Bevormundung der Politiker, wenn wir uns zur aktuellen sozialen Lage äußern.

Als Kirche  wissen wir aber: es ist gut und ratsam, sich mit Gottes Gedanken den Kopf und die Hände füllen zu lassen. Gottes Gedanken zielen nicht auf Leid, sondern auf Frieden, auch auf sozialen Frieden. Sozialer Friede ist die Grundlage eines intakten Gemeinwesens. Wohlstand steht zum sozialen Frieden nicht im Widerspruch. Wohlstand ist aber nicht ohne sozialen Frieden beständig.

So gesehen, werden Christen durchaus zu Weltverbesserern. Denn sie glauben, daran, dass in Christus das Heil der Welt beschlossen ist und von ihm her die Heilung des Leids der Welt zu erwarten ist. Wir nehmen das Leid unserer Welt konkret wahr und befehlen es ihm im Gebet an. Wir lassen uns aus Gnade dazu frei machen zu handeln und für sozialen Frieden einzutreten und die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft dazu zu motivieren. Damit hier und heute geschieht, was in Christus selbst schon Wirklichkeit ist.

Amen.

 

Video der Predigt  [für DSL]
Fotostrecke Eröffnungsgottesdienst