"Reiche und Arme begegnen sich" (Sprüche 22,2) - Bibelarbeit

Frank Crüsemann

Es gilt das gesprochene Wort.

"Gerechtigkeit erhöht ein Volk" steht als Motto über dieser Synodaltagung. Die Fortsetzung des Verses im Buch der Sprüche benennt die negative Seite: "aber die Sünde ist der Leute Verderben" bzw. "der Makel einer Gesellschaft ist die Sünde"(1)  (Spr 14,34). Man kann nun allerdings auch übersetzen: "Solidarität im Volk ist eine Sünde". Denn es liegt so etwas wie ein Teekesselchen vor. Das hebräische Wort chäsäd in der Bedeutung Schmach oder Makel ist sehr selten, ganz genau gleich lautet dagegen das wichtigste Wort für Gnade, Güte, Freundlichkeit, Solidarität. Es geht in der zweiten Vershälfte um das Gegenteil von Gerechtigkeit, und erst dabei zeigt sich, was unter Gerechtigkeit konkret verstanden wird. Der biblische Zusammenhang spricht eindeutig für die übliche Übersetzung. Aber das Andere wird für jeden zumindest anklingen und mitschwingen - bereits damals. Denn mit dieser Doppelbedeutung sind wir mitten im Streit unserer Zeit. Für Gerechtigkeit sind alle, strittig ist der Weg dahin. Der bisherige Sozialstaat ist nicht nur unbezahlbar geworden, er gilt vielen auch als wirtschaftliche "Sünde". Die komplexe Diskussion, die sich in den letzten Wochen noch einmal zugespitzt hat, ist der Hintergrund auf dem es - unter Beachtung der Differenz der gesellschaftlichen Situationen - neu auf die biblischen Aussagen zu hören gilt.

Ich nehme dazu die Formulierung von Spr 22,2 als Ausgangs- und Zielpunkt:

"Reiche und Arme begegnen sich - beide hat die Ewige geschaffen."

I. Alles kommt auf die Art und Weise dieser Begegnung an. Von vornherein ist klar: Es geht immer auch um eine Begegnung mit Gott. Doch zunächst ist da die Tatsache, dass Reich und Arm miteinander leben und leben müssen. Wir begegnen uns - und unabhängig von allen wissenschaftlichen Definitionen ist zumeist unübersehbar, wer reich und wer arm ist und wohin der Mittelstand gehört, dem wohl die meisten hier entstammen. "Arm und reich leben Seite an Seite, sie koexistieren in einem so begrenzten Raum, dass sie nicht aneinander vorbeikommen"(2). Wir begegnen uns von Person zu Person - an der Haustür, auf der Straße, aber wir begegnen uns auch in der Gestalt der gesellschaftlichen Regeln und Formen, durch Stundenlöhne, Arbeitslosengelder, Steuersätze, Sozialgesetzgebung, Schulformen... Das hebräische Wort für "begegnen", hat eine große Spannbreite. Es bezeichnet die harmlose freundschaftliche Begegnung in der Wüste (Ex 4,27), aber auch die mit einer gefährlichen und aggressiven Bärin, die ihrer Jungen beraubt ist und um sich schlägt (Hos 13,8). So unheimlich kann sogar Gott begegnen (Ex 4,24). Das deutsche Wort "treffen" hat ähnliche Assonanzen, du hast mich tief getroffen, sagt man. Auch das gilt: Arme und Reiche treffen einander.

Beide sind von Gott geschaffen, wörtlich "gemacht" worden. Beide sind mit gleicher Würde ausgestattet, und Gott gleich nahe. Arme wie Reiche entstehen so, wie Gott uns einzelne Menschen ins Dasein ruft: durch den Vorgang von Zeugung und Geburt. Wir haben die gleiche elementare Menschlichkeit, sind atmende Materie, leben in geschenkter und begrenzter Zeit. Dem muss die Begegnung entsprechen. In andere Untiefen führt die Frage, ob Gott denn auch den Reichtum der einen, die Armut der anderen geschaffen und damit bewirkt und gewollt hat. In einer Parallelaussage in Spr 29,13 heißt es: "Es trifft eine arme Person auf den Menschen, der sie unterdrückt, es ist die Ewige, die beiden das Augenlicht gibt". Das Vermögen zu sehen wie das strahlende Angesicht ist beiden eigen. Doch die Armut der einen bewirkt den Reichtum der anderen. Immer wenn das benannt wird, liegt eine Rechtfertigung der Unterdrückung fern. Kein Zweifel, Gott ist auch in die Beziehung von Reich und Arm hinein verwoben, wie in alle menschlichen Beziehungen. Aber der Gegensatz ist nicht einfach gottgemacht und Gottes Wille. Grenzaussagen, die uns beschäftigen müssen, sind das Verständnis des Reichtums als Segen einerseits, das der Armut als Anlass zur Klage vor Gott und zur Anklage der Menschen, die daran reich werden, andererseits. Es sei hier daran erinnert, dass im Neuwort "Prekariat" nicht nur die "prekäre" Lage steckt, sondern dahinter das lateinische "precor", "dringlich flehen und bitten", "to pray".

Was passiert, wenn sich reich und arm begegnen? Wie sollen, wie können beide sich treffen? Ich möchte dazu zwei biblische Grundmodelle heranziehen und einander konfrontieren. Das eine ist der Geschichte vom reichen Mann und armen Lazarus in Lukas 16 entnommen. Und das andere ist das Konzept eines Kreislaufs des Segens im Deuteronomium.

II. In Lk 16,19ff liegt der Arme vor der Tür des Reichen "bedeckt mit Geschwüren, 21 und er hätte so gerne von dem gegessen, was vom Tisch des Reichen fiel. Stattdessen kamen die Hunde und sie beleckten seine Geschwüre." An den Abfällen zeigte sich der Reichtum(3); mit Brot wischte man sich die Finger ab. Fußbodenmosaike zeigen stolz die Fülle dessen, was da herunterfiel. "22 Als aber der Arme starb, wurde er von den Engeln in Abrahams Schoß getragen. Auch der Reiche starb und wurde begraben. 23 Und als er im Totenreich, geplagt von Qualen, seine Augen erhob, sah er Abraham von ferne und Lazarus in seinem Schoß." Die Begegnung hört mit dem Tod nicht auf, das Gegenüber besteht weiter. Abraham wird um Hilfe gerufen, lehnt sie aber ab, verweist auf Tora und Propheten und sagt: "26 Und bei alledem besteht zwischen uns und euch eine tiefe Kluft, damit die, welche von hier zu euch hinüber gehen wollen, es nicht können, noch die, welche dort sind, zu uns herübergelangen können." Die harte und oft unsichtbar gemachte Grenze zwischen Reichen und Armen wird in der Welt der Toten zu einer unüberschreitbaren Kluft. Ich möchte einen Moment mit Ihnen über diese Kluft nachdenken. Das Wort taucht überraschenderweise in der Presse dieser Tage wieder auf: "Die Kluft wird größer" hieß es etwa in der Neuen Westfälischen vom 13. Oktober 2006. Die Schere geht auseinander, die soziale Spreizung wird größer - lauten andere Bezeichnungen. Diese Kluft - was ist sie anderes als die Wahrheit dessen, was vorher im Leben bestand? Die Wahrheit, die durch die Umkehrung der Verhältnisse sichtbar wird? Im Reich Gottes wird das, was vorher war, also auch das, was jetzt ist, unübersehbar, wird kenntlich gemacht, zeigt sich als das, was es ist. Die krassen Gegensätze von wenigen Superreichen und vielen Bettelarmen sind typisch für die römische Gesellschaft. Noch ist das bei uns eher die Ausnahme, es gibt die dazwischen, es gibt uns. Dennoch ist auch heute die Kluft sehr real. Jeder und jede kann sie nachvollziehen. Da ist die junge Frau, die mit niedergeschlagenen Augen und fahrigen Bewegungen auf einem deutschen Großstadtbahnhof die Abfallkörbe nach Speiseresten durchsucht; da ist der junge Mann, der an der Haustür etwas verkaufen will. Man braucht nicht einmal mehr den Gang durch die Elendsviertel in Rio oder Djakarta. Die Kluft ist unüberwindlich, wie Abraham sagt. Was immer ich mache, sie tritt in solchen Begegnungen in Erscheinung und ist nicht zu überwinden, sie steht zwischen uns. Keine spontane Gabe, kein Teilen des Mantels kann sie beseitigen, das würde sie eher vergrößern.

Die Erzählung stellt eine Begegnung dar, die keine war, eine Vergegnung (Martin Buber). Dabei ist die Frage nach der Entstehung der Kluft und der Schuld daran in dieser Erzählung völlig ausgeblendet. Doch wenn man sich der Kluft stellen will, muss man die Frage zulassen. "Das den Elenden Geraubte ist in euren Häusern" - es lohnt sich die Konkretheit Jesajas (3,14) zumindest probeweise heute durchzuhalten. Die Ströme des Reichtums von unten nach oben sind in vielen Fällen verfolgbar und heute oft offenkundiger denn je. Sie dürfen nicht verdeckt bleiben können. Prophetische Kritik hat sie aufgewiesen, und die Kirche wird kein prophetisches Amt beanspruchen können, keine Kraft des Geistes, der die Gegenwart erhellt und die geschehende Geschichte offen legt, wenn dieser beharrliche Aufweis nicht dazu gehört. Im ganzen wird ja weder die globalisierte Welt ärmer noch die deutsche Volkswirtschaft schwächer, es geht nicht um Verteilung eines Mangels, sondern des wachsenden Reichtums. Die Kluft wächst bei uns mit dem Reichtum und deshalb wächst auch die Neigung zum Wegschauen, Übertünchen, Umbenennen. Niemand will und niemand braucht heute einen Lazarus direkt vor seiner Tür zu dulden. Man kann die Begegnung immer indirekter gestalten, versuchen, ihr auszuweichen. Dazu kommt das vielfältige Schweigen, am erschreckensten das der Betroffenen selbst. Zunehmend entziehen sich Menschen solchen Begegnungen und bleiben in ihren Wohnungen. "Tu deinen auf Mund für die Stummen" (Spr 31,8). Wir nähern uns einer Lage, in der das einfache Zitieren aus Prophetie und Evangelien zunehmend provokant wirkt.

Wo schließlich ist eigentlich Gott in einer Begegnung, wie sie Lukas erzählt? Ist Gott vor allem Garant der Umkehrung? Wirkt Gott für die Reicheren zuerst in Gestalt eines schlechten Gewissens? Ganz sicher wichtiger und elementarer als derartiges: Die Kluft bedeutet zugleich einen Abstand der Reicheren von Gott selbst, genauer: Sie ist eine Kluft hin zu Gott. Immerhin, dass davon erzählt wird, dass die Lage derart offen gelegt, dass sie benannt und herausfordernd krass zur Sprache kommt - das ist Wort Gottes. Und dieses Wort weist darauf hin, was die Kluft überwinden oder zumindest verkleinern kann: Mose und die prophetischen Schriften.

III. Ich möchte deshalb genau das tun, was Abraham anrät und greife dazu einen kleinen Ausschnitt aus einem ganzen Regelwerk auf, das im 5. Buch Mose für den Umgang mit Menschen, die sich im sozialen Abstieg befinden, formuliert ist. In Dtn 24 geht es um ein gewährtes Darlehen und seine Sicherung: "12 Wenn die betreffende Person arm ist, darfst du ihr Pfand nicht über Nacht behalten. 13 Sei sicher, dass du ihr das Pfand bei Sonnenuntergang zurückbringst, damit sie im eigenen Gewand schlafen kann und dich segnet. Das ist deine Gerechtigkeit vor Adonaj, Gott für dich." Darlehen ohne ausreichende Sicherung, Kleindarlehen, für die bereits das Gewand eine mindestens partielle Sicherung sein könnte - wir haben im Zusammenhang der Verleihung des Friedensnobelpreises dieses Jahr davon gehört. Auch von ihren Wirkungen und ihrer Hoffnung stiftenden Kraft. In der Bibel sind sie ein Teil eines ganzen Systems. Dazu gehören die Möglichkeit ohne Zins zu leihen (23,20f) und die Aufhebung aufgehäufter Schulden im 7. Jahr (15,1ff), eine Grundversorgung aus dem allgemeinen Steueraufkommen (14,22ff) und das Recht auf Nahrung aus den Feldern der Besitzenden (24,19ff; 23,25f), Partizipation an den großen religiösen Festen mit ihren üppigen Mahlzeiten (16,9ff) - an dieses vielfältige, auf einander abgestimmte Regelwerk, mit dem wachsende Verschuldung und dadurch bewirkter Abstieg in Armut und Sklaverei verhindert oder doch minimiert werden soll, kann ich hier nur etwas pauschal erinnern und muss auf alle Details verzichten(4). Es ist der erste Entwurf eines sozialen Netzes, das Urbild jeden Sozialstaates. Ich konzentriere mich allein auf die theologischen Leitlinien, mit denen hier über die Güte Gottes so nachgedacht wird, dass alle daran beteiligt werden.

Der Grundgedanke ist ein Kreislauf des Segens. Entscheidend ist das Verständnis des Reichtums, es geht um eine Theologie des Wohlstands. Was die Wohlhabenden besitzen, ist in dreifacher Hinsicht von Gott geschenkt. Immer wieder werden sie an die Herausführung aus dem ägyptischen Sklavenhaus hinein in die bestehende politische und soziale Freiheit erinnert. Dazu kommt die Gabe des Landes, das ja die Basis des Lebens und des Wohlstands war. Und selbst auf dieser doppelten Grundlage kann menschliche Arbeit nur gelingen, wenn die Fruchtbarkeit von Saat und Ernte durch Regen gesichert ist. Die menschliche Arbeit spielt eine wichtige Rolle, aber sie ist nur ein Faktor unter anderen, setzt sie doch so viel andere voraus. Dass es Menschen wirtschaftlich gut geht, hängt an den großen Gaben Gottes, kurz: an seinem, an ihrem Segen. Gottes Handeln zielt, so erzählt die Bibel, von Anfang bis zum Ende auf Segen. Das beginnt mit der Schöpfung und dem Geschenk des Lebens und der Welt, und das spitzt sich zu in der Geschichte der geliebten und erwählten Menschen, die mit Abraham und Sara beginnt und die ganz unter dem Stichwort des Segens steht. Abraham wird sehr reich - und kann schließlich deshalb den Armen in seinen Schoß nehmen. Jakob wird versprochen, dass Gott ihm gibt "vom Reichtum der Erde und Korn und Most in Fülle" (Gen 27,28). Und der reiche Hiob kann schwören, niemals einen Armen abgewiesen und keinen Bissen für sich allein gegessen zu haben, stets waren andere beteiligt (Hi 31,13ff). So wird er wieder eingesetzt in den Reichtum.

Solche freiwillige und traditionelle Wohltätigkeit wird im Deuteronomium in bindende Rechtsregeln gegossen - als Teil des Bundes Gottes mit seinem Volk. Sie regeln, dass und wie an dem geschenkten und dem so erarbeiteten Reichtum alle die teilhaben sollen, die nicht in gleicher Weise gesegnet sind, etwa weil sie keinen Landbesitz haben. Die angesprochenen Gesetze fordern von den Besitzenden einen entsprechenden Verzicht und schaffen so eine rechtlich gesicherte Grundlage für die vom sozialen Abstieg Betroffenen. Die Folge wird sein, "dass Adonaj, deine Gottheit, dich segnet, in allem, was du auch anfasst" (14,29). Es ist die Arbeit, die durch diesen Kreislauf neuen Segen erfahren wird. Bei allen Sozialgesetzen finden sich Varianten dieser Verheißung (15,10.18; 16,15; 23,21; 24,13.19). Teilung des im Segen Erarbeiteten bewirkt erneuten Segen.

Neben dem Stichwort Segen ist der des Rechts entscheidend. Nicht ein Aufruf zu Mildtätigkeit, zu freiwilligen Spenden ist hier formuliert, sondern ein rechtlich bindendes, durchdachtes und ausformuliertes Sozialsystem. Sicher ist auch solches Recht wie Recht überhaupt langfristig und prinzipiell auf Zustimmung angewiesen, damals auf die Zustimmung im Bund, heute auf entsprechende parlamentarische Mehrheiten. Aber es geht nicht nur um die Brocken, die vom Tisch fallen. Dass es um Recht geht, dass vor Gott und von Gott aus den Armen solches Recht zusteht, das verändert die Begegnung zwischen Reich und Arm, und es verändert sie auch dann noch, wenn die Möglichkeit schwindet, ein solches Sozialsystem als Ganzes rechtlich durchzusetzen, damals mit dem Verlust des eigenen Staates, heute mit der Globalisierung der Wirtschaftsprozesse. Jede biblisch begründete Ethik hat diesem Rechtsanspruch zu entsprechen(5). Die rechtlich gesicherte Teilhabe am Segen, die zugesicherte Gewissheit, dass der Segen allen gilt und alle Anspruch darauf haben - das ist das Gegenmodell zur Kluft, und das ist die biblische Möglichkeit, die Kluft zu überwinden. Symbolisch wird das besonders deutlich in der Weisung an die wohlhabenden, landbesitzenden Familien, die großen Jahresfeste nicht nur unter sich, sondern gemeinsam mit Sklaven und Sklavinnen, den levitischen Familien, den Fremden, den Witwen und Waisen zu feiern. Allen gilt gemeinsam und gleichermaßen "Sei froh" (Dtn 16,11f.14f). Mag ein solches Konzept auch nach wie vor paternalistische Züge haben, es ist als gemeinsames Fest von Reich und Arm die Vorausnahme eines Gottesreiches ohne die Kluft.

IV. Im Grundgedanken des Sozialstaats und seiner Gesetzgebung, aber auch in den Formulierungen der sozialen Menschenrechte findet man heute sachliche Entsprechungen zu den Regelungen des deuteronomischen Systems. Fasst man aber diesen Segenskreislauf genauer ins Auge, so gibt es dabei ein Moment, das in den modernen Entsprechungen eher zu kurz kommt, das aber auch in den aktuellen kirchlichen und theologischen Überlegungen nicht zentral ist. Es geht um die Frage, wie denn aus der Partizipation der Armen ein erneuter und verstärkter Segen erwächst. Meist wird einfach gesagt, dass Gott dann segnet. Aber geschieht das ganz ohne Mitwirkung von Menschen? In einem Falle wird das expliziert, was sonst im Selbstverständlichen bleibt. Deshalb habe ich den Abschnitt aus Dtn 24 gewählt und nicht die unter anderen Fragestellungen für das System zentraleren Passagen aus Kap. 14 oder 15. Wer auf die Sicherung der Schuld verzichtet und das Pfand zurückgibt, heißt es da, wird vom Betroffenen gesegnet werden(6). Die Armen segnen die Reicheren, der Segen der Reichen kommt durch die Armen. Was zunächst wie eine harmlose Dankesformel aussehen mag, hat in dieser Theologie des Segens eine Schlüsselstellung, der es nachzudenken gilt. Und man muss eine daneben stehende Formulierung hinzunehmen: "Das ist deine Gerechtigkeit" heißt es da. Die Gerechtigkeit des Reicheren kommt nicht unmittelbar aus seinem gerechten Handeln, sie kommt vom Armen. Es sind die Armen, die die Gerechtigkeit des Reicheren bewirken und garantieren.

Erst wenn man das hinzunimmt, entsteht ein Kreislauf. Und erst wo solch ein Kreislauf existiert, verändert sich die Begegnung. Sie kann jetzt in Augenhöhe erfolgen. Erst so entsteht ein wirkliches Miteinander, erst hier geschieht etwas, das die Kluft überwindet. In all den vielen Papieren zur heutigen Thematik von Arm und Reich, in den kirchlichen wie den anderen, die ich in den letzten Wochen gelesen habe, habe ich zu diesem entscheidenden Punkt bestenfalls Anklänge gefunden. Zumeist bleibt es bei dem, was die Gesellschaft für die Ärmeren und was diese für sich selbst tun sollen. Solidarität soll "Eigenverantwortung" bewirken, es geht etwa um die materiellen Voraussetzungen für einen stärkeren Einbezug in das Bildungssystem. Das ist zweifellos richtig, ist aber, denkt man von einem Kreislauf her, nur die eine Hälfte davon. Ich möchte deshalb darüber nachdenken, was von den Ärmeren ausgeht und den Reicheren etwas gibt, was diese sonst nicht haben und nicht haben können. Arm und reich werden sich nur wirklich begegnen, wenn eine Chance zu solcher Gegenseitigkeit besteht. In der mit Recht viel verwendeten Formulierung, "alle Menschen werden gebraucht", gerade auch die Armen, steckt das Problem. Denn was heißt hier "brauchen"? Wer braucht wen? Im biblischen Denken ist es so, dass es gerade auch die Reicheren und Mächtigeren, die Einflussreicheren und Wohlhabenderen sind, die die anderen brauchen. Dieser Gedanke tritt in vielen Gestalten auf. Wenn die Zukunft Gottes bei den Armen liegt, sind sie sind deshalb schon heute unsere Zukunft. "Selig sind die Armen..., denn ihnen gehört Gottes Welt" (Mt 5, Lk 6,20). Die Armen machen für Paulus den Kern der Gemeinde aus (1 Kor 1,25ff u.a.). In säkularisierter Gestalt konnte die Arbeiterbewegung das lange Zeit überzeugend vertreten: Hier ist die Zukunft. Heute scheinen solche alten Hoffnungen wie weggeblasen. Das neuentdeckte Prekariat zeichnet sich geradezu durch Hoffnungslosigkeit aus. Die Armen hier oder die in Afrika werden, so scheint es, einfach nicht gebraucht. Wir werden als Kirche nicht angemessen und biblisch begründet zu dieser Thematik votieren können, wenn wir nicht von dem Segen und von der Gerechtigkeit reden können, bei der die Reicheren auf die Ärmeren angewiesen sind, es geht um eine Hoffnung, die wir ohne sie nicht haben. Ich habe den Eindruck, wir sind davon relativ weit entfernt. Die Überlegungen, die ich dazu an den Schluss stellen will, können deshalb bestenfalls eine Richtung andeuten.

Da ist das Stichwort Segen. Vielleicht der wichtigste Segen, den wir und die ganze Gesellschaft den Ärmeren unter uns zu verdanken haben, ist die Sicherheit in der wir (immer noch) leben. Das Leben in Deutschland ist bisher davon geprägt, dass durch den funktionierenden Sozialstaat die Kluft im Vergleich mit anderen Ländern und Regionen noch nicht allzu groß ist. Deswegen sind Begegnungen von Reich und Arm im Alltag fast immer harmlos und friedlich, noch. Noch müssen sich die Reicheren und die Menschen des gut verdienenden Mittelstandes nicht überall hinter elektrische Zäune zurückziehen und Waffen anschaffen. Noch können sich Reiche und Arme auf der Straße begegnen, können wir freundlich die Haustür öffnen und uns in die Augen sehen. Die Qualität unseres alltäglichen Lebens und vor allem des Lebens der Kinder hängt daran. Sie können bei uns noch allein zur Schule gehen und draußen spielen. Das ist in vielen Ländern nicht möglich, nirgends da, wo wie in Brasilien selbst ein schmales Pfarrgehalt die Kluft zu den Bettelarmen und Hungernden so groß erscheinen lässt, dass man jederzeit mit Überfällen und Gewalt rechnen muss. Unser sicheres, gemeinsames, alltägliches Leben ist eine Gestalt des Segens, den wir von den Ärmeren bekommen, noch. Die Kluft darf nicht weiter wachsen, wenn wir solchen Segen behalten wollen.

Da ist das Stichwort Gerechtigkeit. Ich frage mich, was uns das Gefühl, in einer halbwegs gerechten Gesellschaft zu leben, wert ist. Als Heranwachsender habe ich in den fünfziger Jahren erlebt, wie durch den wachsenden Wohlstand und den Ausbau des Sozialstaates allmählich die Bettler auf den Straßen weniger wurden. Schon seit längerem tauchen sie wieder auf. Mir wurde damals beigebracht, und ich hab es zu schätzen gelernt, dass ich mir und anderen sagen kann: Diese Menschen haben ein Recht auf ausreichendes und gesichertes Leben, sie hängen nicht von meinem Wohlwollen und meinen milden Gaben ab. Das erfordert Organisation und Bürokratie, man kann das alles kritisieren, ich schätze dieses Recht, das die Tora erfunden hat, hoch. Und es hat die Begegnungen verändert. Das Bewusstsein jedenfalls, in einer halbwegs gerechten Gesellschaft zu leben, hängt davon ab, dass auch die Ärmsten dieses Gefühl in irgendeiner Form teilen und es bestätigen. Nur sie können es uns zusprechen, allein sie können ein solches Bewusstsein den Reicheren ermöglichen. So hängt, kann man mit dem Deuteronomium sagen, meine Gerechtigkeit vom Votum der Armen über unsere Begegnung ab.

Schließlich ist noch einmal die Frage nach Gott in der Begegnung von Arm und Reich zu stellen. Kirchliche Äußerungen, die sich biblisch begründen, verweisen mit Recht regelmäßig auf die Formulierungen aus Mt 25, die Gegenwart Christi, des Weltenrichters, in den geringsten Schwestern und Brüdern. Das Gleichnis setzt voraus, dass die Menschen nichts davon wussten und nachträglich völlig überrascht waren. Wir aber wissen es, denn wir kennen das Evangelium. Wenn Christus, wenn Gott uns also in den Armen begegnet, kann und darf dann der Akzent allein auf der Hilfe von oben nach unten, von den Reicheren zu den Ärmeren liegen? Was heißt es für uns, was für unser Bild und unser Reden von Gott, dass wir in den Armen Gott begegnen? Geht von dieser Gegenwart Gottes nichts aus? Die beiden Orte Gottes in der Welt, die sich herausheben, sind - biblisch gesprochen - einmal die Gegenwart bei seinem Volk und bei seiner Gemeinde, mitten unter den zweien oder dreien, dann aber ist Gott auch bei den Armen und Entrechteten. "Ich wohne in der Höhe und im Heiligtum und bei denen, deren die zerschlagenen und demütigen Geistes sind" (Jes 57,15). Was schenkt uns Gott in dieser Gestalt? Dazu abschließend zwei Überlegungen.

- Hoffnung. Auf einem Plakat der Diakonie las ich dieser Tage: "Hoffnung schenken" mit Bildern unserer Hoffnungslosen. Ein richtiger Impuls zweifellos, viele Berichte etwa aus dem Osten Deutschlands beschreiben sehr nüchtern eine große Hoffnungslosigkeit. Dennoch: Haben wir denn eigentlich genug Hoffnung, um davon etwas verschenken zu können? Ist nicht die Hoffnung in Kirche und Gesellschaft heute allzu oft eher darauf gerichtet, dass alles so bleibt, wie es ist - was ist das für eine Hoffnung!? „Um der Hoffnungslosen ist uns die Hoffnung gegeben" (Walter Benjamin). Biblisch muss man entschieden weiter gehen: Von den Hoffnungslosen muss und wird die Hoffnung kommen. Hier ist nichts zu idealisieren, schon gar nicht die gemeinten Menschen. Dennoch: Nur wenn wir lernen, wie deren Hoffnung aussieht, gerade wenn sie verdeckt und verstummt ist, wie also die Hoffnung der angeblich Hoffnungslosen aussieht, wird sich die globalisierte Welt um das Notwendige ändern können. Wo alte Muster verblassen, können neue nicht ohne die Erfahrungen der Herausgefallenen entstehen. Das Gesellschaftsideal des "abgehängten Prekariats" sei, so ist zu lesen, "eine gemeinwohlorientierte Gesellschaft". Auch wenn andere Einstellungen weniger sympathisch sind(7), so wäre doch dieses Ideal von dort neu zu lernen.

- Evangelium. Die Umdrehung, um die es mir geht, zeigt sich besonders deutlich in einer Neuübersetzung von Mt 11,5 und Lk 7,22. Mit einer Übersetzungsvariante habe ich begonnen, eine solche soll auch am Ende stehen. "Den Armen wird das Evangelium gepredigt" ist die übliche Wiedergabe, und das ist sicher auch richtig. Aber: der Zusammenhang redet von aufregenden und unglaublichen Aktivitäten: "Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden rein, Taube hören, Tote erheben sich - Arme bringen frohe Botschaft". Die griechische Verbform lässt sich passivisch, lässt sich aber auch medial bzw. aktivisch wiedergeben, und das setzt die Reihe der Aktivitäten der vorher Inaktiven fort(8). Die Armen erhalten frohe Botschaft, dafür wollen wir sorgen, im sozialen, aber auch im umfassenden theologischen Sinn. Doch das wird nur Erfolg haben, wenn wir diese Menschen nicht nur als Objekte sehen, bestenfalls als solche, die von uns aktiviert werden müssen. Wenn wir ihnen so begegnen, dass uns in ihnen Gott begegnet, dann sind immer auch sie es, die uns das Evangelium, einen unaufgebbaren Aspekt des vollen Evangeliums so zu sagen haben, wie wir ihn sonst nirgends hören können. Wir müssen nur lernen, richtig hinzuhören.

Fußnoten:

1  Übersetzungen zumeist nach oder in Anlehnung an "Die Bibel in gerechter Sprache", hrsg. U. Bail u.a., Gütersloh 2006.

2  M. Schwantes, Das Recht der Armen, BET 4, Frankfurt/M 1977, 245f.

3  Dazu wie zum Gleichnis im Ganzen s. L. Schottroff, Die Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2005, 214ff, bes. Abb. nach S. 224.

4  F. Crüsemann, Gottes Fürsorge und menschliche Arbeit. Ökonomie und soziale Gerechtigkeit in biblischer Sicht, in: ders., Maßstab Tora. Israels Weisung für christliche Ethik, 2. Auf. 2004, 196ff; ders., Armut und Reichtum. Ein Kapitel biblischer Theologie, ebd. 208ff.

5  Dazu F. Crüsemann, Die Bedeutung der Rechtsförmigkeit der Tora für die christliche Ethik. In. Ders. Maßstab Tora, 175ff.

6  Hierzu bes. R. Kessler, Die Rolle des Armen für Gerechtigkeit und Sünde des Reichen. Hintergrund und Bedeutung von Dtn 15,9; 24,13.15, in: Was ist der Mensch...? Beiträge zur Anthropologie des Alten Testaments,
FS H. W. Wolff, München 1992, 153-163.

7 Nach den Umfrageergebnissen der Friedrich-Ebert-Stiftung findet sich daneben ein "ausgeprägter Ethnozentrismus" und es wird "in der Abschottung gegenüber Ausländern" eine mögliche Lösung ihrer Probleme gesehen.

8  Dazu C. Janssen, Die Autorität der Armen, Zeitzeichen 7, 2006, Heft 9, 32-34.