Predigt im Ökumenischen Gottesdienst anlässlich der bundesweiten Eröffnung der Woche für das Leben 2006 in Stuttgart

Karl Lehmann

In diesem zweiten Schritt der Themen für die dreijährige Gestaltung der Woche für das Leben 2005-2007 lautet das Leitwort: Uns anvertraut von Anfang an. Menschsein beginnt vor der Geburt. Meist reden wir bei dieser Fragestellung über die bioethische Frage, welchen „Status“ der Embryo hat und wie das vorgeburtliche Dasein des Menschen anthropologisch, moralisch und rechtlich zu bewerten ist. Dies ist auch zur Klärung notwendig, um die praktischen Fragen beantworten zu können, ob es z. B. in den verschiedenen Phasen ein gestuftes Lebensrecht gibt, das besonders am Anfang bestimmte Experimente zulassen könnte, in denen es am Ende um die Erlaubnis zur Tötung des Embryo geht.

Aber mit diesem Thema ist, was wir bei diesen Problemen immer schon wussten und zu berücksichtigen versuchten, noch mehr angesprochen. Es geht zunächst darum, dass Kinder uns anvertraut sind. Wir haben uns heute ja schon seit Jahrzehnten so sehr an die Planbarkeit und Machbarkeit auch von Kindern gewöhnt, nicht zuletzt auch durch die Empfängnisverhütung und durch die In-Vitro-Fertilisation, dass wir das Kind sehr stark in der Perspektive unserer Wünsche und Leistungsmöglichkeiten sehen. Das Kind erscheint vielen als ein „Produkt“, das auch von der Geschlechtsbestimmung (Junge oder Mädchen) über die Haarfarbe bis zu möglichen Fehlbildungen einer Qualitätsüberprüfung unterworfen wird. Die pränatale Diagnostik, die gewiss in hohem Maß auch zum Austragen eines Kindes ermutigen kann, darf hier nicht zu einer Art Selektionsmedizin werden. Manche meinen, dies wäre schon eine Realität, auch wenn es nicht so deutlich gesagt wird.

Nun können und wollen wir das Rad der Geschichte und der wissenschaftlichen Möglichkeiten nicht einfach zurückdrehen. Es ist für den Menschen schwer, auf das zu verzichten, was er technisch machen kann. Der christliche Glaube verbietet auch nicht, dass Mann und Frau sich über den Zeitpunkt und die Zahl ihrer Kinder verständigen. Wir brauchen hier nicht über die Methoden der Familienplanung zu reden. Aber hier geht es ja nicht nur um die Freiheit, sondern in höchstem Maß auch um die Verantwortung, die uns aufgetragen ist. Denn gerade auch bei unseren heutigen Möglichkeiten darf man nicht vergessen: Kinder sind ein Geschenk Gottes, über das wir nicht verfügen können. Wir spüren es vielleicht noch am schmerzlichsten, wenn ein Kinderwunsch trotz aller Bemühungen nicht erfüllt werden kann. Bei allen planerischen Überlegungen und medizinischen Hilfen müssen wir eigentlich immer wieder staunen gegenüber dem Leben, das uns unverdient geschenkt wird. Dieses Geschenk ist in letzter Instanz nicht planbar. Man kann ein Kind nicht herbeizwingen. Wir haben freilich in unserer Welt nicht mehr so viele Möglichkeiten, das Sein der Welt und unser Leben als Geschenk zu verstehen. Man spürt es jedoch immer wieder in herausragenden und außerordentlichen Situationen, wie in der Krankheit, bei der Heilung, in der Liebe und eben auch bei der Geburt eines Kindes.

Dies hat freilich Folgen für unser Verständnis des Kindes. Bei aller menschlichen Mitwirkung und Verantwortung lebt es nicht nur von Gnaden des Menschen. Ein Anderer hat es ins Leben gerufen. Darum können wir auch nicht einfach über sein Werden und Leben verfügen. Deshalb sind die Würde und das Recht auf das Leben des Kindes unantastbar. Dies ist auch etwas Wichtiges vor der Geburt, und zwar nicht nur im Blick auf verschiedene Eingriffe des Menschen in das Leben des Kindes im Mutterschoß. Was da in der Mutter heranwächst, wird einen eigenen unverwechselbaren Namen tragen und hat auch seine eigenen Lebenschancen, die wir nicht zerstören oder beeinträchtigen dürfen, auch z. B. durch ein unvernünftiges Verhalten in der Schwangerschaft.

Wir haben gesagt, dass das Kind uns von Anfang an anvertraut ist. Es gehört uns also nicht im Sinne eines fraglosen Besitzes, über den wir verfügen könnten. Es gibt in Vergangenheit und Gegenwart rechtliche Bestimmungen z. B. über die Gewalt des Vaters über ein Kind, die damit unverträglich sind. Was uns anvertraut ist, ist freilich so auch in unsere Verantwortung gegeben. Die Verantwortung ist größer, wenn wir nicht einfach unumschränkte Herren über etwas sind, sondern einen Dienst für etwas Selbständiges übernommen haben. Dies entspricht auch sonst unserem Verhältnis gegenüber der Schöpfung. Beim Menschen ist dies im Blick auf seine eigene Würde „von Anfang an“ noch viel gewichtiger.

In diesem Sinne sind Kinder ein Segen. Sie wecken unser Staunen und auch, wenn wir es recht bedenken, unsere Ehrfurcht. Dies verlangt den Menschen viel ab. Dem kleinen, ohnmächtigen Wesen sollen wir unsere ganze Sorge zukommen lassen. Dies gilt erst recht für die Mütter der Kinder. Sie sind ja oft in sehr unterschiedlichen Situationen. Die einen freuen sich mit der ganzen Familie über ein kommendes Kind, die andern müssen sich geradezu verstecken und schämen. Alle Rede von Elterngeld und Familienpolitik darf nicht übersehen, dass wir unserer Gesellschaft viel zu wenig – nicht zuerst finanzielle – menschliche Anerkennung den Müttern, die den Mut zum Kind haben, zuteil werden lassen. Dazu gehören auch Verlässlichkeit und Geborgenheit von Seiten des Mannes und der ganzen Familie. Hier dürfen wir nicht zuerst oder gar alles vom Staat und caritativen Einrichtungen erwarten. Sie müssen einspringen, wenn die „natürlichen“ Hilfen versagen.

Ich bin fest überzeugt, dass unsere Frauen und Männer, unsere Familien und alle, die sie stützen, diese Zuversicht brauchen. Dies ist dann eigentlich nur ein Spiegel dessen, was durch die Geburt eines Kindes geschieht: Es bringt Hoffnung in das Leben der einzelnen Menschen und der ganzen Gesellschaft.

Im Grunde ist damit auch eine uralte Erfahrung zum Ausdruck gebracht, wie es besonders auch die Psalmen zum Ausdruck bringen, die uns hier in einer Zeit, wo die wissenschaftlichen Erkenntnisse noch nicht weit reichten, aber wo man ein große Lebensweisheit besaß, Entscheidendes über das Werden des Menschen vor der Geburt sagen:

„Herr, du hast mich erforscht, und du kennst mich.
Ob ich sitze oder stehe, du weißt von mir.
Von fern erkennst du meine Gedanken.
Ob ich gehe oder ruhe, es ist dir bekannt;
Du bist vertraut mit all meinen Wegen.
Noch liegt mir das Wort nicht auf der Zuge –
Du, Herr, kennst es bereits.
Du umschließt mich von allen Seiten
Und legst deine Hand auf mich...
Denn du hast mein Inneres geschaffen,
Mich gewoben im Schoß meiner Mutter.
Ich danke dir, dass du mich so wunderbar gestaltet hast.
Ich weiß: Staunenswert sind deine Werke.
Als ich geformt wurde im Dunkeln
Kunstvoll gewirkt in den Tiefen der Erde,
Waren meine Glieder dir nicht verborgen.
Deine Augen sahen, wie ich entstand,
In dein Buch war schon alles verzeichnet;
Meine Tage waren schon gebildet,
Als noch keiner von ihnen da war.
Wie schwierig sind für mich, o Gott, deine Gedanken,
Wie gewaltig ist ihre Zahl.“ (Ps 139,1–5.13–17)