Predigt im Ökumenischen Gottesdienst zur bundesweiten Eröffnung der Interkulturellen Woche / Woche der ausländischen Mitbürger 2007 in der Katharinenkirche in Frankfurt

Karl Lehmann

Wir haben soeben im Evangelium das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg gehört (Mt 20,1-16). Der Weinbergbesitzer wirbt die Tagelöhner, die auf dem Markt stehen und auf Arbeit warten, in fünf Etappen an. Das Wesentliche ist nun aber die Auseinandersetzung um den Lohn, die an den beiden extremen Gruppen, der ersten und der fünften, aufgezeigt wird. Die Erzählung macht deutlich, dass die Lohnhöhe für die Kurzarbeit absolut ungewöhnlich ist, so ungewöhnlich, dass die Langarbeiter erwarten dürfen, dass ein so gütiger Arbeitgeber auch gegen sie dieselbe Großzügigkeit an den Tag legt und ihnen wesentlich mehr als vereinbart gibt.

Darüber geht nun auch die Auseinandersetzung. Das Gleichnis will von der Güte Gottes (vgl. bes. V. 15) und vom Verhalten der Menschen untereinander reden, das im Zusammenhang mit der Güte Gottes steht. Der Neid und das Murren der Langarbeiter ist nicht zu übersehen. Aber Gott ist anders. Seine Güte bringt Erfahrungen mit sich, die es in der Härte des Lebens normalerweise nicht gibt. Im Licht dieser Güte wird auch die Alltags- und Arbeitswelt durchschaubarer. Die Güte Gottes hat nämlich auch Konsequenzen für das Leben der Menschen miteinander, wie die Szene mit den murrenden Langarbeitern zeigt. Sie haben in der Tat ja wesentlich mehr geleistet als die Kurzarbeiter. Ihr Wunsch nach Lohngerechtigkeit kann also nicht ganz falsch sein. Offensichtlich geht es aber auch nicht zuerst darum. Es ist offenbar eher die Art, wie sie mit diesem Wunsch umgehen. Sie sind neidisch und gönnen den Kurzarbeitern den Denar nicht. Sie wären wohl ruhig gewesen, wenn die Arbeiter der letzten Stunde erkennbar weniger als sie selbst bekommen hätten. Was also kritisiert wird, ist ihr unbarmherziges, unsolidarisches Verhalten. Gott dagegen ist gütig und barmherzig. Das Gleichnis hat letztlich ein positives Ziel: Es will Solidarität lehren. Es beurteilt nicht das Lohndenken, sondern die Benutzung des Gerechtigkeitsempfindens als Waffe gegen andere Menschen. Matthäus möchte mit der Erzählung dieses Gleichnisses Jesu offenbar einen schmerzhaften Konflikt in der Gemeinde bewältigen. Letztlich geht es um die Einsicht in das bekannte Wort aus Psalm 103: „Barmherzig und gnädig ist der Herr, langmütig und reich an Güte.“ (V. 8; 86,15; Ex 34,6)

Zu Beginn dieser Woche möchte ich aber noch ein Wort sagen zu dem Leitwort auch unseres Gottesdienstes „Teilhaben – Teil werden“. Alle sollen an der Verheißung des Bundes Gottes mit den Menschen teilhaben, konkret an der Güte Gottes zu allen Menschen. Die Würde jedes Menschen zeigt sich darin, dass alle zum Mitwirken und Teilhaben geschaffen und berufen sind. Dies wird auch deutlich, wenn Jesus Christus seine Sendung mit den Worten beschreibt: „Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben.“ (Joh 10,10 b)

Dieses Recht und die Freiheit eines jeden Menschen verlangen auch soziale, wirtschaftliche, politische, kulturelle und religiöse Teilnahme an Entscheidungen. Es geht nicht nur um die abstrakte Gerechtigkeit, sondern sie muss auch durch konkrete Beteiligung aller real verwirklicht werden. Dies gilt gerade für alle Zuwanderer, aber auch für Staat und Kirche, Gesellschaft und Kommunen, Gewerkschaften und Verbände. Dabei geht es um eine gleichberechtigte Teilhabe der Zuwanderer am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Wir dürfen hier nicht einseitig Integrationsleistungen von den Zuwanderern fordern. Viele haben mit ihren Familien schon große Anstrengungen gemacht, um sich in unserem Alltagsleben zurechtzufinden. Wir müssen vor allem die Hindernisse und Blockaden abbauen, die eine wirklich gleichberechtigte Teilhabe erschweren oder verhindern. Es genügt nicht, dass wir abstrakte und grundsätzliche Rechte für alle Menschen, auch der Zuwanderer, festlegen und auch verteidigen. Dies soll in der Bedeutung nicht heruntergespielt werden. Denn wir brauchen zunächst einmal die Teilhabe an den bei uns gültigen Rechten für jedermann. Dies ist manchem noch ein Dorn im Auge. Aber es geht vor allem auch darum, dass wir durch den Abbau der Hemmnisse dazu verhelfen, dass die zugestandene Teilhabe auch im Sinne des „Teil werden“ Wirklichkeit wird.

Dazu haben der Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, der Vorsitzende der Kommission der Orthodoxen Kirche in Deutschland und die Deutsche Bischofskonferenz einige konkrete Forderungen aufgestellt, die ich in diesem Zusammenhang auch nochmals wörtlich zu Gehör bringen möchte:

„Dazu [=zu den Schritten, die erforderlich sind, die genannten Hemmnisse abzubauen] gehören erweiterte Möglichkeiten für Dauergeduldete und ihre Familien, einen sicheren Aufenthaltsstatus zu erlangen. Nur so können sie die Lebensperspektive einer gleichberechtigten Teilhabe in unserer Gesellschaft wirklich wahrnehmen.

Ähnliches gilt für Erleichterungen bei der Einbürgerung, die eine innere Distanzierung der seit Jahrzehnten hier lebenden Zuwanderer von unserer Gesellschaft und gegenseitiges Misstrauen verhindern können. Erst mit der Einbürgerung wird auch die volle politische Teilhabe erreicht, nämlich die Möglichkeit, an Wahlen teilzunehmen.

Weiterhin bereitet die strukturelle Benachteiligung von Menschen mit Migrationsgeschichte – insbesondere von Jugendlichen – in den wichtigen Lebensbereichen Schule, Ausbildung, Beschäftigung und Einkommen Sorge. Im Zusammenwirken aller Entscheidungsträger sollten baldmöglichst Strategien erarbeitet werden, die einer noch stärkeren Chancenungleichheit entgegenwirken. [Hier darf man nicht vergessen, dass wir in der Europäischen Union 2007 das Europäische Jahr der Chancengleichheit ausgerufen haben.]

Schließlich muss sowohl im Bereich des Familiennachzugs von hier lebenden Migranten mit gesichertem Aufenthaltsstatus als auch bei Abschiebungen von Menschen ohne Aufenthaltsberechtigung der Schutz von Ehe und Familie wieder eine stärkere Beachtung finden.“

Um dies zu erreichen, bedarf es immer wieder einer Änderung unserer grundlegenden Einstellungen und Mentalitäten. Dies ist in besonderer Weise wichtig für die Interkulturelle Woche und im Zusammenhang der Woche der ausländischen Mitbürger. Wir werden einzelne Forderungen nicht einlösen können, wenn uns nicht eine grundlegende Umkehr im Denken und in unserem Vorverständnis des „Fremden“ bestimmt. Dafür gibt es in der Bibel, die wir Christen auch mit den Juden teilen, tief reichende Aufforderungen einer Gesinnungsänderung, die dann auch zu Taten führen muss. Ich möchte am Ende eine solche Äußerung in besonderer Weise hervorheben.

Es gehört zu den grundlegenden Aussagen der Bibel des Alten und Neuen Testamentes, dass wir den Nächsten lieben. Gewiss war man immer in der Gefahr, den Nächsten mit den uns besonders verbundenen Menschen zu identifizieren. Dies legt sich ja auch zunächst nahe. Als Nächster gilt der Mensch, der uns innerhalb eines gegebenen sozialen Bezugsystems zugeordnet ist, also das Glied der Sippe, der Mitbürger und – im weiteren Sinne – der Mitangehörige des Volkes Israel, der Angehörige derselben Nation. Diesem Nächsten gegenüber ist „Liebe“ die fundamentale, durch die Weisung Gottes gebotene Pflicht (vgl. Lev 19,13-18). In eindrucksvoller Weise wird dies auch und gerade für den Alltag eingeschärft und zusammengefasst: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Ich bin der Herr.“ (19,18 b) Von den „Fremden“ gilt dies nur, wenn er dauernd im Lande wohnt (vgl. Ex 22,20; Lev 19,34). Es ist immer wieder erstaunlich, wie in diesem Zusammenhang das Gebot der Nächstenliebe sich nun eben auch auf den „Fremden“ richtet: „Wenn bei dir ein Fremder in eurem Land lebt, sollt ihr ihn nicht unterdrücken. Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen. Ich bin der Herr, euer Gott.“ (Lev 19,33 f.)

Damit ist eine Bewegung der Liebe zum Nächsten über die bisherigen Lebenskreise hinaus angestoßen und vorangetrieben. Ja, es ist wirklich eine universale Öffnung auf die Menschheit hin. Dies ist ein wichtiges Kennzeichen von Judentum und Christentum zugleich. Ein wichtiges Erbe für den Umgang der Menschen miteinander, Fundament auch für jede Interkulturelle Woche.

Jesus bricht die Grenze im Verständnis des Fremden nochmals auf (vgl. Mt 5,43) und fasst das Gebot der Liebe neu. Er bindet Gottesliebe und Nächstenliebe ganz grundlegend aneinander (vgl. Mk 12,28-31). So wird auch die Güte und Zuwendung Gottes zu allen Menschen zum Vorbild. Exemplarisch heißt es darum: „Denn der Herr, euer Gott, ist der Gott über den Göttern, der Herr über den Herren. Er ist der große Gott, der Held und der Furchterregende. Er lässt kein Ansehen gelten und nimmt keine Bestechung an. Er verschafft Waisen und Witwen ihr Recht. Er liebt die Fremden und gibt ihnen Nahrung und Kleidung – auch ihr sollt die Fremden lieben, denn ihr seid Fremde in Ägypten gewesen.“ (Dt 10,17) Ein Ausleger des Alten Testaments schreibt dazu: „Jeder dieser Sätze ringt mit dem allgegenwärtigen Kain, mit Jakob und mit Esau, mit Joseph und mit seinen Brüdern, mit jedem aufkommenden Hass, mit jedem Bedürfnis zur Anklage, zur Rache oder doch zum Nachtragen. Sie stoßen vor zu dem Gebot der Nächstenliebe, das in der vorliegenden Form in Israels Umwelt noch keine Parallele fand, und das im Neuen Testament zentrale Bedeutung gewinnt.“ (H. W. Wolff, Anthropologie des Alten Testaments, München 1973, 275) Wer sich selbst von Gottes Liebe bestimmt sieht und ihre befreiende Wirkung empfangen hat, kann nicht umhin, sie weiterzugeben.

In diesen Sätzen ist die Quelle für die Anerkennung des Anderen und des Fremden, für die Teilgabe und Teilhabe der gemeinsamen Menschenwürde und zugleich für die konkrete Teilnahme an den Gütern dieser Welt. Dies spornt uns immer wieder an und zeigt uns, wie tief wir zwischen den großen Kulturen („Interkulturell“) mit Gott als Vorbild und als orientierende Inspiration mit allen Menschen verbunden sind und immer mehr verbunden sein sollen.

Amen.