Predigt im Gottesdienst zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus in der Versöhnungskirche Dachau (Lk 10,25-37)

Johannes Friedrich

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde hier in der Versöhnungskirche Dachau und daheim,

als Adolf Eichmann in seinem Berliner Büro Pfarrer Heinrich Grüber fragte:
„Was kümmern Sie sich überhaupt um die Juden? Sie werden keinen Dank für diese Arbeit haben“, antwortete Grüber:

„Sie kennen die Straße von Jerusalem nach Jericho! Auf dieser Straße lag einmal ein überfallener und ausgeplünderter Jude. Ein Mann, der durch Rasse und Religion von ihm getrennt war, ein Samariter, kam und half ihm. Der Herr, auf dessen Befehl ich alleine höre, sagt mir: Gehe hin und tue desgleichen.“

Diese kleine Episode aus dem Jahr 1939 führt uns mitten hinein in die menschenverachtende Zeit des Nationalsozialismus.

Der spätere Berliner Probst Heinrich Grüber war eine Ausnahmegestalt, wenn er die vom Regime bedrohten, Menschen jüdischer Herkunft unterstützte. Er fühlte sich von Gott berufen, diesen Menschen zu helfen. Und Gott gab ihm die Kraft, diese Arbeit zu tun und dafür auch eigenes Leid auf sich zu nehmen. Mehr als 1000 von ihnen verhalf Grüber zur Ausreise, vielen anderen wurde im alltäglichen Leben geholfen. Aber Adolf Eichmann sollte zunächst Recht behalten, wenn er prophezeite, dass Grüber für diese Arbeit keinen Dank ernten werde: 1940 wurde Grüber in das Konzentrationslager Sachsenhausen verschleppt; und vom Oktober 41 bis zum Juni 43 saß er schließlich fast zwei Jahre als politischer Häftling hier im Konzentrationslager Dachau ein. War es die Angst davor, wie Grüber im KZ zu enden, die so viele Menschen davon abgehalten hat, gegen das schreiende Unrecht der damaligen Zeit aufzubegehren?

War es der fehlende Glaube daran, dass Gott ihnen beistehen würde, wenn sie aufbegehren?

Oder waren die Menschen damals tatsächlich so ideologisch verblendet, dass sie glaubten, was ihnen vom Regime vorgegaukelt wurde?

Oder war es einfach nur die Bequemlichkeit, die so Viele zu Mitläufern – oder gar Mittätern – werden ließ?

In vielen Fällen können wir bis heute nicht sagen, aus welchen Beweggründen heraus damals nicht mehr Widerstand geleistet wurde. Auch steht es mir als Nachgeborenen fern, über einzelne Menschen aus der damaligen Zeit endgültig richten zu wollen – das wird am Ende der Zeit Gott selbst übernehmen.

Aber was ich heute als Landesbischof sagen kann, ist, dass die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern durch ihr Tun und Lassen in der Zeit des Nationalsozialismus schuldig geworden ist, auch wenn Landesbischof Hans Meiser zu den wenigen Bischöfen gehörte, die die Arbeit Grübers unterstützt haben. Aber er und die Kirchenleitung haben geschwiegen zu den schrecklichen Judenverfolgungen und anderen Verbrechen.

Unsere Landeskirche ist schuldig geworden, weil sie unzähligen Verfolgten und Unterdrückten der damaligen Zeit keine helfende Hand gereicht hat.

Sie ist schuldig geworden, weil sie geschwiegen hat, wo klare Worte hätten gesprochen werden müssen. Sie ist schuldig geworden, weil sie den millionenfachen Tod Unschuldiger in Kauf genommen hat.

Die Erzählung vom barmherzigen Samariter führt uns vor Augen, was von uns als Christen zu erwarten gewesen wäre. Da war ein Mensch, der „unter die Räuber gefallen war“. Da waren andere, die das gesehen haben – aber nicht helfen wollten. Und dann war da einer, ganz anderer Religion und Herkunft, der sich des Notleidenden angenommen hat.

Und Jesus sagt: „Geh hin und tu desgleichen!“.

Helfen hätten wir sollen denen, die unter die Räuber gefallen waren – egal welcher Herkunft oder Religion. Helfen hätten wir sollen den zahllosen Verfolgten, die um ihr Leben fürchten mussten und schließlich ermordet wurden. Gott sei Dank gab es dann doch einige Menschen, die sahen und halfen.

Dabei ist der Samariterdienst, der von uns erwartet wird, nicht einfach nur ein Akt bloßer Nächstenliebe. Darauf weist uns der Anfang dieser Geschichte hin, der mit der Frage beginnt: „Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe?“ Die Geschichte vom barmherzigen Samariter steht damit im unmittelbaren Zusammenhang vom Weltgericht. Es geht also nicht nur um den Dienst an den Menschen, die unserer Hilfe bedürfen, sondern auch darum, Gott die Ehre zu geben.

An anderer Stelle sagt Jesus pointiert: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan“ – (Mt 25,40.).

In der Begegnung mit dem Menschen, der meine Hilfe braucht, findet also immer auch eine Gottesbegegnung statt. In den Nächsten, von denen Jesus spricht, begegnet uns Gott selbst. Aus den Augen der Opfer und Hilfesuchenden – damals wie heute! – schaut uns Gott an.

Weil dies so ist, sind wir als evangelische Kirche schuldig geworden an den Menschen und an Gott.

Wir können das Rad der Geschichte nicht mehr zurückdrehen. Was wir aber können, ist heute und in Zukunft alles Menschenmögliche dafür zu tun, dass diese Geschichte sich nicht wiederholt.

Weder als Ganze noch auch nur ansatzweise.

Leider sind wir auch heute noch weit davon entfernt, dass Juden sich überall frei bei uns bewegen könnten. Die neue Hauptsynagoge am St. Jakobs-Platz in München muss – ebenso wie andere Synagogen – rund um die Uhr bewacht werden.

Immer wieder gibt es tätliche Übergriffe auf Jüdinnen und Juden alleine aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit. Rechtsextrem motivierte Straftaten sind keine Seltenheit. All diese Verbrechen müssen von uns aufs Schärfste verurteilt werden.

Gleichzeitig gilt es aber auch, das Gedächtnis an die Greueltaten der Nationalsozialisten und die daraus erwachsende Verpflichtung für unser heutiges Engagement in der Gesellschaft wach zu halten.

Ich danke daher allen, die sich für das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus einsetzen. Ihr Dienst ist nicht nur rückwärts, auf die Vergangenheit hin gerichtet, sondern ist durch seine Erinnerung zugleich Mahnung im Blick auf die Zukunft.

Kann es angesichts dieser schuldbeladenen Geschichte eine bessere Zukunft geben – gerade auch im Miteinander von Juden und Christen?

Darum können wir Christen, ganz besonders wir in Deutschland die Juden nur bitten und dankbar sein für alle positiven Signale, die wir von ihnen immer wieder erhalten, gerade auch in München und gerade auch von Frau Präsidentin Knobloch.

Und wir Christen dürfen dies trotz aller Schuldbeladenheit unserer Kirchen auch annehmen, denn gottlob! – gilt uns allen die gute Nachricht, dass Gott unsere Schuld, und gerade auch die Schuld unserer Kirchen und aller, die für sie verantwortlich waren und sind, durch seinen Sohn Jesus Christus auf sich genommen hat. Weil wir mit all unserer Schuld Gottes Kinder und von ihm angenommen sind, können wir umkehren und jeden Tag neu anfangen.

Trotz aller Schuld sind wir befreit zu neuem Leben und Handeln für unsere Nächsten. Gott lehrt uns den zu sehen, der am Boden liegt. Durch seine Liebe zu uns nimmt er uns mit auf den Weg der Liebe. Er zeigt uns, welche Hilfe Not wendet. Er selbst gibt uns die Kraft dazu –

Der evangelische Pfarrer und im KZ ermordete Dietrich Bonhoeffer hat dies in einem Glaubensbekenntnis zum Ausdruck gebracht, das hier in der Versöhnungskirche Dachau in praktisch allen Gottesdiensten gesprochen wird. Ich will es gerne als Ermutigung an den Schluss meiner Predigt stellen. Bonhoeffer schreibt:

„Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dazu braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen. Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage soviel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im Voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen. In solchem Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein. Ich glaube, dass auch unsere Fehler und Irrtümer nicht vergeblich sind, und dass es Gott nicht schwerer ist, mit ihnen fertig zu werden, als mit unseren vermeintlichen Guttaten. Ich glaube, dass Gott kein zeitloses Schicksal ist, sondern dass er auf aufrichtige Gebete und verantwortliche Taten wartet und antwortet.“
Amen.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen.