Predigt im Einführungsgottesdienst des Präsidiums des Verbandes Evangelischer Frauen in Deutschland in der Marktkirche zu Hannover

Margot Käßmann

Liebe Gemeinde,

sie küssen sich, Frieden und Gerechtigkeit. Über dem Stadtschloss von Gotha ist das schön zu sehen. Und siehe da – es sind zwei Frauen! Das hat mich schon fasziniert, als ich dieses Bild zu Psalm 85, der unseren Gottesdienst heute prägt, noch zu Zeiten der DDR zum ersten Mal gesehen habe.

Vielen in der säkularen Welt ist auf die Ferne eher fraglich, ob nun gerade die Kirche für die Rechte und Würde der Frauen eintritt, dass sich Gerechtigkeit und Frieden hier küssen. Zwischen evangelisch und katholisch wird da selten unterschieden - eine von außen diktierte Ökumene sozusagen. Es wird gefragt: Ist nicht gerade kirchlicherseits der Zugang von Frauen zu öffentlichen Ämtern verhindert worden? Wird nicht von Seiten der Kirche Verhütung abgelehnt? Sind es nicht die Kirchen, die ein enges Mutterbild á la Schiller vertreten: „Und drinnen waltet die züchtige Hausfrau, die Mutter der Kinder“? (Die Wortschöpfung „Gebärmaschine“ lässt grüßen…) Und sind es nicht die Kirchen, die selbstständigen und allein lebenden Frauen skeptisch gegenüberstehen, es sei denn, es handelt sich um eine Existenz im Kloster?

Frauen in der Evangelischen Kirche haben diesen Vorurteilen gegenüber viel erkämpft, aber auch viel erlitten. Und das müssen wir sagen: Mit vielen Frauen, gerade Frauenverbänden in der römisch-katholischen Kirche in unserem Land gibt es da eine große ökumenische Gemeinsamkeit.

Wenn unsere evangelische Kirche heute selbstverständlich davon ausgeht, dass Mann und Frau gleichermaßen zum Bilde Gottes berufen sind, dann ist das Ergebnis auch biblisch-theologischer Arbeit von Frauen. Wenn Spuren unbekannter biblischer Gestalten wie etwa Schifra und Puah entdeckt wurden, dann ist das Verdienst des Weltgebetstages. Wenn im Evangelischen Entwicklungsdienst Frauenprojekte bewusst gefördert werden, ist das dem Engagement von Frauen in den Geberländern zu verdanken. Wenn Genitalverstümmelung endlich Thema ist und ebenso Vergewaltigung als strategisches Vorgehen in Kriegszeiten, dann ist das dem Einsatz von Kirchenfrauen in der Bewegung „Frauen in schwarz“ zu verdanken. Wenn prägende Frauengestalten wie Mechthild von Magdeburg oder Elisabeth von Calenberg neu entdeckt werden, dann ist das Verdienst der historischen Frauenforschung. Martin Luther und die anderen Reformatoren haben mit dem Gedanken vom Priestertum aller Getauften bzw. Glaubenden einen Samen gelegt, von dem sie selbst sich wohl kaum vorstellen konnten, was er gerade für Frauen bedeuten würde...

Ja, es hat sich ungeheuer viel getan in unserer Kirche. Aber wenn es dann zu einem Thema kommt wie der Übersetzung der Bibel in eine Sprache, die der Präsenz von Frauen in Bibel, Kirche und Theologie gerecht wird, dann zeigt sich, wie dünn die Decke der Gemeinschaft von Frauen und Männern ist. Über eine Übersetzung mag gestritten werden, keine Frage, das ist jedem Übersetzer und jeder Übersetzerin sogar ein inhaltliches Anliegen. Und manches an dieser Übersetzung ist sicher streitbar. Aber das Schreckgespenst des „Feminismus“ scheint inhaltliche Auseinandersetzung gleich zum nahezu ideologischen Grabenkampf zu machen.

Wir feiern heute einen besonderen Gottesdienst. Gleich werden wir Frauen verabschieden, die lange Jahre  in der Evangelischen Frauenarbeit und der Evangelischen Frauenhilfe verantwortlich sowie in der Übergangszeit für beide Verbände gemeinsam leitend Verantwortung übernommen haben. Und wir werden neu verpflichten die Frauen, die gestern in der Mitgliederversammlung der Evangelischen Frauen in Deutschland in die Leitung des neuen Dachverbandes gewählt wurden. Das ist ein großer Schritt. Geküsst haben sich beide Verbände gewiss nicht von Anfang an. Druck von außen gab es, beide Traditionen zusammen zu führen. Aber sie haben – und das ist mutig und konstruktiv – erkannt, dass die  Grundanliegen gemeinsam sind, vor allem für Frauenrechte national und international einzutreten. Beiden Verbänden geht es darum, in Kirche und Gesellschaft Gerechtigkeit für Frauen einzufordern, das in diakonischen und wissenschaftlichen Projekten, in Stellungnahmen und Aktionen zu befördern, vor allem haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiterinnen fortzubilden und zu stärken. Ja, das ist immer wieder auf beachtliche Weise gelungen. Und es wird, davon bin ich überzeugt, auch in Zukunft mit geeinter Kraft gelingen.

Aber brauchen wir denn Frauenarbeit in der Evangelischen Kirchen noch? Wir haben doch inzwischen alles erreicht: Bischöfinnen gibt es und Kirchenvorstandsvorsitzende, inklusive Sprache und rechtliche Absicherung auch im Ehrenamt. Inzwischen werden schon Befürchtungen geäußert, Kirchenvorstand sei kein EHRENamt mehr, wenn es mehrheitlich von Frauen ausgeübt wird. Mehr Frauen heißt offenbar weniger Ehre. Und beim theologischen Nachwuchs machen so viele Frauen so gute Examina, dass befürchtet wird, der Pfarrberuf werde zum Frauenberuf und dadurch für Männer nicht mehr attraktiv. Interessante Analysen, finde ich…

Sind Frauenfragen überhaupt noch ein Thema, fragte mich letzte Woche eine Journalistin. Weltgebetstag hatten wir letzten Freitag, Weltfrauentag letzten Samstag. Sind das nicht Relikte aus einem alten Geschlechterkampf, der längst überwunden ist? Wir haben doch alles erreicht! Seit es „die Pille“ gibt, können Frauen bestimmen, ob und wann sie schwanger werden wollen. Unternehmen erkennen inzwischen, dass spezifische Stärken von Frauen, wie integrativer Führungsstil oder auch hohes Organisationstalent, genutzt werden können. Firmen entdecken in der Werbung, dass Frauen selbstständige Kundinnen sind. Die Parteien merken, dass Frauen nicht mehr da das Kreuzchen machen, wo „Papi“ sagt, dass es hin soll. Mona Lisa wird auch von Männern geguckt. Die Deutschen haben sich sogar an eine Frau als Bundeskanzlerin gewöhnt! Und meine vier Töchter verdrehen entnervt die Augen, wenn ich mit Frauenrechten komme. Also: alles gut, EMMA am Ziel, Alice Schwarzer kann in Frieden in Pension gehen. Keine Probleme mehr! Können wir nicht fröhlich lachend sagen: Das waren noch Zeiten, als wir über Frauenrechte sprachen?

In der Tat, viel ist erreicht, das müssen wir zugeben. Die Frauen in den Generationen vor uns habe mutig und tapfer Schritt für Schritt in unserer Kirche Wege erstritten, die Frauen den Raum gegeben haben, den das biblische Zeugnis ihnen gibt: gleichermaßen geschaffen zum Bilde Gottes. An eine von ihnen möchte ich heute erinnern, an Hilde Schneider. Gestern habe ich hier in Hannover die Trauerfeier für sie gehalten. Sie hat Schreckliches erlebt in ihrem langen Leben. An ihrem Meldebuch ist zu sehen, wie ihr die Menschenrechte nach und nach genommen werden, amtlich dokumentiert: zu Ihrem Vornamen wird „Sara“ hinzugefügt, aus „L“ wie lutherisch wird eine Jüdin, das „Pr“ für die preußische Staatsangehörigkeit wird durch „staatenlos“ ersetzt. Der Eintrag vom 15.10.41 “unbekannt nach Riga abgeschoben“ wird 1945 lapidar verändert in „KZ-Lager“ und es werden schlicht die nächsten Adressen von Hannover über Göttingen bis Bremerhaven eingetragen. Ein Leben als Datei. Zahlen, die nur ahnen lassen, welche Demütigungen, welche Schrecken und Qualen dahinter stehen. Was Hilde Schneider aus den Lagern schildert, in die sie geschickt wurde, erschüttert mich. Wir wissen, dass die KZs Orte des Grauens waren. Aber wenn ein Mensch dieses Grauen persönlich schildert, wird das Abstrakte zum Konkreten, berührt unser Herz.

Unsere Landeskirche und auch die Henriettenstiftung haben Schuld auf sich geladen an Hilde Schneider und anderen Menschen in der Zeit des Nationalsozialismus. An Menschen, die sie nicht besser geschützt, denen wir nicht besser geholfen haben.  Das gilt auch für die Zeit nach der Befreiung von 1945. Die Geschichten der Opfer wurden nicht gehört, sie wurden stumm gemacht. Dabei wissen wir heute, dass erst wenn die Opfer gehört werden und die Täter Schuld bekennen, Versöhnung möglich wird, die ein Leben ermöglicht für beide und für die nachfolgenden Generationen.

Es ist das Privileg der nachgeborenen Generationen, dass sie dazu eine größere innere Freiheit haben, als die unmittelbar verwobene. Aber ich wünsche mir, dass das Versagen unserer Kirche, Menschen jüdischer Herkunft oder jüdischen Glaubens in unserem Land, ja in unserer Kirche zu schützen vor Gewalt und Unrecht, eine Mahnung an uns heute ist, nicht wegzuschauen, sondern klar und widerständig einzutreten für andere. Ich frage mich manchmal, wie wohl unsere Schuld von kommenden Generationen aufgearbeitet werden wird, etwa mit Blick auf Flüchtlinge, die aus unserem Land abgeschoben werden…

Dass Hilde Schneider nach dem Krieg den Mut hatte, Theologie zu studieren, sich in den Dienst Gottes und der Kirche zu stellen, als Frau die Ordination anzustreben, ist ein Zeugnis für ihre innere Kraft und wiederum ein Gang auf eine dornenreiche Strecke. Es tut mir weh, zu lesen, wie bürokratisch unsere Landeskirche reagiert hat, wie der Entwurf für eine Dienstanweisung hin und her geschoben wird. Erklärt wird beispielsweise: „dass Vikarinnen nur in Notfällen den sonntäglichen Hauptgottesdienst halten können“. Eine Ordination kommt nicht in Frage, nur eine „Einsegnung“ dazu mit der Verpflichtung, bei einer Eheschließung aus dem Dienst auszuscheiden. Es wird von ihren „gesundheitlichen Belastungen“ nur als Anfrage an ihre Dienstfähigkeit geschrieben, nicht aber von der großen Chance, die in der Verkündigung liegt durch einen Menschen, der eine solche Lebenserfahrung in den Dienst bringt. Schließlich als Pastorin im Frauengefängnis in Frankfurt-Preungesheim wird sie ihr berufliches Ziel finden, ihre eigenen Erfahrungen machen sie zur besonderen Seelsorgerin. Ja, Hilde Schneider ist nicht nur Opfer, das Unrecht erlitten hat, sie ist auch Vorreiterin auf dem steinigen Weg von Frauen ins gleichberechtigte ordinierte Amt und Vorbild als Seelsorgerin für Frauen im Gefängnis.

Frauen sind in unserer Kirche gleichermaßen verantwortlich für die Gemeinde die Kirche, weil da nicht mehr männlich und weiblich ist, wie der Apostel Paulus schreibt. Gegenüber allen oft süffisanten, manchmal skeptischen Rückfragen, ob es einer expliziten Frauenarbeit noch bedürfe, müssen wir deutlich machen: noch lange ist nicht alles erreicht, um die Gerechtigkeit Gottes, von der Psalm 85 spricht, glanzvoll erkennbar zu machen. Gerade erst hat epd gemeldet, dass im vergangenen Jahr eine Million Italienerinnen Opfer von Gewalt wurden. Alle drei Tage wird eine Frau von ihrem Ehemann oder Partner getötet. Nur ein Prozent der Gewalttäter wird verurteilt. So weit ist Italien nicht… Gewalt gegen Frauen bleibt ein Thema, auch in unserer Kirche.

Und auch Diskriminierung. Gerade erst habe ich erlebt, wie angefragt wurde, ob eine Pastorin, weil sie schwanger ist, denn eine Stelle antreten könne, da werde jemand gebraucht, der oder die „voll leistungsfähig“ sei – die Anfrage kam übrigens von einer Frau. In Deutschland verdienen Frauen, so die ZEIT in ihrer jüngsten Ausgabe, im Durchschnitt 25% weniger als Männer. Und auch in unserer Kirche stellen Frauen zwar die Mehrheit der Arbeitnehmenden, aber auch die allergrößte Mehrheit bei den am schlechtesten bezahlten Arbeitsstellen. In vielen unserer Partnerkirchen kämpfen Frauen für die Anerkennung ihrer Rechte in Ehrenamt und ordiniertem Amt, gegen Genitalverstümmelung und Herabsetzung.

Wenn Evangelische Frauenarbeit mit Aktionen wie „Kauft keine Früchte der Apartheid“ und Evangelische Frauenhilfe in Deutschland mit ihrem Engagement in Sachen pränataler Diagnostik und Versöhnungsarbeit etwa in Polen sich zusammen finden unter dem Stickwort Gerechtigkeit und Frieden, dann ist das ein gutes Signal. Es steht in der Tradition vieler evangelischer Frauen, die sich in unserer Kirche für Recht und Gerechtigkeit, für Spuren des Shalom Gottes in dieser Welt engagiert haben und engagieren.

Aber noch einmal: ist solche Frauenarbeit noch nötig? Mir ist wichtig, dass wir als Frauen in der evangelischen Kirche, ob wir nun ordiniert sind oder nicht, ob hauptamtlich tätig oder nicht, etwas einbringen in unsere Kirche und Gesellschaft von der Liebe Gottes in diese Welt. Psalm 85 sagt: „Dein Land, Gott, liegt dir am Herzen“. Ja, Israel ist gemeint, das Land und Volk, das Gott besonders liebt. Aber wir dürfen das als Christinnen auch übertragen auf unser Land. Wie können wir die Freundlichkeit Gottes, die zugesagte Befreiung erfahrbar machen? Wie können wir von der Sehnsucht Gottes nach Gerechtigkeit sprechen, von der Gerechtigkeit, die, so der Psalm, vor Gottes Antlitz hergeht? Dabei geht es mir gerade um die junge Frauengeneration, die sich unter enormen Druck sieht, vorgegebenen Schönheitsidealen zu entsprechen. Mit ihnen gilt es zu buchstabieren, was der eigene Glanz, die von Gott gegebene Würde bedeuten.

Wir können es nur, wenn wir Spuren dieser Gerechtigkeit legen. Wenn unsere Kirche diese Gerechtigkeit spiegelt in einem bewussten Miteinander von Frauen und Männern, in dem jede und jeder die eigenen Gaben einbringen. Wenn wir eintreten für die Würde der Frau, die allein erzieht und nicht weiß, wie sie ihre Kinder versorgen soll. Wenn wir den Glanz der Würde Gottes in der Zwangsprostituierten sehen, die keine Recht hat, weil sie illegal in unserem Land lebt. Wenn wir Frauen, die sich unter dem Druck des Schönheitskultes sehen, der ihnen Diäten und Botox und Brustimplantate verordnet sagen: Du bist schön, von Gott geschaffen mit glanzvoller Würde so wie du bist. Wenn wir antreten gegen die Abschiebung von Frauen in Länder, in denen sie keine Sicherheit haben. Wenn wir aufschreien gegen das Unrecht, das Frauen angetan wird in unserem Land und noch viel mehr in Ländern des Südens. In dieser Tradition stehen wir seit biblischen Zeiten. Ihre fühlen wir uns verpflichtet auch für die Zukunft.

Wir können uns heute freuen an dem Erreichten. Wir drücken unsere Dankbarkeit aus gegenüber unseren Müttern im Glauben, die beide Verbände getragen haben und die Stimme der Frauen in unserer Kirche hörbar gemacht haben. Wir nehmen die Verpflichtung mit, in dem neuen Verband, in unserer evangelischen Kirche und als evangelische Frauen in unserem Land die Stimme zu erheben für Recht und Gerechtigkeit. Damit jede Frau im Land spüren mag: auch in mir glänzt die Würde, die Gott allen Menschen schenkt. Dazu gebe Gott uns Segen.

Amen.