Predigt in St. Marien, Berlin (1. Thessalonicher 5,1-11)

Wolfgang Huber

Viele haben es damals gehört; denn sie konnten es nicht überhören: das tausendfache Klirren zerberstender Fensterscheiben. Viele haben es gerochen; denn es ging nicht anders: den beißenden Geruch brennender Synagogen. Viele standen dabei, denn ihnen fehlte der Mut, als der Mob tobte, als SS und SA der Gewalt freien Lauf ließen. Das alles geschah heute vor siebzig Jahren, noch vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs, dem Vernichtungsplan der Wannseekonferenz, den Transporten nach Auschwitz und Birkenau. Aber all das war vorgezeichnet in jener Nacht, die den verletzenden Namen „Reichskristallnacht“ erhielt. Keiner konnte damals sagen, man habe nichts gewusst. Dennoch wird dieser Satz bis zum heutigen Tag wiederholt, in ehrlicher Meinung, gegen allen Augenschein.

Vielleicht können nur Zeitzeugen uns aus dieser Art von Apathie heraushelfen. Zeitzeugen wie Rolf Joseph, der mit seinen 88 Jahren von seinem damaligen Erleben erzählt. Auch den Zwiespalt zwischen Eltern und Kindern schildert er, der einem so oft begegnet, wenn man sich auf jene Zeit einlässt: „An diesem Tag wollte ich aus Deutschland fliehen“, erzählt er; er war 18 Jahre alt, als die Synagogen brannten. „Doch meine Eltern wollten ihrem Heimatland nicht den Rücken kehren.“

Rolf Joseph will am 9. November 1938 von Wedding, wo er wohnt, zum Ostbahnhof radeln, zur Berufsschule für Tischler. Am Alexanderplatz versperrt ihm eine Menschenmenge den Weg. „Kauft nicht bei Juden“ wird gerufen. Kurz darauf sind die Fenster des Juweliergeschäfts zerschlagen. Nun wird ohnehin nicht mehr gekauft; nun wird geplündert. Und so geht es an vielen Stellen der Stadt Berlin. Rolf Joseph rettet sich nach Hause, so schnell er kann, versteckt sich erst bei seinen Eltern, dann im Tegeler Wald. Als er zurückkommt, sieht er nur noch, wie seine Eltern auf die Ladefläche eines Lastwagens geprügelt werden. Er sieht sie nie wieder. Im KZ Theresienstadt werden sie ermordet.

Ein Schicksal unter vielen. Ein Schicksal des 9. November. Ein Schicksalstag ist er auch für unser Volk, der Tag, an dem 1918 die Republik ausgerufen und 1989 die Mauer geöffnet wurde. Aber im Jahr 2008 muss sich unser Blick auf das Dunkelste richten, was an diesem Tag geschah: Hass und Gewalt, Niedertracht und das Erblinden des Gewissens. Am 9. November 1938 verwüsteten SA und SS, die gewaltbereiten Stoßtrupps der Nazis, über 1.200 Synagogen sowie tausende Geschäfte und Wohnungen deutscher Juden. Kinder und Eltern, Alte und Junge, Arbeitskollegen und Nachbarn wurden in aller Öffentlichkeit gedemütigt und ausgegrenzt. Später gequält, misshandelt und ermordet. Jüdischer Herkunft zu sein, reichte nach der Ideologie der Nazis dafür aus. Viele standen dabei oder schauten weg, erschreckend viele. Einzelne erhoben mahnend ihre Stimme, hier in Berlin vor allem der katholische Dompropst Bernhard Lichtenberg und der evangelische Pfarrer Helmut Gollwitzer.

In den November-Pogromen von 1938 wurden wehrlose Menschen gedemütigt, gepeinigt und ermordet, Gotteshäuser geschändet und zerstört. Die schrecklichen Bilder von brennenden Synagogen haben sich in unser Gedächtnis gebrannt. Sie lehren auch heute: Wo es keinen Respekt vor dem Heiligen und dem für den menschlichen Zugriff Unverfügbaren gibt, dort gibt es auch keinen Respekt vor den Menschen.

Die November-Pogrome waren zugleich der Auftakt zum Holocaust, zu einer Epoche ungeahnter Zerstörung und Vernichtung, an deren Folgen Europa, die Welt und vor allem die jüdische Gemeinschaft noch heute zu tragen haben.

Das Leiden, die Einsamkeit und die Verzweiflung unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger jüdischen Glaubens erfüllen uns mit Bestürzung und Trauer.

Auf der Suche nach Wegweisung und Orientierung bergen wir uns im lebendigen Wort Gottes und hören auf den Predigttext für diesen Sonntag. Für den 9. November 2008 ist uns ein Abschnitt aus dem ersten Brief des Paulus an die Gemeinde in Thessaloniki vorgegeben.

Von den Zeiten und Stunden aber, liebe Brüder, ist es nicht nötig, euch zu schreiben; denn ihr selbst wisst genau, dass der Tag des Herrn kommen wird wie ein Dieb in der Nacht. Wenn sie sagen werden: Es ist Friede, es hat keine Gefahr -, dann wird sie das Verderben schnell überfallen wie die Wehen eine schwangere Frau und sie werden nicht entfliehen. Ihr aber, liebe Brüder, seid nicht in der Finsternis, dass der Tag wie ein Dieb über euch komme. Denn ihr alle seid Kinder des Lichtes und Kinder des Tages. Wir sind nicht von der Nacht noch von der Finsternis. So lasst uns nun nicht schlafen wie die andern, sondern lasst uns wachen und nüchtern sein. Denn die schlafen, die schlafen des Nachts, und die betrunken sind, die sind des Nachts betrunken. Wir aber, die wir Kinder des Tages sind, wollen nüchtern sein, angetan mit dem Panzer des Glaubens und der Liebe und mit dem Helm der Hoffnung auf das Heil. Denn Gott hat uns nicht bestimmt zum Zorn, sondern dazu, das Heil zu erlangen durch unsern Herrn Jesus Christus, der für uns gestorben ist, damit, ob wir wachen oder schlafen, wir zugleich mit ihm leben. Darum ermahnt euch untereinander und einer erbaue den andern, wie ihr auch tut.

Rätselhaft klingen diese Worte des Apostels Paulus. Sie kommen auch aus einer andern Zeit. Sie versetzen uns in eine nordgriechische Gemeinde in der allerersten Zeit der Christenheit. Zusammen mit Silas und Timotheus gründet Paulus, von Philippi kommend, die christliche Gemeinde in der Handelsmetropole Thessaloniki. Als Handwerker verdienen sie ihren Lebensunterhalt. Sie werben zugleich für die aufrüttelnde Botschaft von der das Leben verändernden Gegenwart Gottes. Sie können gar nicht anders, als von Jesus Christus zu reden. Nach und nach entsteht eine christliche Gemeinde. Sie ist so stabil, dass sie auch nach dem Fortgehen der Missionare bestehen bleibt. Dieser Gemeinde schreibt Paulus später aus Korinth, um sie im Festhalten am Evangelium zu bestärken. In seinem Brief reagiert er auf einen Bericht des Timotheus über einen nochmaligen Besuch in Thessaloniki.

Was war geschehen? Die ersten Glieder der christlichen Gemeinde waren gestorben. Aber sie hatten gedacht, sie würden alle noch zu ihren Lebzeiten die Wiederkunft Christi erleben. Eine tiefe Anfechtung. Paulus muss all seine Kraft zusammennehmen, um der Enttäuschung entgegenzutreten. Dass Gottes Kommen unverfügbar ist, muss er mit allem Nachdruck deutlich machen.

Um das Plötzliche und Unberechenbare der Wiederkehr Jesu Christi zu verdeutlichen, verwendet er zwei Beispiele. Der Tag des Herrn, so Paulus, kommt wie ein Dieb in der Nacht, niemand wisse wann. Der Vorstellung, man müsse diesen Tag herbeisehnen, tritt das Bild vom Dieb schroff entgegen. Wenn er da ist, ist er unentrinnbar; aber auf ihn freut sich niemand. Der Apostel spricht außerdem von den plötzlich einsetzenden Wehen bei einer Schwangeren. Auch sie sind nicht vorhersagbar. Doch wenn sie angefangen haben, gibt es kein Entrinnen mehr. Die messianischen Wehen künden das Neue an. Ebenso wie sich die Geburt nur durch den Schmerz der Wehen hindurch vollzieht, so kommt das Zukünftige erst nach den Leiden und Drangsalen der letzten Zeit.

Auch Christen gehen dem Gericht entgegen, wie einem Dieb in der Nacht, wie den unausweichlichen Wehen am Ende der Schwangerschaft. Aber sie müssen den Zorn Gottes in seiner vernichtenden Kraft nicht fürchten. Denn sie leben mit Christus. Sie sind Kinder des Lichts und des Tages.

Was bedeutet es heute, als Kinder des Lichts und des Tages zu leben? Wir fragen das am 9. November 2008, siebzig Jahre nach dem Grauen, das Rolf Joseph auch im Alter von 88 Jahren nicht vergessen kann.

Auch wir dürfen der Erinnerung nicht ausweichen. Aber wie sonst als im Licht der Klarheit Gottes wollen wir verstehen, was sich damals ereignet hat! Wie anders soll die Würde derer wieder aufgerichtet werden, die damals bis zum äußersten gedemütigt wurden, als im Licht der Klarheit Gottes selbst? Auf welchem anderen Boden sollte Hoffnung wachsen über den 8. November 1938 und über Auschwitz hinaus als auf dem Boden der Gnade Gottes? Unsere Scham bekennen wir, weil wir uns auf diesen Boden stellen. Unserer Verantwortung halten wir stand, weil wir sie im Licht der Klarheit Gottes sehen. Gemeinsam mit dem jüdischen Volk hoffen wir auf einen neuen Himmel und eine neue Erde und wollen mit ihm in der Kraft dieser Hoffnung für Gerechtigkeit und Frieden in der Welt beten und arbeiten.

Kinder von Juden, die den Zweiten Weltkrieg überlebt haben, so deutet der in den Niederlanden lebende Schriftsteller Leon de Winter dieses Geschehen, Kinder von Juden also wie der heute 88 Jahre alte Rolf Joseph haben erlebt, was Feindschaft ist. Sie wurden zu Feinden des Volkes erklärt, dem sie doch angehörten. Sie erlebten, wie ihre Eltern diese Feindschaft ignorierten und dort bleiben wollten, wo sie hingehörten. Aber das Dazugehören wurde ihnen bestritten. Sie erlebten, wie aufgebrachte Volksmengen sich gegen sie stellten, selbsternannte Vollstrecker des Volkswillen ihr Hab und Gut zerstörten, eine Geheime Staatspolizei sie deportierte.

Feindschaft ohne Motiv, so warnt Leon de Winter, kann auch heute, ja sie kann jederzeit wieder Einzug halten, auch mitten in Europa. Und während ich mit seiner Warnung ringe, fällt mir der Rabbiner ein, der im September 2007 auf offener Straße in Frankfurt am Main mit einem Messer angegriffen und schwer verletzt wird. Ebenso kommt mir der Rabbiner in den Sinn, der vor wenigen Tagen mit acht seiner Schüler in der Nacht durch Berlin fuhr. Sie sind durch ihre Kopfbedeckung und ihre dunkle Kleidung deutlich als Juden erkennbar. Sie gehören zu der jüdischen Gemeinschaft Chabad Lubawitsch. Die Männer aus England und den USA genießen Berlin als eine fremde Stadt und ahnen nichts Schlimmes. Plötzlich bremst der Wagen vor ihnen sie aus, nötigt sie, mit ihrem Kleinbus rückwärts zu fahren. Sie werden beschimpft und beleidigt. Ein brennender Gegenstand wird nach ihnen geworfen.

Die Attacke zeigt, dass der Antisemitismus auch in unserer Stadt immer wieder aufflackert. Dieser Fall ist nur einer von vielen. Immer wieder werden Denkmale mit Hakenkreuzen beschmiert oder Gräber beschädigt. „Jude“ gilt bei manchen Jugendlichen wieder als Schimpfwort.

Deshalb muss das, was damals geschah, auch der jungen Generation bewusst werden. Unsere Scham über die Gewalttaten von 1938 darf nicht verstummen. Aber unsere Erinnerung an die Reichspogromnacht 1938 würde ins Leere laufen, wenn wir sie nicht mit der Frage nach der praktischen Solidarität verbänden, die wir den in unserer Zeit zu Unrecht Verfolgten und den Opfern von Gewalt schulden. Leider sind Antisemitismus und Rassismus auch heute nicht überwunden. Auch in Europa prägen Ausgrenzung und Diskriminierung den Alltag vieler Menschen. Die Sünde der Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid der Anderen stirbt nicht aus. Allzu schnell legt sich der Schleier der Abgrenzung über unsere Augen und versperrt die Sicht auf das Antlitz des Nächsten.

Jedem Menschen, gleich welcher Hautfarbe, Volkszugehörigkeit oder Religion, ist das Bild Gottes eingeprägt. Keiner darf preisgegeben werden. Davon in Wort und Tat Zeugnis abzulegen, sind wir als Christen in besonderer Weise gefordert. Dabei darf Toleranz nicht als die Fortsetzung der Ratlosigkeit mit anderen Mitteln missverstanden werden.

Die Erinnerung an die Schreckensnacht und ihre Folgen ist gerade auch heute, da die Zeitzeugen allmählich verstummen, von großer Bedeutung. Mahnt sie uns doch, alles zu tun, um eine Gesellschaft in Freiheit und gegenseitiger Achtung zu gestalten, die sich ihrer Verantwortung vor Gott und den Menschen stellt.

Amen.