Predigt zu Josua 1, 5-9 zum Abschied von Dr. Dr. h.c. Hermann Barth und zur Einführung von Dr. Hans Ulrich Anke, Dr. Thies Gundlach und Dr. Christoph Thiele

Thies Gundlach

Es gilt das gesprochene Wort!


Gnade sei mit uns und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Amen

Liebe Gemeinde,

damals saß das ganze Volk am großen Fluss vor dem gelobten Land und keiner wusste so recht weiter. Mose war der unbestrittene Führer in die Freiheit gewesen, er hatte mit dem Pharao verhandelt, er konnte Plagen schicken und durchs Meer führen, er wusste den Weg durch die Wüste, er konnte Steine zu Wasser und Regen zu Manna machen. Aber jetzt waren sie allein und bestenfalls in Sichtweite des gelobten Landes. Und kaum wurde das allen bewusst, tauchten prompt wieder diese Stimmen aus der zweiten Reihe auf, die sagten: Wären wir doch bei den Fleischtöpfen Ägyptens geblieben! Und wie jeden Abend sammelte man sich ums Feuer. Der große Himmel über ihnen, das kleine Feuer vor ihnen und der weite Kummer in ihnen, wobei sie schon bald nicht mehr Mose, sondern sich selbst beweinten: Was nun? Was tun? Es wurde still am Feuer, das Holz knisterte, keiner sprach, die Stille wurde immer lauter.

"Wie ich mit Mose gewesen bin, so will ich auch mit dir sein. Ich will dich nicht verlassen noch von dir weichen. Sei getrost und unverzagt; denn du sollst diesem Volk das Land austeilen, das ich ihnen zum Erbe geben will, wie ich ihren Vätern geschworen habe. Sei nur getrost und ganz unverzagt, dass du hältst und tust in allen Dingen nach dem Gesetz, das dir Mose, mein Knecht, geboten hat. Weiche nicht davon, weder zur Rechten noch zur Linken, damit du es recht ausrichten kannst, wohin du auch gehst. Und lass das Buch dieses Gesetzes nicht von deinem Munde kommen, sondern betrachte es Tag und Nacht, dass du hältst und tust in allen Dingen nach dem, was darin geschrieben steht. Dann wird es dir auf deinen Wegen gelingen und du wirst es recht ausrichten. Denn siehe, ich habe dir geboten, dass du getrost und unverzagt seist. Lass dir nicht grauen und entsetze dich nicht; denn der HERR, dein Gott, ist mit dir in allem, was du tun wirst. (Josua 1, 5 - 9)

Liebe Gemeinde,

wir Evangelischen haben es ja nicht ganz so mit der Ämtersukzession. Zum Kummer mancher christlichen Geschwister geben wir lieber Aufgaben weiter als Rollen. Und im Kern auch noch immer die gleiche Aufgabe, allerdings eine wunderbare:

Die Verkündigung des Evangeliums, die Bezeugung der Güte Gottes, das Jubeln über Christus, diese ewige Medizin gegen Einsamkeit und Leere, gegen Sinnferne und Haltungsstarre. Und diese Sukzession der Aufgaben soll mit der Wahl des Predigttextes anklingen, denn heute vor fast 5 Jahren hat Hermann Barth sein Amt als Präsident angetreten mit einer Predigt zu eben jenem Text aus dem Josuabuch. Und es steht uns Jungen gut an, in dieser Kontinuität zu bleiben.

Vor allem wegen des Trostes, den dieser Text für jeden hat, der vor einem Schwellenschritt steht. Hier im Text ist es Israel, das vor dem Jordan steht als Grenze zwischen Wüstenwanderung und gelobtem Land. Aber weil mit der Formulierung, "die Neuen müssen jetzt mal über den Jordan gehen", wohl andere Assoziationen frei werden, belass ich es mal beim allgemeineren Stichwort: Schwellenschritte. Dafür gilt:

Denn siehe, ich habe dir geboten, dass du getrost und unverzagt seist. Lass dir nicht grauen und entsetze dich nicht; denn der HERR, dein Gott, ist mit dir in allem, was du tun wirst.

Auch dies können wir uns von Israel abgucken: Gott verheißt nicht Gelingen, sondern Mitkommen! Das Unverzagte gründet nicht im gelungenen Übersetzen oder im schnellen Ankommen, sondern in Gottes verlässlicher Gegenwart. Gottes Trost ist eine einkommensunabhängige Grundausstattung, keine erfolgsabhängige Zugewinngemeinschaft. Das schließt nicht aus, sondern ein, dass man sich um sicheres Übersetzen und qualitätsvolles Ankommen bemüht. Aber der von Gott genährte Mut hängt daran nicht. So wenig Israel am Jordan ankam aufgrund seines überragenden Orientierungssinnes, so wenig wird jemand geradewegs in ein neues Aufgabenland einmarschieren. Das macht die Sache keineswegs leichter; aus stilleren Gesprächen mit mir selbst und mit anderen weiß ich, dass man dann doch immer mal wieder an den Lagerfeuern des Zitterns und in den Schweigestunden des Zagens ankommt. Einen angeschlagenen Boxer gibt es keineswegs nur bei den anderen, eine ehrliche Seele weiß immer auch gute Gründe, zurück zu den Fleischtöpfen Ägyptens zu wollen!

Deswegen durch allen Zufall und Zweifeln hindurch: Der Ruf zum Übersetzen über den Jordan ist - auch dies kann man bei Israel lernen - immer eine Mischung aus Glück, Gelegenheit und Gefüge, aber es ist ein Ruf der Kirche, eine vocatio externa, hätten die Alten gesagt, ein Auftrag, der weder vom inneren Zustand abhängt noch von den äußeren Umständen des Zustandekommens. Sondern durch alles Vordergründige hindurch kommt dieser Ruf aus der Tiefe des Raumes, aus der Weite des Wortes:

Siehe, ich habe dir geboten, dass du getrost und unverzagt seist. Lass dir nicht grauen und entsetze dich nicht; denn der HERR, dein Gott, ist mit dir in allem, was du tun wirst.

Nur, liebe Gemeinde, damit ist ja noch lange nicht gesagt, wie man ans andere Ufer kommt; eine der weisesten und tiefsinnigsten Geschichten, die ich jenseits der Bibel kenne, hilft bei der Antwort:

Es waren einmal zwei Wüstenmönche, ein junger und ein alter, die wanderten seit Jahren gemeinsam durch das felsige und trockene Wüstengebiet im heutigen Syrien. Eines Tages trafen sie auf eine Frau, die hilflos vor einem sog. Wadi stand, also einem Flussbett, das normalerweise vollkommen ausgetrocknet ist, das aber bei Regen sehr schnell zu einem reißenden Strom werden kann. Die Frau traute sich nicht, allein durch den Fluss zu gehen und bat die beiden Mönchen, ihr zu helfen und sie hinüber zu tragen. Der junge Mönch begann daraufhin mit einer sehr höflichen und sehr ausholenden Entschuldigung, warum es ihnen als heiligen Männern unmöglich sei, eine Frau zu berühren, dass sie zwar außerordentlich gern behilflich wären, da doch auch unser Herr Jesus Christus die Hilfe für den Nächsten als einen herausragenden Dienst des Glaubens angesehen habe, dass sie aber leider durch ihr Gelübde gebunden seien in Herz und Gewissen, niemals eine Frau zu berühren, und dass sie daher keinesfalls Hand an sie legen und sie hinübertragen könnten, denn der Bruch des Gelübdes sei eine schwere Sünde und sie selbst könne doch nicht wollen, dass die beiden Mönche zu dieser Sünde gezwungen werden usw. usf. Aber noch während der junge Mönch so vor sich hin sprach und sich selbst rechtfertigte, packte der Alte die Frau, setzte sie auf seine Schultern und trug sie hinüber zum anderen Ufer.

Der Junge war stocksauer, nicht nur weil der Alte sich offenbar nicht um das Gelübde scherte, sondern weil er ihn außerordentlich dumm dastehen ließ. Er, der Jüngere und Kräftigere, quasselt vor sich hin, aber der Alte packt zu und hilft. Nachdem die Frau sich wortreich bedankt hatte und ihres Weges gezogen war, gingen auch die beiden Mönche weiter. Aber der Junge sprach kein Wort mit dem Alten, stundenlang nicht. So gingen die beiden den ganzen Tag, schweigend, grummelnd, stumm. Abends machten sie sich wie immer ein kleines Feuer, erwärmten sich und das bisschen Essen, das sie erbettelt hatten, aßen sie schweigend. Noch immer war kein Wort zwischen ihnen gefallen. Aber gerade als der junge Mönch sich kommentarlos wegdrehen wollte, um zu schlafen, sagte der Alte: "Trägst Du sie immer noch?"

"Trägst du sie immer noch?" Was für eine Frage? Denn mal ehrlich, wie viele Kränkungen und Enttäuschungen, wie viel Empörungen und Verletzungen tragen wir so durch unsere Tage, durch unsere Familien, durch unsere Berufe? Oder umgekehrt: Wie gut können wir loslassen, wie gut können wir Dinge auf sich beruhen lassen, wie gut können wir Unrecht hinnehmen und Enttäuschungen wegstecken? "Trägst Du sie immer noch?", die Empörung über den anderen, der dir irgendwann mal auf die Füße getreten ist? "Trägst Du sie immer noch?", die Kränkung darüber, dass Du nicht hinreichend gelobt oder gefördert, geachtet oder ins Recht gesetzt wurdest? Ich kenne Menschen, deren Seele hat keinen Abfluss für Enttäuschungen, die kennen keine Bestattung für Verletzungen. "Trägst du sie immer noch?"Tragen wir noch etwas durch die Wüste des Alltages?

Siehe, ich habe dir geboten, dass du getrost und unverzagt seist. Lass dir nicht grauen und entsetze dich nicht; denn der HERR, dein Gott, ist mit dir in allem, was du tun wirst.

Einübung ins Christentum (Sören Kierkegaard) ist auch Einübung in die Kunst des Loslassens. Unsere Aufgabe war und ist immer auch der freie Blick auf eine neue Landschaft. Schwellenschritte sind unsere Lieblingsübung, von Haus aus sind wir gern Kundschafter in fremden Ländern, in fremden Sprachen, in fremden Bildern. Klammern an Strukturen, Festhalten am Gewohnten, Vermeiden von Neuem, - das ist eigentlich nicht so unsere Art. Natürlich: Aufbruch und Reformen nicht um jeden Preis! Aber auch nicht: um keinen Preis! Sondern Gott dem Menschen nahe bringen, auch drüben, jenseits des Flusses. Die einen nennen das kritisch Zeitgeistnähe, und warnen uns damit vor blinder Gegenwart; die anderen nennen es Traditionslosigkeit und warnen uns vor schwerer Amnesie. So richtig beide sind: die Sorgenfalten im Beffchen und die Bedenkenlinien in der Halskrause lassen mich manchmal fürchten, dass wir Gott die Zukunft gar nicht mehr zutrauen, die er uns verheißen hat! Es bleibt doch seine Welt, auch wenn sie neu und ungewohnt und jenseits des Flusses ist! Wir waren als Protestanten mal die Vorreiter einer unbekannten Gesellschaft, haben stellvertretend für viele in der Christenheit die Angst vor der Wissenschaft vertrieben und die Skepsis vor Technik verkleinert.

Sicher, wir sind auch mitunter zu unkritisch, aber es bleibt gültig: Mitunter muss man eben die Frau nehmen und über den Fluss tragen.

Siehe, ich habe dir geboten, dass du getrost und unverzagt seist. Lass dir nicht grauen und entsetze dich nicht; denn der HERR, dein Gott, ist mit dir in allem, was du tun wirst.

Manchmal treibt mich die Sorge um, liebe Gemeinde, dass wir uns alle viel zu wohl fühlen in der Rolle des jungen Mönches, der viel redet, wenig sagt, aber insgesamt diesseits des Flusses bleibt. Manchmal erinnert mich das jüngst so strapazierte Stichwort von der Alternativlosigkeit dieser oder jener Entscheidung, dieses oder jenes Rettungsschirmes, dieses oder jenes Großprojektes daran, dass Alternativlosigkeit auch eine Form der Mutferne ist. Darum bin ich fest davon überzeugt, dass wir diesen protestantischen Geist des Aufbruches, diese reformatorische Freiheitssehnsucht dringend brauchen, sonst stehen wir noch in hundert Jahren am Fluss und erklären, warum wir niemandem rüberhelfen können. Das sollte der Glutkern unseres Reformationsjubiläums 2017 sein: eine weltweite Feier des wiederentdeckten Evangeliums, die alle einlädt. Denn egal, welche der Herausforderungen wir ins Zentrum stellen, ob wir an die ökumenische Situation oder an den Dialog der Religionen denken, ob wir an die Suche nach einer neuen Sprache für Gott denken oder an die Gerechtigkeit, die ein Volk erhöht, - wenn wir uns am Feuer der Reformation wärmen, wird den Sorgen Einhalt geboten und die Bedenken in Schach gehalten. So eine Ökumene der Gaben wünsche ich mir: Jeder trägt seine besonderen Gaben ein in die ökumenische Gemeinschaft, selbstbewusst und zugewandt, unverzagt und einladend. Denn so kann man die Gaben des anderen würdigen. Und für mich gehören zu unseren evangelischen Gaben die Ermutigung zum Überschritt, hinein in neue Milieus, in neue Lebensstile, in neue Fragestellungen, in neue Öffentlichkeiten, mit Neugier auf jene Menschen, die längst schon auf der anderen Seite des Flusses wohnen, mit Neugier auf ihre Sprache, ihren Kummer, auch ihren Glauben. Denn ich bin gewiss, wir können uns jenseits des Flusses gar nicht so verlaufen, dass Gott uns nicht wiederfindet. Und weil das so ist, enden meine Gedanken zum Schwellenschritt auch nicht bei unserem Mut, sondern bei Seinen Engeln:

Lieber Gott, sage dem Engel an der Pforte des Alten,
er möge mich gehen lassen
und mich ermutigen, auch wenn ich zögere.

Und, lieber Gott,
sage dem Engel an der Pforte des Neuen,
er möge auf mich warten
und nicht weggehen,
auch wenn ich etwas länger brauche.

Und, lieber Gott, sage dem Engel des Überganges,
er möge mich segnen, wenn ich losgehe,
er möge mich halten, wenn ich stehen bleibe,
er möge mich trösten, wenn ich stolpere
und mich begrüßen, wenn ich ankomme.
Dass ich lache, wenn ich da bin.

Amen.