Einführung anlässlich des Ökumenischen Gottesdienstes zur Eröffnung der Woche für das Leben am 7. Mai 2011 in der Heilig-Kreuz-Kirche, Berlin-Kreuzberg

Robert Zollitsch

- Es gilt das gesprochene Wort. -

Meine lieben Schwestern und Brüder,

wir sind heute bewusst hier in dieser imponierenden Kirche ‚Zum Heiligen Kreuz‘ zusammen gekommen, um die Woche für das Leben feierlich zu eröffnen. Die Frage, warum wir diesen Ort in Kreuzberg für den ökumenischen Gottesdienst gewählt haben, lässt sich anhand der eben gehörten, eindrucksvollen Erzähl-Impulse sehr leicht beantworten: Inmitten unserer sozial und kulturell sehr vielschichtigen Hauptstadt stellt diese Kirche, die schon wegen ihrer markanten Architektur Aufmerksamkeit weckt, einen wahren Zufluchtsort dar. Die unterschiedlichsten sozialen Angebote sind hier angesiedelt.

Zu Recht erwartet man natürlich hier zunächst einen Ort für Gottesdienste, Andachten und Gebete. Die Heilig-Kreuz-Kirche wird diesem Anspruch ja auch gerecht. Deshalb sind wir in dieser Stunde hier versammelt: Wir feiern gemeinsam Gottesdienst. Das Geheimnis von Tod und Auferstehung unseres Herrn steht uns kurz nach Ostern besonders deutlich vor Augen. Gottesdienste sind immer auch Ausdruck des Dankes für die Verlässlichkeit unseres Gottes und seine Fügungen in unserem Leben. Eine Kirche wird in einer sehr schönen Bezeichnung ‚das Haus Gottes‘ genannt. Das ist ihre erste Bestimmung.

Der offene Kirchenraum mit der Empore und den umliegenden Büros lässt hier sichtlich erahnen, dass es noch mehr gibt. Wie wir eben schon gehört haben, kümmert man sich an der Heilig-Kreuz-Kirche noch in anderer Weise um Menschen – beispielsweise um Menschen, die kein Dach über dem Kopf haben. Auf der Internetseite der Kirche kann man unter dem Stichwort ‚Wärmestube‘ lesen: „Kaffee, Tee, belegte Brote, Kuchen und Suppe gibt es umsonst sowie Kleidung und Bücher. Um 13 Uhr öffnet die Arztsprechstunde (auch für Patienten ohne Krankenversicherung)“.

Oder aber man findet Hinweise auf eine Beratung für Flüchtlinge. Es werden die Tafeln und Kleiderkammern unterstützt, man besucht die Neugeborenen und ihre Eltern. An diesem Ort ist mitten in der Großstadt christliche Gemeinde lebendig.

Es bedarf keiner besonderen Bibelfestigkeit, um die dazu passenden Worte im Matthäus-Evangelium zu finden, wo es innerhalb der so genannten Gerichtsrede in Kapitel 25, Vers 35 heißt: „Denn ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich aufgenommen“.

Uns Christinnen und Christen ist dies als Auftrag mitgegeben. Der Einsatz für Menschen in Not und sozialer Isolation hat etwas mit unserem Glauben zu tun. Darauf weist nicht nur die Gerichtsrede des Matthäusevangeliums hin. Das diesjährige Plakat der Woche für das Leben mit seiner eindrucksvoll vor Augen geführten Symbolik des geteilten Schirmes ist – das haben Sie natürlich längst erkannt – der Legende vom Heiligen Martin entnommen. Der junge Taufbewerber Martin begegnet als Soldat hoch zu Ross am Stadttor von Amiens einem frierenden Bettler und schenkt ihm die Hälfte seines Mantels.

In diesem Jahr beginnt ein neuer DreiJahresZyklus der ökumenischen Aktion Woche für das Leben, die inzwischen seit mehr als 20 Jahren besteht. Die gemeinsam von Deutscher Bischofskonferenz und Evangelischer Kirche in Deutschland getragene Woche für das Leben will einen Beitrag zur Achtung des Wertes und der Würde des menschlichen Lebens und seinem Schutz in allen Lebensphasen und jeder Lebenssituation leisten.

Der DreiJahresZyklus 2011–2013 steht unter dem Motto „Engagiert für das Leben“. Als Jahresmotto für 2011 wurde gewählt: „Einsatz mit Gewinn“. Dieses durchaus doppeldeutige Jahresmotto soll den Gedanken stark machen, dass trotz aller notwendigen und in unserem Land auch weitgehend gut funktionierenden, professionellen Sozialsysteme der Einsatz und das Engagement von Menschen darüber hinaus notwendig sind, um ein Miteinander human zu gestalten. Die sozialen Netze in Nachbarschaften, Vereinen und Verbänden, Schulen, Pfarr- und Kirchengemeinden, Angebote wie wir sie hier unmittelbar an die Kirche angebunden vorfinden, halten unsere Gesellschaft zusammen. Dieser oftmals unentgeltliche Einsatz ist in der Tat ein Gewinn. Er ist ein Gewinn für diejenigen, die aus welchen Gründen auch immer, nicht von den professionellen Sozialstrukturen erfasst werden oder, wo diese nicht ausreichen, mehr Hilfe brauchen. Und er ist ein Gewinn für die Menschen, die sich kümmern.

Papst Benedikt XVI., der ja im Herbst auch in dieser Stadt sein wird, hat bei einem Besuch vor einigen Jahren in Wien bezüglich des unentgeltlichen Einsatzes von vielen Menschen auf etwas Entscheidendes hingewiesen, wenn er sagt: „Wenn im konkreten Menschen, dem wir begegnen, Jesus gegenwärtig ist, dann kann ehrenamtliches Tätigsein zur Gotteserfahrung werden. Die Anteilnahme an den Situationen und Nöten der Menschen führt zu einem ‚neuen‘ Miteinander und wirkt sinnstiftend. So kann das Ehrenamt helfen, Menschen aus der Vereinsamung herauszuholen und in Gemeinschaften hineinzuführen.“

Der Einsatz ist ein ‚Einsatz mit Gewinn‘ für alle Seiten. Die Martinsgeschichte lehrt uns aber auch: eine Herausforderung für unser Christsein kann uns buchstäblich an jeder Ecke begegnen. Denn es war Christus selbst, der Martin in der darauffolgenden Nacht im Traum erschienen ist: Christus war mit eben jenem Mantelstück bekleidet, das Martin dem Bettler geschenkt hatte. Der Gewinn eines Einsatzes für andere sieht vielleicht nicht so aus, wie man ihn erwartet. Aber als Christen sind wir der festen Überzeugung, dass er reichlich Früchte trägt.