Predigt in der Frauenkirche Dresden über Mk 9,14-23

Erzbischof Dr. John Sentamu

14 Und sie kamen zu den Jüngern und sahen eine große Menge um sie herum und Schriftgelehrte, die mit ihnen stritten. 15 Und sobald die Menge ihn sah, entsetzten sich alle, liefen herbei und grüßten ihn. 16 Und er fragte sie: Was streitet ihr mit ihnen? 17 Einer aber aus der Menge antwortete: Meister, ich habe meinen Sohn hergebracht zu dir, der hat einen sprachlosen Geist. 18 Und wo er ihn erwischt, reißt er ihn; und er hat Schaum vor dem Mund und knirscht mit den Zähnen und wird starr. Und ich habe mit deinen Jüngern geredet, dass sie ihn austreiben sollen, und sie konnten's nicht. 19 Er aber antwortete ihnen und sprach: O du ungläubiges Geschlecht, wie lange soll ich bei euch sein? Wie lange soll ich euch ertragen? Bringt ihn her zu mir!

20 Und sie brachten ihn zu ihm. Und sogleich, als ihn der Geist sah, riss er ihn. Und er fiel auf die Erde, wälzte sich und hatte Schaum vor dem Mund. 21 Und Jesus fragte seinen Vater: Wie lange ist's, dass ihm das widerfährt? Er sprach: Von Kind auf. 22 Und oft hat er ihn ins Feuer und ins Wasser geworfen, dass er ihn umbrächte. Wenn du aber etwas kannst, so erbarme dich unser und hilf uns! 23 Jesus aber sprach zu ihm: Du sagst: Wenn du kannst – alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt. 24 Sogleich schrie der Vater des Kindes: Ich glaube; hilf meinem Unglauben!

25 Als nun Jesus sah, dass das Volk herbeilief, bedrohte er den unreinen Geist und sprach zu ihm: Du sprachloser und tauber Geist, ich gebiete dir: Fahre von ihm aus und fahre nicht mehr in ihn hinein! 26 Da schrie er und riss ihn sehr und fuhr aus. Und der Knabe lag da wie tot, sodass die Menge sagte: Er ist tot. 27 Jesus aber ergriff ihn bei der Hand und richtete ihn auf, und er stand auf.

28 Und als er heimkam, fragten ihn seine Jünger für sich allein: Warum konnten wir ihn nicht austreiben? 29 Und er sprach: Diese Art kann durch nichts ausfahren als durch Beten.

Und sie kamen zu den Jüngern und sahen eine große Menge um sie herum und Schriftgelehrte, die mit ihnen stritten.

Der Kontrast zwischen unserem Predigttext und den vorangehenden Versen im Markusevangelium ist überwältigend: wir bewegen uns vom Berg der Verklärung hinab zur melancholischen Geschichte über das Werk des Teufels. Wir kommen herab vom Anblick der Herrlichkeit zu einem Konflikt über satanische Besessenheit. Wir tauschen die gesegnete Gemeinschaft von Mose und Elia mit der unhöflichen Schlagfertigkeit von selbstsicheren und selbstzufriedenen Schriftgelehrten.

Wir verlassen den Vorgeschmack der Herrlichkeit und die feierliche Stimme Gottes des Vaters, die den Sohn Gottes bezeugte, und wir kehren einmal mehr zurück zu einer Szene des Schmerzes, der Schwachheit und des Elends – zu einem Jungen in körperlicher Agonie, zu einem Vater in tiefer Verzweiflung und nicht zuletzt zu einer kleinen, kläglichen Jüngerschar, völlig perplex angesichts der satanischen Macht und außerstande, hier Linderung zu verschaffen.

Das ist genau das, was Petrus vermeiden wollte! Oben auf dem Berg, in Gegenwart der Herrlichkeit, hatte Petrus gesagt: „Hier ist für uns gut sein.“ (Mk 9,5). Hier wollte er drei Hütten bauen für Jesus, Mose und Elia und wollte an diesem Platz bleiben. Das Leben da oben war so viel besser, so viel näher bei Gott. Warum sollte er von da wieder hinab steigen? Aber es ist wohl das Wesentliche des Lebens, dass wir vom Gipfel des Berges stets wieder hinabsteigen müssen. Es ist zwar wesentlich, engen Kontakt zu Gott zu halten – denn das vereinfacht es, mit den Anforderungen unseres Lebens klarzukommen. Aber Einsamkeit ist nicht dafür gedacht, dass wir uns dauerhaft zurückziehen.

Der Gegensatz zwischen dem Gipfel des Berges und dem Tal da unten ist gewaltig. Aber er ist zugleich nur ein blasser Kontrast verglichen mit dem Wechsel, den Jesus, das fleischgewordene Wort Gottes, freiwillig unternahm, als er seine Herrlichkeit ablegte und stattdessen in diese Welt kam. Dieser Gegensatz ist aber auch ein anschauliches Bild für das Leben aller Nachfolger Christi. Stets wird der Alltag des irdischen Lebens für sie – genau wie für ihre Herrn und Meister – bestimmt sein durch Arbeit, Konflikte, Momente der Schwäche und des Schmerzes. Auch für die Nachfolger Christi werden die Visionen der Herrlichkeit, der Vorgeschmack des Himmels, die Momente auf dem Berg der Verklärung die Ausnahme bleiben.

Darum lasst uns zuerst aus unserem Text lernen, wie abhängig alle Nachfolger Jesu Christi von der Nähe und der allgegenwärtigen Hilfe ihres Herrn und Meisters sind.

Diese Wahrheit sehen wir in unübertrefflicher Weise ans Licht gebracht in der Szene, die sich unserem Herrn dartut, als er vom Berg der Verklärung herab kommt. Wie schon Mose, als dieser vom Berg Sinai herunterkommt, trifft unser Herr jetzt auf eine kleine und verwirrte Herde. Er findet seine neun Apostel umlagert von einer Gruppe von vorwurfsvollen und zynischen Schriftgelehrten. Überdies sind die Jünger wegen ihrer Unfähigkeit, einen von einem unreinen Geist besessenen Jungen zu heilen, zutiefst verunsichert.

Eben diese Jünger, die noch kurz zuvor viele Wunder getan und viele Dämonen ausgetrieben hatten, stehen nun vor einem für sie unlösbaren Fall. Sie lernen gerade durch eine demütigende Lektion: „Ohne mich könnt ihr nichts tun!“ (Joh 15,5). Wie schnell vergessen doch auch wir die wichtige Lektion, dass wir ohne Christus nichts zu tun vermögen.

Die grundlegende Auseinandersetzung mit der Finsternis und die Sünde Adams ist ein alltäglicher Prozess. An jedem neuen Tag müssen wir uns aufmachen, Jesus Christus zu einhundert Prozent für uns zu wählen. Wir können uns nicht zerteilen. Jesus sagt: Jedes Reich, das mit sich selbst uneins ist, wird verwüstet (Mt 12,25). Ein treuer Jünger muss täglich sein Kreuz auf sich nehmen und mir nachfolgen“ (Lk 9,23). Die Entscheidung ist total. Sie fällt täglich, Stunde für Stunde, Minute für Minute, Sekunde für Sekunde.

Warum ist das so? Weil – wie Clemens von Alexandrien, ein Bischof aus dem 2. Jahrhundert, mit einem verblüffenden Satz sagte – ein wahrer Christ sich darin übt, Gott ebenbildlich zu sein. Denn ein Heiliger ist ein Mensch, in dem Christus von neuem lebt. Der beste Gottesbeweis kommt nicht durch logische Argumente, sondern aus einem Leben in der Liebe, einem Leben, das sich Christus ganz hingegeben hat.

Die Heiligen der Vergangenheit haben keine Herrlichkeit und keine Kraft aus sich selbst heraus, sie haben nichts außer dem, was sie von Christus in der Kraft des Heiligen Geistes empfangen haben. Wenn sie sich auch nur für eine kurze Zeit von ihrem Herrn abwandten, merkten sie sehr schnell, dass ihre geistliche Kraft verschwunden war. Wie Samson, als sein Haar abgeschnitten war, waren auch die Heiligen plötzlich so schwach wie jede andere Person.

Unser Herr war bereit, sein Kreuz zu tragen, und er war auch bereit, den alltäglichen Problemen zu begegnen – wie es gerade kam. Er konnte gelassen dem Kreuz entgegengehen und behandelte die täglichen Katastrophen des Lebens ebenso ruhig. Der Grund dafür war, dass er seinen Kontakt zu Gott, seinen Vater, nicht wie so viele von uns für die Krisen des Lebens schonte, sondern er ging seinen täglichen Weg mit ihm in vollkommenem Vertrauen und Gehorsam.

Lasst uns eine Lektion der Demut aus dem Versagen der Jünger lernen. Lasst uns darauf hinwirken und erkennen, dass wir tagtäglich unseren Bedarf an Gnade und Gegenwart Jesu Christi brauchen. Mit ihm vermögen wir alles zu tun. Ohne ihn vermögen wir überhaupt nichts zu tun. Mit ihm können wir vielleicht die großen Versuchungen überwinden. Ohne ihn kann uns die geringste Versuchung überwinden. Darum möge unser Gebet jeden Morgen, jede Stunde, jede Minute, jede Sekunde sein: Lass uns nicht allein – denn wir wissen nicht, was dieser Tag bringen mag – wenn DEINE Gegenwart nicht bei uns ist, können wir nicht voranschreiten.

Lasst uns, zweitens, aus unserem Predigttext lernen, wie früh im Leben wir von satanischen Mächten verletzt werden können. Wir lesen hier eine beängstigende Beschreibung des Elends, das der Teufel dem jungen Mann aufgezwungen hatte, von dem hier berichtet wird. Und wir erfahren, dass ihn diese unkontrollierbaren Anfälle bereits seit seiner Kindheit begleiten.

Die Lehre für uns alle ist: wir müssen uns darum mühen, unseren Kindern von Kindesbeinen an Gutes widerfahren zu lassen. Wenn der Teufel sie so früh schon verletzen kann, dann müssen wir noch früher kommen und sie zu Christus führen. Es ist nie zu früh, sich anzustrengen und für die Rettung von Kinderseelen zu beten. Es ist nie zu früh, Kinder als moralische Wesen anzusprechen, geschaffen als Bildnis und Ebenbild Gottes. Es ist nie zu früh, Kindern von der Guten Nachricht Gottes in Christus zu erzählen, was recht ist und was falsch.

Der Teufel, da können wir uns drauf verlassen, verliert keine Zeit, wenn es darum geht, den Verstand der jungen Generation zu beeinflussen. Er beginnt damit schon in der Kindheit. Darum lasst uns hart dafür arbeiten, die dunklen Mächte zu unterbrechen. Denn wenn junge Herzen schon vom Teufel ergriffen werden können, so können sie auch überreichlich mit dem Heiligen Geist gefüllt werden. Johannes der Täufer, so lesen wir in Lukas 1,41f., hüpfte in Marias Leib vor Freude!

Lasst uns, drittens, von unserem Predigttext lernen, wie Glaube und Unglaube in ein und demselben Herzen vermischt sein können. Die Worte des Vaters des jungen Mannes bringen diese Wahrheit in anrührender Weise vor uns, als der Vater schreit: Ich glaube; hilf meinem Unglauben!

In diesen Worten erkennen wir ein ausdrucksstarkes Bild für die Herzen vieler Nachfolger Jesu Christi. Unter Gläubigen gibt es gewiss nur wenige, in denen Vertrauen und zugleich ein hinterfragender Glaube, in denen Hoffnung und Furcht nicht Seite an Seite existieren. Nichts ist völlig geheiligt in einem Kind Gottes, solange es körperlich in dieser Welt lebt. Gottes Kinder sind gerettet, sie werden gerettet, und sie werden auch in Zukunft gerettet werden. Ihr Wissen, ihre Liebe und Demut – alles ist mehr oder weniger verfärbt und vermischt mit Verunreinigungen und der Sünde Adams. Und wie es sich mit anderen Geschenken Gottes, die er uns frei austeilt, auch verhält, so ist es auch mit ihrem Glauben: sie glauben, und doch haben sie einen Rest an Unglauben.

Was sollen wir nun anfangen mit unserem Glauben? Wir müssen ihn gebrauchen! Mag er nun schwach, zitternd, zweifelnd oder kläglich sein – wir müssen ihn dennoch gebrauchen. Wir dürfen nicht warten bis unser Glaube großartig, perfekt oder machtvoll erscheint, sondern wir müssen ihn in Gebrauch nehmen wie der Vater in der vorliegenden Geschichte – und wir können hoffen, dass unser Glaube eines Tages stärker geworden sein mag – er schrie: Ich glaube!

Was wir brauchen ist nicht ein großer Glaube, sondern Glauben in einen großen Gott. Unser Glaube muss nur so groß sein wie ein Senfkorn (Lk 17,6).

Glaube und Unglaube, Zweifel und Ängste sind für immer in uns. Es ist das Höchste auf unserer spirituellen Wanderschaft, dass wir lernen, dass ein tief Gläubiger sowohl an seinen inneren Glaubenskämpfen wie auch an seinem inneren Frieden erkannt werden kann.

Viertens, lasst uns von unserem Predigttext die Ursachen des Versagens lernen. Die Jünger sind zwar mit Macht ausgestattet worden, aber um diese zu aufrecht zu erhalten, bedurfte es des Gebets und der Nähe Gottes. – Und er sprach: Diese Art kann durch nichts ausfahren als durch Beten.

Gott mag uns mit einer Gabe ausgestattet haben, aber ohne engen Kontakt zu ihm kann diese Gabe auch verkümmern und sterben. Das gilt wohl für jede Gabe.

Ohne engen Kontakt zu Gott werden wir zwei Dinge verlieren, egal wie groß unsere individuelle Gabe sein mag:

  1. Wir verlieren Lebenskraft. Wir verlieren diejenige lebendige Kraft, das gewisse Extra, das für wahre Größe sorgt. Unsere Lebenskraft wird dann zu einer Leistung anstelle von Hingabe an Gott. Was ein vitaler, lebendiger Körper sein sollte, wird stattdessen zu einem schönen Leichnam.
  2. Wir verlieren Ergebenheit und Demut. Was zu Gottes Ehre benutzt werden sollte, beginnen wir für uns selbst zu nutzen. Damit verliert unser Tun an Tugendhaftigkeit. Was dazu hätte benutzt werden sollen, Gott vor andere zu stellen, wird dann dazu benutzt, uns selbst vor andere zu stellen. Damit ist der Hauch von Anmut und Schönheit dahin.

Die Jünger waren direkt von Jesus mit Macht ausgestattet worden. Aber sie hatten es versäumt, diese Macht durch Gebet wachsen zu lassen, darum verließ sie die Macht. Was auch immer Gott uns für Gaben gegeben hat – wir verlieren sie, wenn wir sie für uns selbst benutzten. Doch wir behalten sie, wenn wir sie durch unentwegten Kontakt mit Gott, der uns diese Gaben schenkte, fördern.

Zum Schluss: lasst uns lernen und lasst uns die Oberherrschaft erkennen, die unser Herr ausübt über den Satan und alle seine Beauftragten. Der unreine Geist, der für die jünger zu stark war, war mit einem Schlag durch den Meister ausgetrieben. Er spricht mit gewaltiger Autorität und mit einem Schlag muss der unreine Geist gehorchen: Du sprachloser und tauber Geist, ich gebiete dir: Fahre von ihm aus und fahre nicht mehr in ihn hinein!

Liebe Gemeinde, lasst uns diesen Abschnitt aus dem Evangelium des Markus nun verlassen mit erneuertem Glauben, erneuerter Liebe und Hoffnung. Denn ER, der für uns ist, ist größer als all diejenigen, die gegen uns sind. Der Satan ist stark, geschäftig, aktiv und heimtückisch. Aber Jesus kann diejenigen aus äußerster Bedrängnis retten, die zum Vater durch IHN kommen: retten vom Teufel, von Sünde, Welt und allem Vergänglichen. Darum lasst uns über unsere Seelen in Geduld und Frieden verfügen.

Jesus lebt und wird dem Satan nicht gestatten, uns aus seiner Hand zu reißen. Jesus lebt, und er wird bald wiederkommen und uns ganz von den feurigen Pfeilen des Bösen erlösen. Das Weltgericht ist vorbereitet, und eines Tages wird der Satan in Ketten liegen. Der Gott des Friedens aber wird den Satan unter eure Füße treten in Kürze (Röm 16:22).

Lasst uns frohlocken, denn wir teilen das Leben unseres Herrn. Wir kennen den Namen des Vaters. Wir haben sein Wort. Wir teilen seine Herrlichkeit (Joh 17).

Welch fantastische und spannende Erwartung!

Amen.