Predigt zur Jahreslosung 2014 in der Oberpfarr- und Domkirche zu Berlin

Nikolaus Schneider

"Gott nahe zu sein ist mein Glück" (Psalm 73, 28)

Gottes Nähe garantiert dir dein Glück! – Diese Zusicherung, liebe Gemeinde, würde unseren Kirchen gewiss neuen Zulauf bescheren – und zwar zu allen Zeiten, nicht nur an Tagen wie heute. Wie wunderbar wäre das, wenn Gott uns garantieren würde: Allen Menschen, die meine Nähe suchen und in meiner Nähe leben, wird die ganze Fülle des irdischen Glückes zuteil. Wie einfach wäre es für Christenmenschen und für unsere Kirchen, hätten wir die Vollmacht, den Menschen zu predigen und zuzusichern: Die Nähe zu Gott spiegelt sich für euch schon auf Erden in einem von Glück erfüllten Leben wider. Gesundheit, Erfolg, Reichtum, öffentliches Ansehen und gesellschaftlicher Einfluss sind die Früchte und der Lohn für ein Gott-wohlgefälligen Lebens. Sucht Gottes Nähe und ihr findet euer irdisches Glück!

Aber Menschen, die Gott suchen und auf Gott vertrauen, machen oft ganz andere Erfahrungen. Die Realitäten unseres Lebens spotten nur zu oft einem auf Erden sichtbaren Zusammenhang von „Gutes tun und gutem Ergehen“. Irdisches Glück ist ganz offensichtlich kein geeignetes Kriterium, weder um sich der eigenen Gottesnähe gewiss zu werden, noch um Gottesfürchtige von Frevlern zu unterscheiden.

„Gott nahe zu sein ist mein Glück.“ –, dieser Vers aus Psalm 73 ist die Jahreslosung für das Neue Jahr 2014. Er nimmt die Sehnsucht und die Suche von uns Menschen nach einem von Glück erfüllten Leben auf. Aber er gibt uns keine einfache Antwort, vor allem keine Antwort, die sich als Grundlage einer vollmundigen Werbekampagne für unsere Kirchen eignete. Die Jahreslosung hält die Frage nach dem Glück des Lebens offen. Sie will uns Menschen motivieren, immer wieder neu über unsere Glücks-Vorstellungen und Glücks-Sehnsüchte nachzudenken. Und auch darüber, was Gott mit unserem Glück zu tun hat.

„Gott nahe zu sein ist mein Glück.“ –, diesem persönlichen Bekenntnis eines Psalmbeters sind ein zweifelndes Fragen und ein intensives Ringen mit Gott vorausgegangen: Der Beter des 73. Psalms ist geschlagen mit Mühsal und qualvollen Beschwernissen. Und das offensichtliche Glück von Menschen, die nicht nach Gott fragten, verstärkt sein Leiden noch. Er beginnt an Gottes Gerechtigkeit zu zweifeln. „Siehe, das sind die Gottlosen, die sind glücklich in der Welt und werden reich.“(Psalm 73, 12)  – so klagt der Psalmbeter. Und er fragt sich selbst und Gott: „Soll es denn umsonst sein, dass ich mein Herz rein hielt und meine Hände in Unschuld wasche?“(Psalm 73, 13)

Der Beter des 73. Psalms ringt mit seinem Glauben und mit seinem Gottvertrauen angesichts des eigenen Unglücks und angesichts des unverdienten Glücks der Gottlosen. Aber in seinen Anfechtungen und mit seinen Zweifeln bleibt er im Gespräch mit Gott. So erfährt er mitten in seinem Ringen und Suchen Gottes Gegenwart und Nähe. Und so gewinnt er ein ganz neues Glücksverständnis.

Wir wissen nicht, wo und wie sich Gottes Nähe dem Psalmbeter gezeigt hat. Im Psalm heißt es fast lapidar „ich ging in das Heiligtum Gottes“(Psalm 73, 17). Es bleibt offen, ob das „gehen“ eine innere Einkehr des Betenden meint oder ob es sich um einen Tempelbesuch handelt. Entscheidend ist: Der Psalmbeter sucht die Nähe Gottes und er erfährt die Nähe Gottes. Und er erkennt: Das irdische Glück der Gottlosen, das auch ich mir so ersehne und das uns Frommen doch eigentlich auch zustehen sollte, ist letztendlich ein vergängliches Glück. Wahres und unvergängliches Glück findet sich allein in der Nähe zu Gott. Glücklich bin ich, weil ich in all meiner Not und trotz aller meiner Fragen und Zweifel die Erfahrung mache, dass Gott mir nahe kommt!

Die Erfahrung der Nähe Gottes, liebe Gemeinde, brachte den Psalmbeter vor mehr als zweieinhalb Jahrtausenden und bringt Menschen bis heute  zu einem neuen Verständnis von irdischem Glück. Das Suchen und das Erfahren von Gottes Nähe lässt uns Menschen ein „Dennoch-Glück“ erkennen

ein Glück, das tiefer und anders ist als das Erleben von Gesundheit, Erfolg, Reichtum, öffentlichem Ansehen und gesellschaftlichen Einfluss
ein Glück, das in der vertrauensvollen und verlässlichen Beziehung zu Gott liegt. Und das deshalb nicht wie ein Strohfeuer verglüht, wenn Kummer, Leid und Ängste unser Leben beschweren.

Um dieses tiefen und bleibenden „Dennoch-Glücks“ willen sollen wir Menschen die Nähe Gottes suchen. Wir können und sollen Gott suchen, wir können und sollen unser Herz und unseren Verstand immer wieder neu für das Nahen Gottes und für seine Gegenwart öffnen.

Dabei gibt es aber eine Irritation: Wir Menschen sind nicht die Macher und nicht die Garanten für das „Dennoch-Glück“, das Menschen durch das Nahen und durch die Nähe Gottes zuteilwird. Die Volksweisheit „Jeder ist seines Glückes Schmied“ gilt nicht für das Glück der Gottesnähe. Das ist unverfügbar.

In dem vor uns liegenden Jahr 2014 gibt es zwei Gedenktage in unserem Land, die uns Menschen wieder neu die Demut lehren sollen im Blick auf die  Unverfügbarkeit von Gottes Nähe:

Vor 100 Jahren begann im August 1914 der „Erste Weltkrieg“. Er gab dem Kriegführen durch den Einsatz von Giftgas, von Panzern und Flugzeugen, von Massen an Menschen und Material eine neue Dimension. Er brachte unermessliches Leiden auch über Zivilisten. Der Kriegsaufruf von Kaiser Wilhelm II. endete mit dem Satz „Vorwärts mit Gott, der mit uns sein wird“. Und die Zusicherung „Gott mit uns“ stand auf den Koppelschlössern der Soldatengürtel.
Vor 75 Jahren begann der „Zweite Weltkrieg“ mit dem Überfall auf Polen am 1. September 1939. Und wieder stand die vermessene Zusage auf den Koppelschlössern der Soldaten „Gott mit uns“.

Das muss uns Gott-Suchenden und Glück-Suchenden immer bewusst bleiben: Die Nähe Gottes war und ist niemals ein verfügbarer Besitz von Menschen, Nationen, Religionen oder Kirchen. Wir Menschen können die Nähe und die Gegenwart Gottes nicht herstellen und nicht manipulieren – weder mit frommen Riten noch mit machtpolitischer Großsprecherei. Und: Gottes Nahen und Gottes Nähe lassen sich niemals gegen unsere Mitmenschen benutzen und in Stellung bringen. Jedes Beschwören der Gottesnähe zur Durchsetzung eigener Interessen gegen andere lästert Gott – das galt im Ersten und im Zweiten Weltkrieg für unser Land. Und das gilt auch heute in allen Kriegs- und Krisengebieten unserer Welt.

Gott naht sich seinen Menschen aus freier Gnade und in großer Liebe. Gott ist Mensch geworden – aus Liebe zu uns Menschen. Weil Gott seinen Menschen in Jesus Christus nahe gekommen ist wie ein Mensch in Liebe dem anderen, können Menschen schon hier auf der Erde Gott nahe sein. Und zwar immer und überall. Jesus Christus hat uns vorgelebt und bezeugt, dass wir auch in unseren schweren Zeiten auf die Nähe Gottes vertrauen können. Deshalb können wir schon jetzt in unserem vergänglichen irdischen Leben – in unserem alltäglichen Glück und in unserem alltäglichen Unglück – das unzerstörbare „Dennoch-Glück“ der Gottesnähe erfahren.

Vor mehr als zweieinhalb Jahrtausenden, liebe Gemeinde, rang ein Psalmbeter angesichts des eigenen Unglücks und angesichts des Glücks der Gottlosen mit Gott. Mit seinen Fragen und Zweifeln suchte er die Nähe Gottes. Und er erfuhr die Nähe Gottes. Und er gewann ein neues Glücksverständnis. Der Psalmbeter erkannte: Das irdische Glück der Gottlosen, das auch ich mir so ersehne und das uns Frommen doch eigentlich zustehen sollte, ist letztendlich ein vergängliches Glück. Wahres und unvergängliches Glück findet sich allein in der Nähe zu Gott. Glücklich sind wir Menschen, wenn wir in allen unseren Nöten und trotz aller unserer Fragen und Zweifel die Erfahrung machen, dass Gott uns nahe kommt!

So schlug das Fragen und Zweifeln des Psalmbeters damals um in das getroste und vertrauensvolle Festhalten an Gottes Nähe. Seine Klage verstummte und er betete: „Dennoch bleibe ich stets an dir; denn du hältst mich bei meiner rechten Hand, du leitest mich nach deinem Rat und nimmst mich am Ende mit Ehren an. Wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde. Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet, so bist du doch, Gott, allezeit meines Herzens Trost und Teil.“(Psalm 73, 23ff)

Wie der Psalmbeter damals müssen Menschen bis heute Abschied nehmen von der Sehnsucht nach einer irdischen Glücksgarantie für gottesfürchtige Menschen. Die Kirche funktioniert nicht wie ein Versicherungsunternehmen mit garantiertem Zins. Sondern wie eine Familie, die Familie Gottes. Einer ist immer da, ER ist immer da. Gesundheit, Erfolg, Reichtum, öffentliches Ansehen und gesellschaftlicher Einfluss sind nicht die garantierten Früchte oder der garantierte Lohn für ein Gott-wohlgefälligen Lebens. Die uns zugesagte Frucht eines Lebens in der Nähe Gottes ist die beglückende Gewissheit, von Gott begleitet zu leben und zu sterben. Gottes Hand will uns leiten und begleiten an allen unseren Tagen, gerade auch in und trotz aller unserer Todeserfahrungen, auch in unserem Sterben und durch unseren Tod hindurch.

In der Botschaft eines chinesischen Christen „Zum neuen Jahr“ ist diese beglückende Gewissheit so verdichtet:

„Ich sage zu dem Engel,
der an der Pforte des neuen Jahres stand:
Gib mir ein Licht,
damit ich sicheren Fußes der Ungewissheit
entgegengehen kann!“
Aber er antwortete:
„Gehe nur hin in die Dunkelheit
und lege deine Hand
in die Hand Gottes.
Das ist besser als ein Licht
und sicherer als ein bekannter Weg.“
Ein Glück,
dass es diese Hand gibt
und Engel, die mir sagen,
was richtig und wichtig ist.
Du weißt nicht,
was kommt,
du weißt nicht,
wer geht.
Aber du bist gewiss:
Wer dich hält
und dich trägt
auch über Abgründe hinweg.
(H.D.Hüsch und U.Seidel, Das kleine Buch zum Glück, tvd-Verlag Düsseldorf 2001, S.42)

So sucht und findet auch in dem vor uns liegenden Jahr 2014 euer Glück in der Nähe Gottes. Und seid gesegnet mit der Gewissheit, dass Gottes Hand euch hält und trägt – auch über alle Abgründe eures Lebens hinweg. Amen.