Predigt über Jesaja 44,6, dem Losungswort des 18. Juli 2014, in der Gedenkstätte Konzentrationslager Buchenwald zur Erinnerung an Pfarrer Paul Schneider

Nikolaus Schneider

Es gilt das gesprochene Wort!

Gnade und Friede von Gott, unserem Vater,
und von unserem Herr Jesus Christus sei mit uns allen. Amen

Ein Gottesdienst an einem besonderen Ort, liebe Gemeinde.
Gottes Wort an einem Ort des Schreckens.
Gebete und Gesang, wo früher menschenverachtende Appelle mit Gebrüll, Schlägen und Tritten erduldet wurden.
Das Evangelium in Hörweite zu einer Zelle, aus der unter Schmerzen und Schlägen der Prediger von Buchenwald, Pauls Schneider, zum Blutzeugen Christi wurde.

Heute ist der Todestag dieses Predigers.
Wir wollen heute an Paul Schneider, an sein Zeugnis und an seinen Tod  gedenken. Und dieses Gedenken soll nicht nur rückwärtsgewandt sein. Es soll auch die Gegenwart in den Blick nehmen und eine menschenwürdige Zukunft eröffnen. Deshalb wollen wir an diesem besonderen Ort auf Gottes Wort hören und sein Wort predigen.

Auch wenn Mörder die Stimme Paul Schneiders hier vor 75 Jahren zum Verstummen brachten, im Verlesen des Wortes Gottes klingt sie bis heute mit. Hören wir das Wort Gottes, so wie es uns im Buch des Propheten Jesaja überliefert ist:

„So spricht der Herr, der König Israels, und sein Erlöser, der Herr Zebaoth:
Ich bin der Erste, und ich bin der Letzte, und außer mir ist kein Gott.“

Um diese Fragen ging es damals und genau um diese Fragen muss es uns heute und immer gehen:
Wer ist der Erste und der Letzte? Wer hat Anfang und Ende in seiner Hand? Wer hat den letzten Anspruch und den letzten Zugriff auf unser Leben? Wer war Gott damals für die Menschen und wer ist Gott heute für uns?

Der erste Satz des Prophetenwortes gibt eine unmissverständliche Antwort auf diese Fragen:
Es ist Gott, „der Herr, der König Israels, und sein Erlöser…“.

Schon dieser Satz war den Nazis unerträglich. Herren zu sein, das genau war ihr Anspruch. Und Israel stand nach ihrer Ideologie für eine minderwertige Rasse, die ausgerottet werden musste. Die Gewaltherrscher in der Zeit von 1933 bis 1945 und ihre intellektuellen Büchsenspanner haben das ganz offen und unverblümt zum Ausdruck gebracht. Auch wenn sie in der Durchführung ihrer Verbrechen Meister der Maskerade waren und ihrem mörderischen Tun einen legalen Anstrich gaben.

So spricht der Herr, der König Israels – mit diesem Satz wird ein Anspruch eingeleitet, der weit über das Volk Israel hinausgeht und hinausweist. Alle Menschen sind Geschöpfe Gottes und alle Völker dem Macht- und Herrschaftsanspruch Gottes unterstellt.
Deshalb wissen sich Christinnen und Christen aus allen Nationen in die Gottesrede des Propheten Jesaja mit hineingenommen.
Und auch in den Zuspruch des ersten Gebotes: „Ich bin der Herr, dein Gott…“.
Das erste Gebot ist das wichtigste aller Gebote und aller Weisungen der Bibel. Denn aus ihm ergeben sich alle anderen Weisungen und Gebote für das Leben der einzelnen Menschen und das Zusammenleben innerhalb der Gesellschaften und zwischen den Völkern.
Das Gebot, dass wir keine anderen Götter neben dem einen und einzigen Gott haben sollen, ist ein Lebensangebot für uns Menschen: für das Denken und Handeln, für das Empfinden und Ermessen eines jeden einzelnen Menschen, für unsere Beziehungen und für unsere Gemeinschaften.
Aus der geglaubten und gelebten Anerkenntnis „außer Gott ist kein Gott“ erwächst Freiheit für Israel, aber auch für alle Christenmenschen.
Daraus erwächst Leben die Fülle und ein Zusammenleben in Gerechtigkeit und Frieden.
Die Frage „Wer war Gott damals für die Menschen und wer ist Gott heute für uns?“ verweist uns auf die Frage, wie wir es mit dem ersten Gebot halten.

Die Selbstermächtigung und Selbstvergötzung der Nazis, ihrer Helfer und Mitläufer, die Machtergreifung der nationalsozialistischen Ideologie führte zum diktatorischen Staat. Der totale Staat konnte alle staatlichen Machtmittel einsetzen, um z. B. Menschen pseudo-wissenschaftlich zu vermessen und zu kategorisieren. Staatliche Macht entschied, wer es wert war zu leben und wer ermordet werden konnte.
Wenn die Gottesfrage falsch entschieden ist, wenn Menschen sich zu Göttern neben/außer/über Gott aufspielen, dann kommt es zur Verwirrung der Begriffe und zur Pervertierung von beruflichem und staatlichem Handeln:
Ärzte dienen dem Töten, Richter dem Unrecht, Polizisten der Gewalt, Journalisten der Lüge, Verwaltungen der Organisation des Bösen.
Gottes Anspruch ernst zu nehmen, das erste Gebot zu achten, das kann dazu  führen, dass wir in einer bestimmten Zeit und bei bestimmten Fragen Gott mehr gehorchen als den Menschen. Dass wir wie Paul Schneider unsere Stimme erheben gegen Unrecht und Gewalt der Regierenden.

„So spricht der Herr, der König Israels, und sein Erlöser, der Herr Zebaoth.“
Jesaja sprach mit dieser Gottesrede hinein in eine verzweifelte Situation.
Israel war zerschlagen, Jerusalem lag in Schutt und Asche, seine Hörerinnen und Hörer saßen in Gefangenschaft, fern der Heimat, im Zweistromland – dem heutigen Irak.

Und Jesaja erinnerte die Verzweifelten an eine großartige Geschichte, die immer noch galt und nicht vergessen werden sollte:
Gott hatte Israel schon einmal befreit. Gott hatte sein Volk aus der ägyptischen Gefangenschaft befreit.
Gott ist ein Fessellöser, einer der aus Ketten herauslöst. Gott ist Erlöser.
Und das waren nicht nur fromme Worte.
Das waren geschichtliche Ereignisse.
Damals – als Mose das Volk in die Freiheit führte.
Deshalb heißt Gott „der Herr Zebaoth“ – Herr der Heerscharen übersetzen wir. Gemeint ist: Gott vermag auch staatliche, militärische Machtausübung zu leiten, umzuleiten, zu begrenzen und zu überwinden.

Das ist schon einmal geschehen, erinnert euch daran – das war die Botschaft des Jesaja. Und: das wird wieder geschehen. Gott hat sein Volk nicht aufgegeben.
Die Predigt des Propheten zielte auf die reale Veränderung der Verhältnisse. Nicht nur anders interpretieren – wirklich verändern.
Und auch das ist ja geschichtliche Realität geworden. Das Exil hatte ein Ende.
Den Anspruch und Zuspruch dieses geschichtsmächtigen Gottes brachte auch Paul Schneider an diesem Ort zu Gehör: Den Häftlingen zum Trost und zur Ermutigung. Die Zeit der Rechtlosigkeit, der Entwürdigung, der Folter und des Tötens wird ans Ende kommen.

Und die Menschenschinder reagierten darauf mit noch mehr Wut. Die In-Frage-Stellung und Relativierung ihrer Macht und Herrschaft konnten und wollten sie nicht ertragen.
Sie haben ihn deshalb geschlagen und der Lagerarzt hat ihn zu Tode gespritzt. Die Stimme dieses Zeugen Gottes meinten sie damit zum Schweigen zu bringen – das Ende ihres Wütens und Tobens war aber schon damals bestimmt. Gott lässt sich nicht spotten! Er ist auch der Herr der Heerscharen.
Und er erlöst und befreit auch durch den Tod hindurch.
Erlöser ist einer der Namen Gottes, der in Jesus Christus Mensch geworden ist. Ein griechisches Wortspiel mit „Christus“ hält das fest. Der Buchstabe s von Christus steht für „Soter“, für „Erlöser“.
Der Lebensweg Christi bezeugt uns, dass Gottes Macht stärker ist als der Tod. Gottes Weg der Erlösung geht sogar durch den Tod hindurch zur Auferstehung in das Leben bei Gott.

Fest in diesem österlichen Glauben verwurzelt konnte Paul Schneider seinen Weg der Nachfolge Christi gehen. Die Todesmächte der Nazischergen konnten ihn nicht davon abbringen. Und er ist diesen Weg ins Leben gegangen – das war sein, das ist unser fester Glaube und ein Sieg des sanften Mutes über die Gewaltmenschen, die sich an diesem Ort eine begrenzte Zeit lang austoben konnten.

Von Jesaja lassen wir uns heute an diesem Ort des Schreckens dazu anleiten, an den Gott zu denken, der unser Erlöser ist. Unser Mut soll auch heute davon gestärkt werden – gegen alle Erfahrungen von Unverstand, Unrecht, Krieg und Gewalt. Mit sanftem Mut wollen wir auch heute den Weg unserer Nachfolge gehen, die mit der realen Veränderung von Unterdrückung, Ausbeutung und Todesregimen rechnet. Gott, der Erlöser, bleibt der Herr der Heerscharen.
Dieser Gott sagt:“Ich bin der Erste und ich bin der Letzte, und außer mir ist kein Gott“.
Der Erste und der Letzte, Anfang und Ende, Alpha und Omega – unser Gott ist der Schöpfer und Vollender der Welt und allen Lebens. Er ist der Herr über Leben und Tod. Letztendlich wird er das letzte Wort behalten über alle irdischen Machtansprüche – mögen sie auch mit noch so viel Wissenschaft und Militär, mit noch so eindrucksvollen Leistungen menschlicher Ingenieurkunst und mit noch so schreckenerregenden Waffen daherkommen.
Diesem Gott können wir vertrauen – er kann helfen. Diesem Gott können wir uns anvertrauen – er meint es gut mit uns. Christus ist Zeuge dessen.
Es gibt nur den einen und einzigen Gott, von dem Jesaja als dem König Israels prophezeite und der in Jesus Christus für alle Völker Mensch geworden ist.
Alle anderen Ansprüche von Göttlichkeit sind Lug und Trug.
Außer ihm ist kein Gott.
Daran erinnern wir heute für unsere Zukunft. Denn im Gedenken wird die Gegenwart dessen wirksam, der allein Gott war und ist und sein wird. Auch heute.

Amen