Predigt über Römer 5,1-5 im gemeinsamen Gottesdienst mit Feier des Heiligen Abendmahls in der Erlöserkirche in Jerusalem

Präses Annette Kurschus

Da wir nun gerecht geworden sind durch den Glauben, haben wir Frieden mit Gott durch unsern Herrn Jesus Christus; 2 durch ihn haben wir auch den Zugang im Glauben zu dieser Gnade, in der wir stehen, und rühmen uns der Hoffnung der zukünftigen Herrlichkeit, die Gott geben wird. 3 Nicht allein aber das, sondern wir rühmen uns auch der Bedrängnisse, weil wir wissen, dass Bedrängnis Geduld bringt, 4 Geduld aber Bewährung, Bewährung aber Hoffnung, 5 Hoffnung aber lässt nicht zuschanden werden; denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsre Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist.

Liebe Gemeinde,

I.

Wir haben Frieden? Wir haben Frieden?

Haben wir das, während nur wenige hundert Kilometer entfernt Krieg und Sterben an der Tagesordnung sind? Haben wir das, während nicht einmal zehn Kilometer von hier eine Mauer der Trennung und der Ungleichheit verläuft? Wie können wir da Frieden haben – selbst wenn wir es könnten? Auf dem Tempelberg heute haben wir wieder neue Lektionen darüber erfahren, wir schwer es ist mit dem Frieden zwischen den Religionen. Auch durch unser Land, selbst mitten durch die Kirche, verlaufen Grenzen. Unsichtbare Grenzen in den Köpfen und Herzen. Bisweilen auch schmerzlich sichtbare Grenzen des Unfriedens. Ganz zu schweigen von den Friedlosigkeiten in uns selbst und zwischen einander... Wir haben Frieden mit Gott.

Was ist das für eine Wirklichkeit, von der Paulus da redet?

Geht es um eine rein geistliche Angelegenheit zwischen Gott und Mensch, die wir theologisch klug herleiten können, über die wir trefflich zu predigen verstehen – die aber mit dem handfesten Frieden auf Erden erst einmal wenig zu tun hat?

Oder sollten am Ende doch die vielen alten Handschriften des Römerbriefs Recht haben, die es weniger vollmundig sagen? Wir hätten Frieden, heißt es da. Nur ein kleiner Buchstabe ist es im Griechischen; ein kleines Omega statt des Omikron – und schon wird aus dem Indikativ ein Konjunktiv: Wir hätten Frieden, wenn...; wir könnten Frieden haben, wenn nicht... Und Hand aufs Herz: So läse es sich besser, realistischer, ehrlicher.

Aber, liebe Geschwister, was wäre das für eine Wirklichkeit, die allein bleiben müsste mit dem, was ist? Was für eine Wahrheit, die sich so nackt und erbärmlich zeigte, dass man sich ihrer nur schämen kann? Und was für ein Realismus, der jede Hoffnung aufgegeben hätte?

Wir haben Frieden mit Gott. Es gibt eine grundlegende Klärung darüber, wie Gott zu uns steht – freundlich, wohlgesonnen, versöhnt. Und zwar, weil er es so will. Unter dieser Gewissheit steht unsere gemeinsame Pilgerreise hierher ins Heilige Land. Auf diesem Fundament steht unser Weg als Kirchen. Davon können wir nicht mehr absehen – auch und erst recht nicht, wenn wir auf manchen Unfrieden blicken; auf Hass und Krieg und Gewalt in der Welt um uns her.

II.

Wir haben Frieden. Wir haben Zugang. Wir stehen in der Gnade. Unsere Hoffnung wird nicht zuschanden.

Im Kirchenjahr haben diese ungetrübten Indikative, die Paulus da in hoch konzentrierter Form ins Feld führt, einen festen Platz: Für beide Kirchen gehören sie in die Passionszeit. Ausgerechnet in eine Zeit also, in der all dies fraglich wird und empfindlich ins Wanken gerät: Haben, Stehen, nicht zuschanden Werden.

Im evangelischen Gottesdienst wird der Text als Epistel am Sonntag Reminiscere gelesen, das heißt übersetzt: Erinnere dich!

Erinnere dich, Gott, an deine Barmherzigkeit und an deine Güte, die von Ewigkeit her gewesen sind. (Psalm 25,6)

Erinnere dich: Uns unsererseits zu erinnern an die Güte Gottes und an die Wurzeln unseres gemeinsamen Glaubens – dazu sind wir in dieser Woche hierher ins Heilige Land gekommen.

Erinnere dich: Neben all dem, was wir im kommenden Jahr dankbar feiern werden – auch gemeinsam! - , kommt auch das andere in den Blick; das weniger Vorzeigbare, Schambesetzte. Das, was sich nicht feiern lässt: Schuld, Verletzungen und Scheitern. Mit den Worten des Paulus: Erinnert euch der Bedrängnisse! Erinnert euch, dass und wie wir als Kirchen aneinander schuldig wurden und werden; was wir einander antaten und antun als Menschen, die zu Christus gehören, die es also besser wissen und besser können könnten.

Ja, nüchtern betrachtet spricht viel, sehr viel gegen die großen Worte über Gott und die Liebe, über den Frieden und die Hoffnung und die Gnade. Wir haben es schwer mit den großen Worten. Und die großen Worte haben es schwer mit uns.

III.

Andererseits: Was wären wir ohne diese Worte? Ohne die Kraft, die in ihnen steckt? Was wären wir ohne Gottes Wahrheit, die unsere menschliche Erfahrung weit übersteigt und zugleich ihr fester Grund und ihr gewisses Ziel ist? Wie könnten wir leben ohne die göttliche Verheißung, die weit über die vorfindliche Wirklichkeit hinausgeht? Wie könnten wir beherzt handeln ohne die Hoffnung, die größer ist als unser kleiner Glaube? Ohne die Liebe, die weiter ist als unser enges Herz?

Die Kirche, die Welt müssten ohne diese Worte schwindsüchtig werden vor lauter Realismus. Wo die großen Worte verstummen – meistens aus Kleinglaube und aus Scham, oft auch aus vermeintlicher Redlichkeit – da werden die kleinen und mickrigen Wörter immer lauter und mächtiger. Wo die Sprache arm wird und sich nichts mehr zutraut, da werden auch die Menschen ärmer – und mit ihnen ihre Hoffnungen, ihre Sehnsüchte, ja auch ihre Verzweiflung.

Die großen Worte sind nicht harmlos. Sie können verführen, sie können einnebeln, sie werden gern missbraucht. Und dennoch, vielmehr gerade deswegen, bin ich überzeugt: Wir brauchen diese Worte. Wir dürfen sie der Welt nicht schuldig bleiben. Weil sie die große, wahre Wirklichkeit in sich tragen, von der sie wissen.

IV.

Wie aber kommen wir in diese Wirklichkeit? Wie können wir das Große erkennen, das so vielfältig schon im Kleinen lebt – manchmal allerdings bis zur Unkenntlichkeit versteckt?

Kürzlich stieß ich auf ein Interview mit dem polnischen Lyriker Adam Zagajewski. Er erzählt da unter anderem:

„Ich habe einmal ein Gedicht geschrieben, das war in Frankreich. Ein Gedicht über große Sachen, die sich im Kleinen zeigen. Es war in einem Wagen. Mit meiner Frau. Wir waren in Beauvais. In Beauvais gibt es diese Kathedrale, die nicht beendet war. Ein Tier, ein großes Tier. Und als wir nach Hause zu fahren begannen, sah ich plötzlich die Kathedrale im Rückspiegel. Das war für mich unerhört. Diese große Kathedrale im kleinen Autospiegel. Und das Verrückte: So im Spiegel sprach sie fast stärker zu mir, als ich sie zehn Minuten früher im Original gesehen habe.“

Welch ein Bild! Auch für unsere Kirchen, und jetzt meine ich nicht die Gebäude: Auch wir, unvollendet wie jene Kathedrale in Beauvais, können in unserer institutionellen Größe und Pracht merkwürdig stumm bleiben. Und wir sprechen doch. Tag für Tag, an vielen Orten dieser Welt auf tausenderlei Weise. Bedeuten den Menschen etwas. Werden gehört und gesehen. Groß – oft im ganz Kleinen und vermeintlich Unscheinbaren.

Wirksam – oft nur durch einen kurzen, intensiven Moment der Begegnung, der Berührung, der Ahnung.

Paulus sagt: Durch Jesus Christus haben wir Zugang... zu dieser Gnade, in der wir stehen. (V.2)

In den vergangenen Tagen hat es viele Zugänge für uns gegeben. Zugänge, die uns plötzlich etwas vom Großen im ganz Kleinen ahnen ließen. Manche erhofft, andere ganz unerwartet. Einige sogar richtig schräg und verrückt. Geöffnete Toren und Türen, durch die wir eingelassen wurden: In Räume, in Kirchen, in Herzen, in Geschichten.

Zu dem orthodoxen Kirchlein in Burqin zum Beispiel, einer der ältesten Kirchen der Christenheit, wies uns ein junger Palästinenser den Weg. Vermutlich muslimischen Glaubens. „Ihr sucht die Kirche? Ich zeig sie euch!“

Wenig später der Zugang zum Jakobsbrunnen in Nablus: Eng und unwegsam. Durch eine schmale Tür über eine düstere Steige hinab haben wir den Brunnen erreicht – und ahnten in dem kleinen, stickigen Raum, wie groß die Wirklichkeit ist, die sich in der biblischen Erzählung von diesem Ort verbirgt.

Mir wird in den gemeinsamen Erlebnissen dieser Tage auf diesem besonderen Flecken Erde so sinnenfällig wie selten zuvor: Die wirklich großen Wirklichkeiten brauchen keine großen, imponierenden Zugänge.

Für Kaiser Wilhelm II., der sich während seiner Orientreise im Jahre 1898 als eine Art neuer Konstantin inszenierte, wurde damals hier in Jerusalem eigens ein neuer Zugang geschaffen. Denn der Kaiser wollte aufrecht auf einem weißen Pferd sitzend in die Stadt einreiten, anstatt von seinem Pferd abzusteigen und – wie das jeder Pilger tat – das Stadttor zu Fuß zu passieren. Diese Episode war offenbar so imposant, dass sie in die Geschichte einging– aber mir erscheint sie doch eher peinlich.

Nicht umsonst kam der Schöpfer allen Lebens als unscheinbarer, schutzloser und hilfsbedürftiger Säugling zur Welt. Und was heißt es, dass wir an einen Erlöser glauben, der durch Bedrängnis und Not, durch Leiden und Tod den Sieg des Lebens für uns erwirkte? Das ganz Große im Gewand des jämmerlich Kleinen. Das Rettende in Gestalt hässlicher Ohnmacht.

V.

Auf diesem Hintergrund höre ich auch den gewaltigen Schlussakkord unseres Textes. Logisch ein glatter Kettenschluss:

Wir rühmen uns auch der Bedrängnisse, weil wir wissen, dass Bedrängnis Geduld bringt, 4 Geduld aber Bewährung, Bewährung aber Hoffnung, 5 Hoffnung aber lässt nicht zuschanden werden; denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsre Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist.

Man kann das missverstehen. Leicht sogar.

Da wird Not verherrlicht, könnten wir hören. Da wird Elend schöngeredet. Da werden unwürdige Zustände heilig gesprochen. Da wird zum widerstandslosen Hinnehmen ermutigt.

Das kuriose Bild von der ausgegossenen Liebe Gottes macht aus dem vermeintlichen logischen Kettenschluss einen überlaufenden Becher: Ausgegossen in unsere Herzen, tropft und kleckert und fließt Gottes Liebe in die Welt. Sie kann gar nicht anders; sie braucht und sie will Raum. Weigert sich, bei uns zu bleiben – sie muss weiter, zu den anderen.

Jede Begegnung, jedes Gespräch, jedes klare Wort, jede noch so kleine Geste mitten in bedrückter Situation; jeder befreiende Humor – der belastenden Situation aufmüpfig ins Angesicht gelacht; jedes ungeschönte Wort über geschehenes Unrecht, jedes ehrliche Bekenntnis eigener Schuld kann Ausdruck dieser Liebe werden. Mutig und klar. Warm und feinfühlig. Mitunter auch wütend und ungeduldig. Und gerade dadurch heilsam und wegweisend.

I.

Eine Geschichte zum Schluss:

Eines Tages trafen sich eine Kohlmeise und eine Taube. “Wie viel wiegt eine Schneeflocke?”, fragte die junge Kohlmeise die weit gereiste und sehr erfahrene Taube. “Nicht mehr als Nichts”, gab diese als Antwort. “Da muss ich dir etwas erzählen”, sagte die Kohlmeise.
“Ich saß einmal auf einem Tannenzweig, dicht am Stamm, und es fing an zu schneien. Nicht etwa heftig mit Sturmgebraus, nein, wie im Traum, lautlos und ohne Schwere. Es schneite den ganzen Tag und die ganze Nacht. Da ich nichts Besseres zu tun hatte, zählte ich die Schneeflocken, die auf die Zweige und Nadeln meines Astes fielen und darauf hängenblieben. Genau 3.741.952 waren es.
Als die nächste Flocke, sanft wie die andern – nicht mehr als Nichts, wie du sagtest – auf dem Ast landete, da brach er ab und fiel zur Erde.
Die Taube, die schon seit Noahs Zeiten Spezialistin in solchen Fragen war, dachte lange und sorgfältig über die Geschichte nach. Und dann meinte sie: „Vielleicht fehlt nur noch die Stimme eines Menschen, um der ganzen Welt Frieden zu bringen.“

Amen.