Ansprache über Lukas 24, 50-53, Andacht in der Evangelischen Himmelfahrtkirche in Jerusalem

Annette Kurschus, Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen

Es gilt das gesprochene Wort.

I

Er führte sie hinaus: So beginnt die Himmelfahrt Jesu.

Bereits die Geschichte Gottes mit seinem Volk geht so los:

Er führte sie hinaus.

Aus der Knechtschaft in Ägypten, aus Unterdrückung und Sklaverei, aus Abhängigkeit und Ausbeutung – in die Freiheit.

Er führte sie hinaus:

Etliche Jesusgeschichten fangen so an.

Heilungsgeschichten zumeist.

Ob die Menschen taubstumm sind oder blind; ob sie an Aussatz leiden, eine geistige Behinderung haben oder eine psychische Krankheit:

Er führte sie hinaus.

Weg von den anderen; raus aus den festgelegten Rollen und Verhaltensmustern.

Da redet er mit ihnen; da berührt er sie, und ihr Leben kann anders weitergehen.

Er führte mich hinaus, jubelt ein Mensch 18. Psalm.

Als mir angst war, rief ich den HERRN an und schrie zu meinem Gott. Da erhörte er meine Stimme von seinem Tempel, und mein Schreien kam vor ihn zu seinen Ohren. Er führte mich hinaus; er riss mich heraus; denn er hatte Lust zu mir.

So beginnen Befreiungsgeschichten.

50 Jesus führte sie aber hinaus bis nach Betanien und hob die Hände auf und segnete sie.

51 Und es geschah, als er sie segnete, schied er von ihnen und fuhr auf gen Himmel.

52 Sie aber beteten ihn an und kehrten zurück nach Jerusalem mit großer Freude 53 und waren allezeit im Tempel und priesen Gott.

II.

Merkwürdig, diese Geschichte am Ende des Lukasevangeliums.

Da führt Jesus seine Jünger hinaus, segnet sie – und macht sich davon. Und die Zurückgelassenen freuen sich. Und zwar so richtig.

Wie kann das sein?

Nach dem langen Weg, den sie miteinander gegangen sind, seit er sie wegholte von ihren Booten da oben am See in Galiläa. Ein Weg durch Wunder und Schrecken und Wunder. Hinauf nach Jerusalem, hinab nach Emmaus und dann wieder zurück, im Laufschritt: „Der Herr ist auferstanden, er ist wahrhaftig auferstanden!"

Und nun ist er weg. Und sie freuen sich? Was hat es auf sich mit dieser Abschiedsfreude? Schon das Wort will einem nicht so recht über die Lippen.

Nicht minder merkwürdig diese Himmelfahrtskirche.

Ein imposantes Gebäude.

Anstelle des offenen Himmels ein Dach, eine Kuppel, ein Kreuzrippengewölbe. Statt der leiblich-sinnlichen Gegenwart Steine, Bänke und eine Institution: Sie waren allezeit im Tempel und priesen Gott.

Welch ein merkwürdiger Ersatz!

III.

Scheiden – so weiß es der Volksmund – tut weh. Schon für diejenigen, die zum Städtele hinaus müssen. Die allerdings haben noch vergleichsweise gut singen. Immerhin haben sie eine neue Welt vor sich. Der Schatz aber, der zurückbleibt, hat buchstäblich das Nachsehen. Die Abwesenheit schmerzt an allen Ecken und Enden, und es bleibt kaum mehr als Fragen und Warten und Hoffen, wann und ob der Schatz denn tatsächlich wiederkommt.

Ja, Scheiden tut weh.

Als leise Beklommenheit, meist tapfer überspielt, spüren wir das mitunter schon bei kleinen, alltäglichen Abschieden. Und je weiter die Entfernungen werden, je länger die Zeiten sich ziehen, die da zwischen uns geraten, desto bewusster wird uns, wie gefährdet jedes Miteinander ist; wie begrenzt jede Gemeinschaft, wie endlich jede Liebe und jede Zuneigung, die wir hegen und empfangen. Umso fester werden die Umarmungen, umso karger die Worte. Bis dann zum Schluss tatsächlich nur noch das Wort ‚Gott’ bleibt. Ja, von Gott her und auf ihn hin kommt beinahe all unser Grüßen und Verabschieden – als eine Art vergessenes Segnen: „à Dieu", „Pfüati Gott", „tschüss", „goodbye" – wie in Betanien.

Als er sie segnete, schied er von ihnen.

IV.

In manchen Kirchen wird an Christi Himmelfahrt nach der Lesung der Himmelfahrtsgeschichte - wie sonst nur am Karfreitag - die Osterkerze ausgeblasen. Sie löschen das Licht, das die Gegenwart Christi symbolisiert. Und bilden mit diesem Ritual eine sehr reale menschliche Erfahrung ab: Wir vermissen Gott, wir vermissen Christus bei uns auf der Erde. Hier und jetzt. Hier an diesem Ort in diesem zerrissenen Heiligen Land womöglich besonders.

Johann Sebastian Bach hat die Himmelfahrtserfahrung auf unvergleichliche Weise in Töne gebracht. Sie gehen nicht nur ins Ohr, sondern zu Herzen und unter die Haut. In seinem „Himmelfahrtsoratorium" lässt er den Solo-Bass in einem Rezitativ fragen: „Ach Jesus, ist dein Abschied schon so nah, ach, ist die Stunde denn schon da, da wir dich von uns lassen sollen?" Und die Altstimme fleht kurz darauf in einer ergreifenden Arie: „Ach, bleibe doch, mein liebstes Leben, / ach fliehe nicht so bald von mir! / Dein Abschied und dein frühes Scheiden / bringt mir das allergrößte Leiden. / Ach ja, so bleibe doch noch hier, / sonst werd ich ganz von Schmerz umgeben."

V.

„Fast der ganze Christus war weg", schreibt Martin Luther einmal im Rückblick auf eine Zeit schwerer Krankheit. Und als Dietrich Bonhoeffer in der Haft der Gestapo sitzt, geht ihm die Erkenntnis auf: Christsein heißt, „vor Gott und mit Gott ohne Gott zu leben."

Wenn das stimmt, liebe Geschwister, dann ist Christi Himmelfahrt ein höchst aktuelles Fest.

Und dann sind womöglich Himmelfahrtskirchen wie diese – allem antikisierenden Goldglanz zum Trotz – höchst moderne und zutiefst wahre Glaubensgebäude.

Zumindest, so scheint mir, sind sie wichtige Gebäude. Wichtig erst recht in einer Stadt wie dieser, wo es von Gebäuden wimmelt, die verbürgen wollen: Hier war er! Hier ist es geschehen! An dieser Stelle ist seine körperliche Anwesenheit noch zu spüren!

Hochmodern ist diese Himmelfahrtskirche in einer Welt, die mehr und mehr von sich meint, sie könne nur das ernstnehmen, glauben oder wenigstens achten, was man sieht. Und die immer weniger anzufangen weiß mit dem, was man nicht sieht, was nicht oder nicht mehr da ist.

Zutiefst wahr ist diese Himmelfahrtskirche als Glaubensgebäude, weil sie gar nicht so tun kann, als würden und wollten und könnten Gott und Christus in ihr aufgehen.

Sie gibt stattdessen der Erfahrung der Abwesenheit und der Ahnung des Vermissens Raum. Sie bietet Schutz für Menschen, die daran leiden, dass Gott anscheinend nicht da ist.

Auch wir heute können in dieser Kirche vor Gott bringen, dass er fehlt – und wie er fehlt.

Ob das neben dem unentbehrlichen Gotteslob eine Aufgabe von Kirche in unserer Zeit sein könnte? Wohlgemerkt nicht nur eine Funktion des Gebäudes, sondern eine Weise des Kircheseins in der Moderne?

Und ob man in einer solchen Kirche – glaubend oder zweifelnd – die Erfahrung machen könnte, die wiederum Dietrich Bonhoeffer anklingen lässt, als er aus der Tegeler Haft an seine Eltern und seine Verlobte schreibt?

VI.

„Zunächst, es gibt nichts, was uns die Abwesenheit eines lieben Menschen ersetzen kann, und man soll das auch gar nicht versuchen; man muss es einfach aushalten und durchhalten; das klingt zunächst sehr hart, aber es ist doch zugleich ein großer Trost; denn indem die Lücke wirklich unausgefüllt bleibt, bleibt man durch sie miteinander verbunden. Es ist verkehrt, wenn man sagt, Gott füllt die Lücke aus; er füllt sie gar nicht aus, sondern er hält sie vielmehr gerade unausgefüllt, und hilft uns dadurch, unsere echte Gemeinschaft miteinander – wenn auch unter Schmerzen – zu bewahren. Ferner: Je schöner und voller die Erinnerungen, desto schwerer die Trennung. Aber die Dankbarkeit verwandelt die Qual der Erinnerung in eine stille Freude. Man trägt das vergangene Schöne nicht mehr wie einen Stachel, sondern wie ein kostbares Geschenk in sich."

Vielleicht darf man sich so die Freude der Jünger vorstellen, als sie damals, nach dem Abschied, zurückkehrten in die Stadt. Gewiss, Bonhoeffer schreibt von Menschen und an Menschen und von irdischer Liebe.

Aber wie könnte das ein Gegenargument sein für den geerdeten Gott

und für den Himmel, der spätestens seit Christi Himmelfahrt eben auch ein menschlicher Himmel ist?

VII.

Er führte sie hinaus.

So beginnt die Himmelfahrt Jesu.

So beginnen Befreiungsgeschichten.

Der Abschiedssegen, mit dem Jesus seine Jünger entlässt:


Ob der sie dazu befreit, im tiefen Vertrauen auf seine lebendige Gegenwart mutig und aufrecht in dieser Welt zu leben, „etsi Deus non daretur" – als ob es Gott nicht gäbe?

Seinen Frieden in die Welt zu tragen, seine Versöhnung, seine Gerechtigkeit, seine Liebe – gegen alles, was die Hoffnung rauben will?

Auf die Macht des Lebens zu setzen – angesichts all der grausamen Spielarten des Todes?
 

Loblieder anzustimmen – weil Gott loben und für das Wohl der Menschen eintreten zusammengehören?

Ja, liebe Geschwister, wir sind so frei.

Amen.