Predigt zum Buß- und Bettag 2016 in der Matthäuskirche München

Heinrich Bedford-Strohm

Liebe Gemeinde,

dass am Bußtag von der Buße die Rede ist, das hat seinen guten Sinn. Und dass der Bibeltext zum Bußtag Worte enthält, die das Thema der Buße ganz genau ausleuchten, das ist auch nicht verwunderlich. Aber es kommt schon ganz schön massiv, wie Paulus uns zusammen mit der Gemeinde in Rom hier anredet. Du kannst dich nicht entschuldigen. Du verdammst dich selbst. Du mit deinem verstockten und unbußfertigen Herzen, häufst dir selbst Zorn an für den Tag des Zorns und der Offenbarung des gerechten Gerichts. Zorn und Grimm denen, die streitsüchtig sind und der Wahrheit nicht gehorchen; Trübsal und Angst über alle Seelen der Menschen, die das Böse tun…

Das ist heftig, was in diesem kurzen Abschnitt aus dem Römerbrief alles an Droh- und Urteilssprüchen steckt. Es ist nicht einfach, das zu hören in einer Zeit, in der die Droh- und Urteilssprüche, die Menschen anderen entgegenschleudern, ein Ausmaß bekommen haben wie noch nie. Es scheint dem allem noch was draufzusetzen. Es hat schon immer Menschen gegeben, die anderen die Hölle an den Hals gewünscht haben. Und es hat auch schon immer Prediger gegeben, deren größte Lust es war sich vorzustellen, wie die Menschen, gegen die sie predigten, Gottes ewiger Verdammnis überantwortet werden. Deren schlimmste Vorstellung schien es zu sein, dass die Hölle einmal leer sein könnte.

Doch heute werden solche Sprüche massenhaft verbreitet. Viral im Internet, wirklich wie ein Virus . Sie verbreiten sich wie Gift in einer Gemeinschaft, die wir „Soziale Medien“ nennen, weil sie eigentlich dazu gedacht waren, Menschen in Kommunikation miteinander zu bringen: Ich poste etwas im Internet und die anderen reagieren darauf und es kommt das in Gang , was man „Kommunikation“ nennt – „Verständigung untereinander“. Was sich da gegenwärtig auf vielen Internetseiten abspielt, hat damit nichts mehr zu tun. Soziale Medien drohen zu „asozialen Medien“ zu werden. Nicht mehr Verständigung ist das Ziel, sondern Verurteilung, Verdammung und manchmal richtig gehender Hass.

Ich selbst habe damit auch meine Erfahrungen gemacht, wenn ich mich zu kontroversen Themen geäußert habe. „Der Tag der Abrechnung wird kommen“, hat mir kürzlich jemand geschrieben. Menschen, die öffentliche Verantwortung tragen, besonders Menschen, die sich als Politiker in vielfältige Kontroversen zu begeben haben, sind Angriffen ausgesetzt, die nichts mehr mit demokratischem Diskurs zu tun haben. Man will anscheinend nichts mehr voneinander lernen, oder sich zuhören und austauschen, sondern es geht darum, sich zu bekämpfen, manchmal sogar ums Vernichten. Wenn Menschen in der Politik einen Fehler machen, dürfen sie auf keine Gnade hoffen. Sie müssen mit Häme, Spott oder sogar mit Verachtung rechnen. Umso schwerer fällt es, Fehler zuzugeben. Wollen wir diese Gnadenlosigkeit im Umgang miteinander?

Es ist Zeit, zur Besinnung zu kommen! Es ist Zeit, sich neu auszurichten! Es ist Zeit, sich als Land, aber auch als Einzelner und Einzelne, etwas sagen zu lassen an diesem Buß- und Bettag 2016! Vielleicht sagen Sie jetzt: Aber Paulus spricht doch über das Urteil Gottes, er spricht doch vom Zorn Gottes, er ruft uns doch zur Buße. Ja, das stimmt. Aber dahinter steht nicht der Hass Gottes, sondern seine Liebe! „Verachtest du den Reichtum seiner Güte, Geduld und Langmut?“ – das sagt Paulus vor allem: „Weißt du nicht, dass dich Gottes Güte zur Buße leitet?“

Hier, wo es um Urteilen und Richten geht, taucht plötzlich das Wort „Güte“ auf. Hier ist von Langmut und Geduld die Rede. Das ist eindrucksvoll, das ist ein neuer Ton, das ist revolutionär. Es reißt uns raus aus einem Fixiertsein auf das Negative, auf die Fehler der anderen, es reißt uns aus unserem Verliebtsein in den eigenen Zorn und die eigene Empörung.

„Weißt du nicht, dass dich Gottes Güte zur Buße leitet?“ Der Satz trifft mich. Weil er meinen eigenen Mangel an Güte entlarvt. Es geht so schnell, dass wir mit großem Pathos Fehlentwicklungen anprangern, dass wir Klartext gegen unannehmbare Haltungen sprechen – und dann nicht nur die Haltungen, sondern auch die
Menschen attackieren. Dass wir gar nicht mehr sehen, dass es echte Menschen sind wie du und ich. „Der ist für mich gestorben!" – so reden wir manchmal über Menschen, die wir aufgegeben haben. Wir merken gar nicht, was wir da sagen.

Wir sagen: Der ist für mich gestorben. Gott sagt: für mich ist niemand gestorben, weil jeder Mensch mein Geschöpf ist und ich auch durch die größte Sünde hindurch dieses mein Geschöpf nicht fallenlasse. Für Gott ist niemand gestorben, weil Gott in Christus für jeden Menschen gestorben ist, aus reiner Liebe, aus einer Güte, die die sich keiner von uns wirklich vorstellen kann, die wir nur mit Beschämung wahrnehmen können und die zu der einen großen Quelle unseres Lebens wird, die nicht mehr versiegt.

Güte Gottes, das ist, wenn wir so leben können, dass wir alles haben, was wir wirklich zum Leben brauchen: Essen und Trinken, ein Dach über dem Kopf, andere Menschen, die uns begleiten, die uns lieben. Güte Gottes, das heißt, wenn ich ganz unten bin und selbst keine Kraft mehr habe, dass ich dann spüre, dass Gott da ist, ein Gefühl der Geborgenheit spüre, merke, dass mich selbst diese schwierige Situation nicht umhauen kann. Güte Gottes, das heißt, das erste Lächeln eines Babys erleben zu dürfen. Güte Gottes, das heißt, die Frühlingssonne auf der Haut und den Duft des Flieders in der Nase spüren zu können. Güte Gottes – das heißt,
sich nach einem schmerzhaften Streit wieder zu versöhnen. Güte Gottes heißt, einen anderen verletzt zu haben und es nicht mehr gut machen zu können und dann dieses Wort zu hören: „Deine Sünden sind dir vergeben“, und es in der Seele zu spüren.

Ich brauche nur die Augen aufzumachen und hinzuschauen – überall um mich und auch in mir entdecke ich die Spuren der Güte Gottes. Und ich kann in den Psalm einstimmen: „Am Tage sendet der Herr seine Güte und des Nachts singe ich ihm und bete zu dem Gott meines Lebens.“ Wer die Güte Gottes spürt, verändert sich. „Weißt du nicht, dass dich Gottes Güte zur Buße leitet?“

Ja, wir Menschen können uns verändern, am meisten gemeinsam. Ich habe das selbst in einer Weise erlebt, die mich wirklich berührt hat. Immer mal wieder gibt es über eine bestimmte Frage heftige Diskussionen auf meiner
Facebookseite. Bei einer dieser Diskussionen habe ich einen Kommentar gesperrt, weil er im Stil jenseits dessen war, was auf einer solchen Seite noch tolerabel ist.

Wenige Tage später bekam ich eine Mail. Sie war von dem Kommentator, den ich gesperrt hatte. „Heute Abend“, schrieb er mir, „habe ich etwas sehr Törichtes getan, ich habe sowas noch (vorher) nicht getan, aber jetzt ist es passiert. (...) Die Sache ist mir emotional und umgangssprachlich stilistisch völlig entglitten und dafür entschuldige ich mich in aller Form.“ Ich habe ihm sofort geantwortet und ihm gesagt, welche innere Größe aus seiner Mail und der Entschuldigung spricht und dass ich seine Entschuldigung natürlich gerne annehme. Und dann habe ich ihm die Hintergründe dessen erklärt, was ihn so aufgeregt hat. Er schrieb zurück, dass er die Sache nach meiner Erklärung nun absolut nachvollziehen könne. Und zum Schluss sagt er: "Ich bedanke mich herzlich und wünsche Ihnen zu dem schönen Lutherjahr alles Gute und viel Freude an dem Fest… Mit herzlichen und freundlichen Grüßen…“

Ich habe diesen Mailwechsel als ein Bußtagswunder empfunden. Wo ich es gar nicht mehr erwartet hatte, ist Kommunikation entstanden. Menschen, die eigentlich völlig unterschiedliche Sprachen sprechen, haben begonnen, sich zu verstehen. Weil ein Mensch die Größe hatte, sich für einen Fehler zu entschuldigen. Er hat mich selbst damit zur Buße gebracht. Ich hatte nicht mit einer solchen Geste gerechnet. Ich hatte einem wüsten Facebook-Kommentator diese Veränderung nicht zugetraut. Weil ich nur die Haltung und nicht den Menschen gesehen habe. Weil ich Gott nicht zugetraut hatte, dass er uns zwei Menschen noch zusammenbringen kann. Weil ich selber mit innerer Abschottung reagiert habe. Weil ich die Kraft seiner Güte unterschätzt habe.

Paulus trifft bei mir ins Schwarze mit seinen Fragen: „Verachtest du den Reichtum seiner Güte, Geduld und Langmut? Weißt du nicht, dass dich Gottes Güte zur Buße leitet?“ Für mich ist diese Erfahrung eine große Hoffnungserfahrung. Die Güte Gottes kann wirklich stärker sein als alle Grenzen, die wir Menschen aufbauen. Sie kann uns wirklich aus den Ecken herausholen, in die wir uns gegenseitig so schnell stellen. Sie kann uns wirklich neu ins Gespräch bringen, wo wir einander nur noch beschimpfen oder wo wir sprachlos gegenüber einander geworden sind.

Das wäre ein Bußtagswunder 2016: Die Menschen hören auf zu richten. Wir verurteilen Hass und Hetze, aber wir verurteilen nie den anderen Menschen. Wir weisen menschenfeindliche Haltungen zurück. Aber wir legen Menschen nie auf sie fest. Wir rechnen mit dem Wirken Gottes, in den anderen, aber zuallererst in uns selbst. Dann kommen wir raus aus der Verkrümmung in uns selbst. Die Menschen richten sich auf, breiten die Arme aus und werden – wieder zu Menschen. Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Es gilt das gesprochene Wort