Predigt über Jesus Sirach 4,24-33 im Gottesdienst zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2006 im Berliner Dom

Hermann Barth

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus.

Amen.

Liebe Gemeinde!

I.

Zum sechzehnten Male jährt sich der Schlußpunkt jener wunderbaren, auch im Rückblick kaum faßbaren Entwicklung, in der die deutsche Einheit auf friedlichem Wege wiedergewonnen wurde. Politische Verhältnisse, die furchterregend und unerschütterlich schienen, waren in Wahrheit zerrüttet und schwach. Die Erkenntnis breitete sich aus: Menschenwerk ist vergänglich - und mag es sich noch so stolz und unangreifbar gebärden. Mutige Männer und Frauen nutzten die Gunst der Stunde und stürzten das baufällig gewordene Regime vollends um. Trennende Zäune und Mauern fielen. Offene Wunden begannen, sich zu schließen und zu heilen. Auch sechzehn Jahre später kommt es aus vollem Herzen, wenn wir singen:

„Ermuntert euch und singt mit Schall Gott, unserm höchsten Gut,

der seine Wunder überall und große Dinge tut.“

Es ist kein Ausdruck von Undankbarkeit und Vergeßlichkeit, wenn ich es bei diesen wenigen Erinnerungen belasse. Das Verweilen bei der Betrachtung vergangener Zeiten wird leicht nostalgisch, und dann steht es der Übernahme von Verantwortung hier und jetzt im Wege. Unser wieder vereintes Land aber steht im Inneren wie in den internationalen Zusammenhängen vor großen Herausforderungen. Was können wir als Bürger und als Christen dazu beitragen, tragfähige Antworten zu geben? Das ist ein weites Feld. Wir werden uns auf einen winzigen Ausschnitt, sozusagen eine ganz kleine Parzelle des weiten Feldes beschränken müssen.

Ich lenke dafür unsere Aufmerksamkeit auf einen biblischen Text, der nicht zu den bekanntesten gehört. Er steht im Buch Jesus Sirach. Dieses wiederum gehört zu einer Gruppe von Schriften, den sogenannten Apokryphen, die in den evangelischen Bibelausgaben bestenfalls als Anhang enthalten sind. Im CD- und Video-Zeitalter würde man sie vielleicht als bonus tracks zur Ausgabe des Alten Testaments bezeichnen, und manchmal stecken in den bonus tracks bekanntlich wahre Kostbarkeiten. Luther hat von den Apokryphen gesagt: „Das sind Bücher, die der Heiligen Schrift nicht gleich gehalten und doch nützlich und gut zu lesen sind.“ Das ist für das Buch Jesus Sirach eher eine Untertreibung. Ich lese einen Abschnitt aus dem 4. Kapitel:

Um deines Heiles willen schäme dich nicht, die Wahrheit zu sagen.
Denn man kann sich so schämen, daß man in Sünde gerät,
und man kann sich auch so schämen, daß man Gnade und Ehre davon hat.
Sieh nicht die Person an zum Schaden deiner Seele,
und weiche nicht vom Recht dir zum Verderben.
Halte dein Wort nicht zurück, wenn du andern damit helfen kannst;
denn im Wort gibt sich die Weisheit kund
und Einsicht in dem, was die Zunge spricht.
Widersprich nicht der Wahrheit,
sondern dulde den Spott, wenn du die Sache nicht getroffen hast.
Schäme dich nicht, zu bekennen, wenn du gesündigt hast,
sonst versuchst du vergeblich, den Lauf eines Stromes zu hemmen.
Mach dich nicht zum Diener eines Narren
und nimm auf einen Mächtigen keine Rücksicht,
sondern verteidige die Wahrheit bis in den Tod,
so wird Gott der Herr für dich streiten.

II.

Pünktlich zum diesjährigen Tag der Deutschen Einheit hat das Magazin der Süddeutschen Zeitung am vergangenen Freitag unter der Überschrift „Gefahrenzone“  22 Stimmen dunkelhäutiger Menschen mit ihren Erfahrungen in Ostdeutschland zu Wort kommen lassen. Es sind Protokolle der Angst, Wut und Hoffnung. Provozierend steht auf dem Titelblatt des Magazins unter dem Foto einer anheimelnden dörflichen Szene: „Hier wohnt der Haß. Ostdeutschland ist schön. Für Weiße.“

Das klingt – ich gebe es zu – arg pauschal, und ich kann verstehen, wenn der eine und die andere die Frage auf der Zunge haben: Warum denn nur werden auf diese Weise die Vorurteile gegen Ostdeutschland und die ostdeutsche Bevölkerung weiter genährt? Wie soll das Zusammenwachsen von West und Ost gefördert werden, wenn der Osten oder jedenfalls Teile davon als fremdenfeindlich gebrandmarkt werden? Aber die Redaktion, die den Erfahrungsbericht zusammengetragen hat, würde vermutlich antworten: Wir dürfen die Augen vor der Wirklichkeit nicht verschließen. Die Zeit des Verschweigens und Schonens ist vorbei. Denn nicht hinzusehen und öffentlich nicht darüber zu reden macht nichts besser. Oder mit den Worten des Jesus Sirach:

„Schäme dich nicht, die Wahrheit zu sagen.“ Um der Achtung vor dir selbst willen und um des Wohls des gesamten Gemeinwesens willen „schäme dich nicht, die Wahrheit zu sagen. Denn man kann sich so schämen, daß man in Sünde gerät.“

Und es gilt für die verantwortliche Redaktion, die sich mit der Veröffentlichung der Ergebnisse ihrer Recherche angreifbar macht und der öffentlichen Kritik stellt,  ja auch das andere:

Ertrage „den Spott“, ertrage die Kritik, „wenn du die Sache nicht getroffen hast. Schäme dich [auch] nicht, zu bekennen, wenn du gesündigt“ und unzutreffende Vorwürfe erhoben hast.

Die Stimmen, die wiedergegeben werden, gehen unter die Haut. Wir würden es uns zu leicht machen, sie gar nicht erst anzuhören. Wir müssen uns ihnen aussetzen.

Da ist zum Beispiel die Stimme von Noah Sow, 32 Jahre alt, Moderatorin und Sängerin, in Deutschland geboren:

„Als ich das erste Mal aus meiner Heimatstadt Hamburg nach Rostock fuhr, hat man mir vier Ratschläge mitgegeben: im Westen vollzutanken, nicht überall auszusteigen, die Hotelzimmer mit den Kollegen nebeneinander zu nehmen und den Weg zum Hotel nur in Begleitung eines Security-Mannes  zurückzulegen. Ich bin dann mit dem Zug gefahren. Eigentlich sollte mich jemand am Bahnhof abholen, aber kaum war ich angekommen, hatten mich schon sechs Glatzen umringt. Zum Glück hatte ich einen großen Hund dabei. Beim Einchecken im Hotel hieß es: Kein Zimmer frei. Erst eine weiße Kollegin konnte den angeblichen Irrtum beheben:“

Oder Victoria, 16, Schülerin, sie lebt in ihrer Geburtsstadt Pirna:

„Ich mache jetzt die 11. Klasse in Amerika ... Der Schritt ist ... wichtig für meine Persönlichkeit, weil ich hier einfach zu hart geworden bin, irgendwie so eine Mauer um mich herum aufgebaut habe, als Selbstschutz. Weil einem das halt schon alles ziemlich nahegeht. Man kann in Pirna jeden Tag damit rechnen, dass was passiert. Wenn ich spätabends durch die Gegend laufe ..., dann kann immer einer von den Nazis kommen und einen verprügeln. Ich habe in den letzten Jahren immer alles unterdrückt und habe so getan, als wenn mich das alles nicht interessieren würde, die Gewalt, die Pöbeleien und so. Das hat am Anfang auch geholfen. Im Endeffekt war es dann aber überhaupt nicht gut.“

Oder David Ibrahim, 39, aus Togo stammend, seit sieben Jahren in Deutschland und Doktorand der Kultursoziologie:

„Ich bin so was wie ein Katalog schlechter Erfahrungen. Fangen wir an bei den Polizeibeamten in Dresden, die mich auf der Straße verprügelten. Auf die Frage im Gerichtssaal: ‚Wieso haben Sie diesen jungen Mann auf der Straße aufgehalten?’ antworteten sie: ‚Weil er schmutzig aussah’... Meine Frage an die Beamten, ich war Nebenkläger: ‚Wie können Sie aus dem Auto heraus sehen, dass ich auf dem Fahrrad schmutzig aussehe?’ ‚Ja, man sieht das.’“

Schließlich eine Stimme, die ihren Namen nicht nennen will:

„Am 4. Juni war Stadtfest in Magdeburg ... Eine Gruppe von vier Leuten kam hinter mir her, zwei Jungs, zwei Mädchen ... Einer der Jungs hat mir einfach so, ohne Vorwarnung, mit der Faust eine reingehauen ... Ich bin weggelaufen und wollte mein Telefon aus der Jacke nehmen, um die Polizei anzurufen ... ‚Wen willst du denn anrufen, du Neger?’ ... Um uns herum waren die ganze Zeit vielleicht tausend Leute, die auf dem Stadtfest waren. Keiner hat sich für die Sache interessiert ... Sie nahmen mir die Jacke mit dem Telefon weg und fingen an, mich zu verprügeln ... Ich hatte wirklich Angst ... Viele Menschen hatten einen Kreis um uns gebildet und schauten dem Kampf zu ...“.

Die wenigen Beispiele mögen genügen. Sie zeichnen ein beklemmendes Bild. Mir ist bewußt, daß es die Feiertagsfreude stört. Aber es ist ein Stück der deutschen Realität im Jahr 2006, und es ruft uns Bürger und Christen in die Verantwortung. Der Abschnitt aus Jesus Sirach, den ich ausgewählt habe, trägt in der Lutherbibel die Überschrift: Vom mutigen Auftreten. Die Frage ist, wo und wie das mutige Auftreten gelernt wird. Einer der Lehrmeister ist Jesus Sirach. Ich weiß, daß es in der Regel nicht ausreicht, den biblischen Text einfach nur zu lesen oder zu hören. Er muß Bestandteil der Herzensbildung sein. Er muß am besten über Vorbilder vermittelt werden. Wenigstens dreierlei läßt sich dabei lernen:

„Halte dein Wort nicht zurück, wenn du andern damit helfen kannst“. Das Bedrückende an der Szene, die aus Magdeburg geschildert wird, ist doch, daß viele Menschen drum herum sind, die den Vorgang mitbekommen oder dem Streit sogar ausdrücklich zuschauen - eine im wesentlichen schweigende Mehrheit. Es wäre unfair, ihnen überwiegend zu unterstellen, sie billigten den Übergriff oder feuerten ihn geradezu an. Aber sie halten jedenfalls ihr protestierendes Wort zurück . Tut um Gottes und des Opfers willen etwas Tapferes. Ja, „verteidigt die Wahrheit bis in den Tod“.

Die zweite Lehre: „Mach dich nicht zum Diener eines Toren und nimm auf einen Mächtigen keine Rücksicht“. Die schweigende Mehrheit tut genau das - sie degradiert sich zum Publikum der törichten Gewalttäter und scheut den Konflikt mit denen, die in der Situation die Macht besitzen. Ich weiß: Es gibt verständliche Ängste. Aber wenn wir diesen Ängsten nicht trotzen, werden wir erpreßbar - ob in Magdeburg am Rande des Stadtfestes oder in der Deutschen Oper in Berlin.

Die dritte Lehre: „Sieh nicht die Person an zum Schaden deiner Seele, und weiche nicht vom Recht dir zum Verderben.“ Polizei und Gerichte werden den Erfahrungsbericht nicht gern lesen. Es ist ihr gutes Recht, nachzuweisen, daß alles ganz anders war. Aber es hat den Anschein, als sei es kein Einzelfall, daß bei der Polizei und vor Gericht Unterschiede der Person, Unterschiede zwischen weißhäutigen und dunkelhäutigen Menschen gemacht werden.

Bei Paulus heißt es: „Es ist kein Ansehen der Person vor Gott“ (Römer 2,10). Gott will daraus kein Privileg machen. Wir dürfen das ruhig nachmachen. Denn es ist wichtig nicht nur für die andere Person, es ist wichtig auch für mich. Bemerkenswerterweise heißt es nämlich nicht: Sieh nicht die Person an zum Schaden ihrer Seele, und weiche nicht vom Recht ihr zum Verderben. Sondern: Von meiner Seele soll Schaden abgewendet werden, mir soll das vorenthaltene Recht nicht zum Verderben gereichen. Das heißt doch: Was ich anderen, was ich auch nur einem anderen Menschen antue oder verweigere, das trifft auch mich. Bei vielen Taten müssen wir nicht nur fragen: Was tun sie dem Opfer an? Sondern auch: Was tun sie dem Täter an?

III.

Der Abschnitt aus dem Buch Jesus Sirach, auf den ich an diesem Morgen unsere Aufmerksamkeit lenken will, weist eine Eigentümlichkeit auf, die er mit einer ganzen Gruppe von biblischen Texten - gemeint sind die Texte aus der weisheitlichen Tradition wie etwa das Buch der Sprüche - teilt. Von Gott ist da wenig die Rede. Er kommt nur ein einziges Mal vor, ganz am Schluß:  „Verteidige die Wahrheit bis in den Tod, so wird Gott der Herr für dich streiten.“ Wie ist diese Eigentümlichkeit zu erklären?

Gelegentlich ist die Antwort darin vermutet worden, daß sich schon in der Weisheit Israels Glaubenserkenntnis und Vernunfterkenntnis voneinander gelöst hätte und in der weisheitlichen Lehre eine dem Glauben gegenüber selbständige Vernunft am Werke wäre. Das sei der Grund, warum Gott in den Texten streckenweise überhaupt nicht vorkommt. Nichts geht mehr in die Irre als eine solche Vermutung. In der Weisheit Israels treten Glaube und Vernunft keineswegs auseinander. Vielmehr waren ihr die Erfahrungen von der Welt immer auch Gotteserfahrungen, und die Erfahrungen von Gott waren ihr immer Welterfahrungen. Das Vertrauen in die Gleichheit der Menschen und ihrer Reaktionen und das Vertrauen in die Verläßlichkeit der das Menschenleben tragenden Ordnungen hängen aufs engste mit dem Vertrauen zu Gott zusammen: Denn es ist Gott, der die Ordnungen der Welt in Kraft gesetzt und durch die Zeiten aufrechterhalten hat.

Das Ziel der Bildung im alten Israel war es, die Ordnungen der Welt zu erkennen und anzuerkennen und eben damit in der Furcht Gottes zu leben. Ein ständig wiederholter Leitsatz heißt: „Die Furcht Gottes ist aller Weisheit Anfang“ (Psalm 111,10 u.ö.). Dem Weisen steht der Tor oder Narr gegenüber. Sein Verhalten ist nur zum geringsten Teil durch einen intellektuellen Defekt bestimmt. Vielmehr handelt es sich bei ihm um eine mangelnde Fähigkeit oder Bereitschaft, sich in die Ordnungen der Welt zu fügen. Deshalb ist Torheit beides: ein Mangel an Erkenntnis und ein Mangel an Realismus. In den Psalmen gibt es auch die Formulierung: „Es spricht der Tor in seinem Herzen: Es ist kein Gott“ (Psalm 14,1). Das meint keinesfalls, daß da jemand sozusagen theoretisch die Existenz Gottes bestritten hätte. Torheit ist vielmehr praktischer Atheismus: sich über alle Ordnungen und Gesetzmäßigkeiten der Welt hinwegsetzen und genau damit zu leben, als ob es Gott nicht gäbe.

Uns modernen Menschen ist das Zutrauen abhanden gekommen, Gott hinter und in den Ordnungen und Gesetzmäßigkeiten der Welt zu erkennen. Die Texte der Weisheit Israels wirken darum auf uns gottvergessen - obgleich sie es in der Sache gar nicht sind. Wir müssen  heute für unterschiedliche Menschen unterschiedliche Zugänge zu Gott bahnen und dabei freimütig und ohne Scheu von Gott reden. Auch dafür gilt, freilich in einem gewandelten Sinn, die Mahnung: „Schäme dich nicht, die Wahrheit zu sagen.“ Darin klingt schon an, worin uns der Apostel Paulus zum Vorbild geworden ist: „Ich schäme mich des Evangeliums nicht; denn es ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die daran glauben“ (Römer 1,16). Wir sind weit davon entfernt, uns mit einem Paulus vergleichen zu können. Aber wer weiß, was die Kraft des Gebets auch aus unseren schwachen Kräften und verzagten Herzen machen kann?

„Ach bleib mit deinem Segen bei uns, du reicher Herr;

dein Gnad und alls Vermögen in uns reichlich vermehr.

Ach bleib mit deiner Treue bei uns, mein Herr und Gott;

Beständigkeit verleihe, hilf uns aus aller Not.“

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsre Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen.