Predigt zu Röm 3,21-28 Reformationstag München

Katrin Göring-Eckardt

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist, der da war und der da kommt. Amen.

Liebe Gemeinde,

Juri traf es wie ein Blitz. Wie schön sie aussah. Eigentlich sehen sie sich recht oft, beruflich, in Sitzungen und Konferenzen, in der Kantine oder in der Teeküche.  Aber jetzt hier, auf einmal ist alles klar. Juri steht da, und die Welt um ihn hört auf sich zu drehen. Der Supermarkt, in dem er stand: egal. Die Tütensuppen, die Tomatensoßen, die Zahnpasta im Angebot: alles einerlei. Da stand sie, die Liebe seines Lebens und schaute sich die Müslisorten an. Und jetzt? Juri schaute verstohlen über das Gemüseregal: ob sie es merkte, dass er sie die ganze Zeit ansah?

Aber er konnte einfach nicht seine Augen von ihr lassen. Irgendwie müsste er mit ihr reden. Ihr sagen, dass er sich gerade eben verliebt hat in sie. „Du, ich liebe dich“, würde er gern sagen. „Es ist einfach so. Und so wird es immer sein. Egal, was du machst, wir gehören zusammen und ich werde bei dir sein. Lass uns miteinander leben und glücklich sein.“ Eigentlich doch ganz einfach… Juri wird es flau im Magen. So etwas kann man doch nicht einfach sagen, oder? Und was ist, wenn er es sagt, so zwischen Müsli und Gemüse und sie vielleicht gar nicht versteht, was er sagt? Und schließlich muss man sich morgen auch noch wieder begegnen können.

Reformationstag. Der 31. Oktober. Vor nun beinah 500 Jahren ist das passiert, dessen wir Evangelische an diesem Tag gedenken. Und der klassische Predigttext zu diesem Tag steht bei Paulus im Brief an die Gemeinde in Rom im 3. Kapitel - ich lese ihn noch einmal vor: „Nun aber ist ohne Zutun des Gesetzes die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, offenbart, bezeugt durch das Gesetz und die Propheten. Ich rede aber von der Gerechtigkeit vor Gott, die da kommt durch den Glauben an Jesus Christus zu allen, die glauben. Denn es ist hier kein Unterschied: sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten, und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist. Den hat Gott für den Glauben hingestellt als Sühne in seinem Blut zum Erweis seiner Gerechtigkeit, indem er die Sünden vergibt, die früher begangen wurden in der Zeit seiner Geduld, um nun in dieser Zeit seine Gerechtigkeit zu erweisen, dass er selbst gerecht ist und gerecht macht den, der da ist aus dem Glauben an Jesus. Wo bleibt nun das Rühmen? Es ist ausgeschlossen. Durch welches Gesetz? Durch das Gesetz der Werke? Nein, sondern durch das Gesetz des Glaubens. So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“

Diese Worte des Paulus an die Römer sind mit die wichtigsten Worte, die je geschrieben worden. Worte, die die Welt veränderten. Wirklich bedeutsame Worte! Aber so groß sie auch sind, so fremd scheinen sie doch auch. „Nun aber ist ohne Zutun des Gesetzes die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, offenbart, bezeugt durch das Gesetz und die Propheten. Ich rede aber von der Gerechtigkeit vor Gott, die da kommt durch den Glauben an Jesus Christus zu allen, die glauben.“ Lässt sich das verstehen? Heute, in unserer Zeit, in der wir 3-Wort-sätze per Email oder SMS senden und die Tagesschau abschalten, wenn der Beitrag länger als drei Minuten dauert; in einer Zeit, in der politische Entscheidungen, die erklärt werden müssen schon verloren haben und wir lieber den bejubeln, der alles ganz einfach sagt? In Bayern, schreiben die Zeitungen, jubelt man wohl gerade sehr gern….

Verstehen beginnt beim Hören. Womöglich beim Hören wollen. Vielleicht sogar erst wenn wir dem, der sie sagt einmal in die Augen geschaut haben. Oft ist es eher ein Prozess. Immer und immer wieder etwas hören oder lesen, solange, bis man es begreift. Und einer, der dies vor 500 Jahren mit dem Bibeltext tat, war Martin Luther. Martin Luther war ein  Mönch und er hatte Angst. Richtig starke Furcht. Angst vor Gott.
Luther schreibt darüber selbst erst einige Jahre später,

"Ich konnte", schreibt er, "ich konnte den gerechten, die Sünder strafenden Gott nicht lieben. Im Gegenteil, ich hasste ihn sogar. Wenn ich auch als Mönch untadelig lebte, fühlte ich mich vor Gott doch als Sünder und mein Gewissen quälte mich sehr. Ich wagte nicht zu hoffen, dass ich Gott durch meine Genugtuung versöhnen könnte. Und wenn ich mich auch nicht in Lästerung gegen Gott empörte, so murrte ich doch heimlich gewaltig gegen ihn…" Luther litt. Unendliche Qualen. Die kirchliche Ansage des Papstes in Rom war klar. Gott ist gerecht. Begehst du eine Sünde, wird dich Gott strafen. Auch das ist gerecht. Das höchste Gebot nun aber, das Jesus gelehrt hatte, lautet: du sollst Gott über alles lieben. Wie aber soll man jemanden lieben, der einen, sobald man es nicht tut, sobald man irgendetwas falsch macht, vielleicht auch nur um etwas anderes richtig zu machen, unendliche Qualen und Höllenstrafen androht? Das ist, nebenbei, auch das Problem aller gewalttätiger Herrscher, die geliebt werden wollen. Luther hatte Angst und fürchtete sich schrecklich und hasste diesen bedrohlichen Gott.

Doch Luther ringt mit dem biblischen Text. Immer und immer wieder liest er ihn. Hört auf ihn, und dann fängt er langsam an zu verstehen: die Gerechtigkeit Gottes, von der Paulus spricht, das ist nicht die Gerechtigkeit, die wir aufbringen, herstellen und leisten, sondern die mit der Gott uns beschenkt, die er uns eröffnet, die er uns Menschen ermöglicht, obwohl wir  Sünder sind, obwohl wir falsch handeln, unvollkommen, bequem sind, mutlos oder es einfach nur immer schon so gemacht haben…

Luther entdeckt, dass man sich etwas schenken lassen kann von Gott. Solange wir Menschen auf uns und unsere Anstrengungen schauen, Gott zu lieben, geht es schief, sind wir in uns selbst gefangen. Wenn wir uns aber aufrichten und auf Gottes Güte schauen, dann sind wir frei, ledig und los alle Angst vor Gott, weil wir hören: er macht uns groß, nicht wir selbst. Und vor allem, was uns groß macht, entscheidet Er und nicht wir. Wir können es nicht in Gehaltsstufen messen, nicht in der Zahl der sogenannten Freunde bei facebook, nicht mal anhand der Menge derjenigen die zum 50. Geburtstag kommen oder daran wie sehr wir doch schon wieder gelobt worden sind.  Wir können viel tun und nicht aufhören, gut zu sein, recht zu tun, das Licht in die Welt zu lassen. Aber immer in dem Wissen: Alles Notwendige ist schon geschehen durch Jesus Christus. Wichtig ist einzig allein der Glaube. Gott ist gerecht, weil er gerecht macht.

Da verstand unser Luther: Keine Höllenstrafe, kein Fegefeuer, kein zorniger Gott – was für ein Gedanke! Plötzlich war die Angst verschwunden, die Furcht. Und wir können uns vielleicht gar nicht genug vorstellen, wie es Martin Luther dabei ging: "Da", schreibt er, "fühlte ich mich ganz und gar neugeboren, und durch offene Tore trat ich in das Paradies selbst ein". Es muss ein gewaltiges Gefühl gewesen sein, ein Juri-Gefühl hoch Zehn, ein Staunen darüber, dass Gott da ist, dass er es gut meint mit mir, dass er mich sieht und mir so ein unzerstörbares Ansehen gibt. Und Sie kennen es: Wenn einem jemand zum ersten Mal sagt: ich liebe dich und wir es dann auch noch genauso fühlen... Plötzlich ist alles anders. Die Sonne scheint wärmer, die Blumen sind schöner, der Lärm stört nicht und selbst der nervende Grieskram von nebenan ist gar nicht mehr so schlimm. Da ist einer, der mich liebt, so wie ich bin. Der liebt mich einfach so.

Luthers reformatorische Entdeckung hat die Welt verändert und uns auch heute hier zusammenführt. Luther hat  zum ersten Mal in diesem Paulustext Gottes Liebeserklärung an den Menschen gehört. Gott, der ihn einfach so annimmt, wie er ist. Und diesen Gott, den er nicht zu fürchten braucht, den kann er lieben. Und so können wir uns vielleicht einen Martin Luther vorstellen, der verliebt durch die Straßen Wittenbergs hüpft und einen Freund nach dem anderen mit seiner Erkenntnis ansteckt, und wie manche ihn für völlig bekloppt halten… So geht es Verliebten ja nun einmal…

Am Anfang stand die Entdeckung, das neue Hören des biblischen Wortes. Gegen alles, was die Kirche damals dazu verkündete. Gottes Liebe zog auf neuem Wege durch das alte Kirchengemäuer. Wie ein Kartenhaus fiel das bisherige Lehrgebäude der mittelalterlichen Kirche mit Papst und Ablass in sich zusammen. Alle alte Theologie wurde geprüft und neu durchdacht. Und heraus kamen wir. Wir Evangelischen ohne Papst und ohne Lehramt, weil wir selber lesen und verstehen können, eine Meinung haben und sie aussprechen. Evangelisch, weil wir auf das Wort des Evangeliums hören. Gerechtfertigt allein durch Christus, allein durch den Glauben. Gottes große Liebesansage an uns alle: du bist mein geliebtes Kind. Hab keine Angst. Fürchte dich nicht. Mein Ansehen musst und kannst du dir gar nicht verdienen.

Und dies macht frei, frei zum Leben in Freiheit. Es macht uns frei, unsere Kirche anzuschauen und zu fragen, wie weit offen die Fenster und die Dachluken und die Zwischenräume zwischen den Ziegeln und überhaupt alles ist, damit das Wort Gottes hier in unsere Mitte gelangen kann? Wir dürfen fragen, ob unser Reden von Gott verstanden wird oder ob wir eine Insidersprache haben, ob unsere Predigt gut und leidenschaftlich ist, oder nur bemüht. Wir dürfen fragen,  wie offen unsere Türen sind für die Suchenden in den Straßen der Stadt, für die, die gar nicht wissen, dass Gottesdienste meist sonntags um zehn sind und doch etwas ahnen von Gott und etwas spüren von seiner Liebe. Wir dürfen unsere geliebte evangelische Kirche mit den Augen des Reformators anschauen und sagen: Reformation, das ist auch heute. Und auch heute ist sie nicht, in dem wir uns abgrenzen oder abschotten. Die fröhlichen Christenmenschen jedenfalls fragen nicht zuerst nach der Konfession.

Und wir dürfen die Welt ansehen, mit dem Blick, der zulässt, dass alles ganz anders sein könnte. In der DDR war es für viele von uns, die sich in Oppositionsgruppen unter dem Dach der Kirche zusammentaten eine wichtige, ja unaufgebbare  Gewissheit: nicht die Herren von der Partei, nicht irgendein Oberer oder Bonze, nicht der Staatsrat waren die Herren über uns, sondern, da ist einer, der Eine, der ist unser Herr. Frei hat uns das gemacht, im Denken, im Reden miteinander und dann irgendwann auch mutig genug, mit Kerzen auf die Straßen zu ziehen.

Und vielleicht erleben wir ja auch wieder einen Zipfel reformatorischer Tradition, wenn heute immer wieder, immer mehr Menschen die Dinge selbst in die Hand nehmen wollen. Bürgerbegehren anstrengen, auf die Straße gehen, in dem Wunsch, über das was Heimat für sie ist, selbst zu entscheiden, in Stuttgart, in München, in Gorleben. Denn es ist der Impuls, dass die Mächtigen, die, die immer schon alles wussten womöglich das Wichtigste vergessen haben. Das, was das Leben ausmacht jenseits von Planangaben und Ökonomie.

Und zugleich Vorsicht. Nicht dass wir uns den Blick verstellen. Der Aufstand der Armen gegen die Banker, die ganz schnell die Kurve in die alten Verhältnisse zurück bekommen haben blieb aus. Die Klimaschützer sind wenige, wenn es um die große Wende zum Weniger geht und das Bewahren der Welt für die Kommenden. Und auch der Aufstand der Anständigen für die Vielen, die zu uns gekommen sind und unser Land bereichern, egal ob und was sie glauben und die, die hier sind und Hilfe brauchen, auch der Aufstand bleibt aus, bisher.

Genau hinsehen, genau hinhören, wissen Gott ist da und liebt mich: Reformation. Der Predigttext am Reformationstag erinnert uns daran, wer wir sind. Wir sind die Kinder der Reformation, der großen Wieder-Entdeckung von Gottes bedingungsloser Liebe. Am Anfang unserer Evangelischen Kirche steht die Liebe und das Paradies war offen. Und wir dürfen eintreten und es bebauen und bewohnen. Mit offenem Blick für die Verhältnisse in unserer Kirche, in der Welt, für den Nächsten in der Nähe und in der Ferne, für unsere Schwestern und Brüder.

Und was könnte es denn Schöneres und Ermutigenderes geben, als solch ein Beginn. Ermutigend für unsere Kirche, ermutigend für jeden Einzelnen. Ach, Sie möchten gerne noch wissen, wie das mit Juri und der Frau am Müsliregal weiterging? Was meinen Sie denn…träumen Sie doch ein bisschen, wie die Geschichten ausgehen, wenn man die Worte der Liebe versteht.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen.