Predigt im Gottesdienst zum Buss- und Bettag 2002, Pauluskirche Berlin-Zehlendorf (Römer 6, 3.4.8)

20. November 2002

Zum Gedenken an das Schicksal von Christen jüdischer Herkunft in der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur

„Wisst ihr nicht, dass alle, die wir auf Christus getauft sind, die sind in seinen Tod getauft? So sind wir ja mit ihm begraben durch die Taufe in den Tod, damit, wie Christus auferweckt ist von den Toten durch die Herrlichkeit des Vaters, auch wir in einem neuen Leben wandeln. ... Sind wir aber mit Christus gestorben, so glauben wir, dass wir mit ihm auch leben werden.“
(Römer 6, 3.4.8)

I.
„Wer soll denn heute noch predigen? Wer soll denn heute noch Buße predigen? Ist uns nicht allen der Mund gestopft? Können wir heute noch etwas anderes, als nur schweigen? Was hat nun uns und unserem Volk und unserer Kirche all das Predigen und Predigthören genützt, die ganzen Jahre und Jahrhunderte lang, als dass wir nun da angelangt sind, wo wir heute stehen, als dass wir heute haben so hereinkommen müssen, wie wir hereingekommen sind?“

So fragte Helmut Gollwitzer am Beginn einer Predigt zum Buß- und Bettag, dem 16. November 1938, wenige Kilometer von hier in Dahlem. Während er sprach, hatten alle Hörerinnen und Hörer die Synagogen vor Augen, die wenige Tage zuvor, in der Nacht vom 9. zum 10. November angezündet worden waren; die jüdischen Geschäfte sahen sie vor sich, deren Scheiben so geklirrt hatten, dass man höhnisch von der „Reichskristallnacht“ sprach. Hoffentlich dachten sie auch an die Menschen jüdischer Abstammung, von denen mindestens dreißigtausend in diesen Tagen in die eigens dafür vorbereiteten Konzentrationslager nach Sachsenhausen, Buchenwald und Dachau gebracht worden waren.

Der Prediger selbst hatte ganz besonders auch diejenigen Gemeindeglieder im Blick, die an diesem Tag nicht in den Gottesdienst kommen konnten oder nicht teilzunehmen wagten: getaufte Gemeindeglieder jüdischer Herkunft, die verhaftet waren oder sich verborgen halten mussten, um der Verhaftung zu entgehen. Sie meinte der Prediger, als er mit den aufrüttelnden Worten schloss: „Nun wartet draußen unser Nächster, notleidend, schutzlos, ehrlos, hungernd, gejagt und umgetrieben von der Angst um seine nackte Existenz, er wartet darauf, ob heute die christliche Gemeinde wirklich einen Bußtag begangen hat. Jesus Christus wartet darauf!“

Ja, wie konnte einer da predigen? Und wie können wir, wie kann ich heute predigen? Der Bußruf allein kann es nicht sein, der uns leitet. Wie sollte ich diesen Bußruf aussprechen, wo er mir selbst doch auch gilt? Wie sollte unsere Kirche andere zur Buße rufen, wo sie doch, gerade an diesem Tag, selbst zur Buße gerufen wird? Nur weil wir mit dem Verderben, das wir sind und das wir angerichtet haben, in Christi Tod, in sein Grab, in sein Auferstehen hineingenommen sind, können wir predigen. Nur weil wir durch die Taufe an Christus Anteil haben, können wir es wagen, das Wort zu nehmen.

Nun haben wir uns angewöhnt, die Taufe gering zu schätzen. Ob einer getauft ist, was zählt das schon? So höre ich viele reden, auch in unserer Kirche. Dass die Taufe ein Sakrament ist, scheint weithin vergessen zu sein. Erst zögernd beginnen wir auch in unserer evangelischen Kirche die Handlungsvollzüge des Glaubens wieder ernst zu nehmen. Die Taufe aber ist ein grundlegender Handlungsvollzug des Glaubens. Paulus macht das mit starken Worten deutlich. Intensiver lässt sich nicht schildern, dass wir in der Taufe Anteil am Geschick Jesu erhalten, an seinem Tod, an seinem Grab, an seiner Auferweckung. So werden wir Glieder an seinem Leib. So werden wir aus unserem Verderben befreit und bekommen Teil an der Gerechtigkeit, die Christus uns schenkt.

Auf sie aber sind wir dringend angewiesen. Deshalb ist es Zeit, dass wir die Taufe neu ins Zentrum stellen, die Gleichgültigkeit ihr gegenüber hinter uns lassen. Es wird Zeit, dass wir die Handlungsvollzüge des Glaubens wieder ernst nehmen.

Von der Gleichgültigkeit gegenüber der Taufe muss auch heute abend die Rede sein, von einer Gleichgültigkeit ganz besonderer Art. Wir denken an die Menschen, die sich an jenem Buß- und Bettag 1938 nicht in den Gottesdienst trauten, weil sie um ihre Freiheit, ja um ihr Leben fürchten mussten. Wir denken an Glieder der Gemeinde Jesu Christi hier in Berlin, die ihrem Schicksal überlassen wurden, als der Staat sie ausgrenzte und für „artfremd“ erklärte. Wir denken an all die, die verschleppt wurden und zu Tode kamen.

Was war mit ihrer Taufe? Hat unsere Kirche ernst genommen, dass sie Anteil hatten am Tod, am Grab, an der Auferweckung Jesu Christi? Hat sie sich ihrer angenommen und mit ihnen zusammen auch all der nicht getauften Jüdinnen und Juden, die doch auch wehrlose Brüder und Schwestern Jesu Christi waren. Hat das Zeichen der Taufe unsere Gemeinden dazu gebracht, sich zu Christus als ihrem Herrn zu bekennen und deshalb seinen wehrlosen Brüdern und Schwestern zur Seite zu stehen, den nicht getauften wie den getauften? Wir müssen es heute aussprechen: Das war nicht der Fall.

II.
Gewiss haben sich einzelne der verfolgten Mitchristen angenommen, die aus der sogenannten „Volksgemeinschaft“ ausgeschlossen werden sollten, weil sie „nichtarischer“ Abstammung seien. Dietrich Bonhoeffer hat schon 1933 mit seinem Vortrag über „Die Kirche vor der Judenfrage“ ein Zeichen gesetzt; aber schon 1935 musste er mit einer Demonstration bei der Bekenntnissynode in Steglitz seiner ratlosen Verzweiflung über den Weg auch der Bekennenden Kirche Ausdruck geben. Elisabeth Schmitz hat schon im Jahr 1935 eine Denkschrift über die nationalsozialistische Entrechtung der Juden verfasst und ihre Kirche zu einer entschlossenen Reaktion aufgefordert – vergeblich, Gott sei’s geklagt. Manfred Gailus hat ihr in dankenswerter Weise im „Tagesspiegel“ ein Denkmal gesetzt.

Wenige Tage nach Helmut Gollwitzers Buß- und Bettagspredigt schrieb sie ihm in Klage über das erneute Schweigen der Kirche: „Als wir schwiegen ... zur Vergiftung der Seele des Volkes und der Jugend, zur Zerstörung der Existenzen und der Ehen durch sogenannte ‚Gesetze’, zu den Methoden von Buchenwald – da und tausendmal sonst sind wir schuldig geworden am 10. November 1938. Und nun? Es scheint, dass die Kirche auch dieses Mal, wo ja nun wirklich die Steine schreien, es der Einsicht und dem Mut des einzelnen Pfarrers überlässt, ob er etwas sagen will. ... Ich bin überzeugt, dass – sollte es dahin kommen – mit dem letzten Juden auch das Christentum aus Deutschland verschwindet.“ Klarsichtige Worte; sie blieben weithin ohne Echo.

Allein war Elisabeth Schmitz nicht. Marga Meusel trat für die Verfolgten ein wie Gertrud Staewen, Franz Kaufmann wurde dieses Einsatzes wegen in Sachsenhausen ums Leben gebracht, Martin Albertz gehörte zu den Unerschrockenen. Die Aktivitäten von Heinrich Grüber und seinem „Büro Grüber“ oder die Bemühungen des Kreises um Hans von Dohnanyi und Dietrich Bonhoeffer im Unternehmen Sieben sind Beispiele für Rettungsversuche. Befremdlich ist es allerdings, wenn nicht einmal sie gewürdigt werden. So kämpft ein Christ jüdischer Herkunft in den USA, Stephen Wise, inzwischen vor Gericht in Jerusalem darum, dass Dietrich Bonhoeffer von der Gedenkstätte Yad Vashem als einer anerkannt wird, der sich um die Rettung verfolgter Juden bemühte. Diese Anerkennung als ein „Gerechter unter den Völkern“ wird Dietrich Bonhoeffer von Yad Vashem nämlich bis zum heutigen Tag verweigert – mit wirklich beklagenswerten Begründungen.

Aber es waren wenige, die sich für Christen jüdischer Herkunft einsetzten. In einem erschreckend großen Teil der Gemeinden und der Pfarrerschaft unserer Kirche hatte schon längst der Ungeist Wurzeln geschlagen, den der kirchenpolitische Stoßtrupp der NSDAP, die „Glaubensbewegung Deutsche Christen“ schon in ihren „Richtlinien“ vom Juni 1932 unmissverständlich so zum Ausdruck gebracht hatte: „In der Judenmission sehen wir eine schwere Gefahr für unser Volkstum. Sie ist das Eingangstor fremden Blutes in unseren Volkskörper. Sie hat neben der Äußeren Mission keine Daseinsberechtigung. Wir lehnen die Judenmission in Deutschland ab, solange die Juden das Staatsbürgerrecht besitzen und damit die Gefahr der Rassenverschleierung und Bastardisierung besteht. Die Heilige Schrift weiß auch etwas zu sagen von heiligem Zorn und versagender Liebe. Insbesondere ist die Eheschließung zwischen Deutschen und Juden zu verbieten.“

Gewiss fanden derart menschenverachtende Töne in der Bekennenden Kirche keine Resonanz. Aber der Antijudaismus war auch in ihr fest verankert und zeigte seine Auswirkungen. Es gab deshalb hier in Berlin oppositionelle Pfarrer, die sich zwar zur Bekennenden Kirche zählten, aber ihrer besonders wichtigen Organisation, dem Pfarrernotbund, wegen dessen Haltung zu den „Nichtariern“ nicht angehören mochten. Gollwitzer war nahe an der kirchlichen Wirklichkeit, wenn er in seiner Bußtagspredigt sagte, „dass wir mit verhaftet sind in die große Schuld, dass wir mit schamrot werden müssen und mit gemeinsamer Schande behaftet sind.“ Wir werden als mitschuldig offenbar, so fügte er hinzu, „als Menschen, die ihr eigenes Leben und sich selbst lieb haben und die für Gott und den Nächsten gerade noch so viel Liebe übrig haben, als man ohne Mühe und Belästigung abgeben kann.“ Um nicht belästigt zu werden, ließ man vieles unbemerkt. Hinterher konnte man sagen, man habe nichts gewusst – oder doch nichts so ganz genau.

III.
Aber die Synagogen hatten gebrannt, vor aller Augen. Und Jüdinnen und Juden mussten vom 1. September 1941 an den gelben „Judenstern“ tragen, auch vor aller Augen. Auch die getauften Juden waren eingeschlossen. Eigentlich hätte das zu einer Solidarisierung aller Christen mit den auf diese Weise gebrandmarkten Juden insgesamt führen müssen. Und in diesem Rahmen hätten christliche Gemeinden ein wichtiges Zeichen setzen können durch die Art, in der sie sich zur Zusammengehörigkeit mit ihren Gliedern jüdischer Herkunft bekannten. Doch das Gegenteil geschah: Man ließ die Brandmarkung von Jüdinnen und Juden geschehen. Und es vollzog sich sogar eine Isolierung der getauften Juden. Die durch die christliche Taufe begründete Gemeinschaft erwies sich – Gott sei’s geklagt – in vielen Fällen gegenüber der nationalsozialistischen Rassenlehre als unwirksam.

Was sich zuvor schon in vielen einzelnen Fällen vollzogen hatte, wurde nun zur offiziellen Kirchenpolitik. Unverzüglich richtete die Kirchenkanzlei der Deutschen Evangelischen Kirche an die Leitungen der Landeskirchen die Aufforderung, „geeignete Vorkehrungen zu treffen, dass die getauften Nichtarier dem kirchlichen Leben der deutschen Gemeinde fernbleiben“; denn die deutschen Landeskirchen, so wurde zur Begründung vorgebracht, könnten als Körperschaften des öffentlichen Rechts nicht achtlos an der Tatsache vorübergehen, dass die Juden aus der Gemeinschaft des deutschen Volkes ausgeschieden worden seien. Die schon zuvor mancherorts praktizierte Verweigerung von Taufe oder Konfirmation, ja sogar die Verweigerung einer Grabstelle auf einem kirchlichen Friedhof und vergleichbare Maßnahmen wurden nun von höchster kirchlicher Stelle gerechtfertigt.

Damit geschah zweierlei zugleich: Es unterblieb der Protest dagegen, dass Jüdinnen und Juden rechtlos gemacht und der Vernichtung preisgegeben wurden; und die Zugehörigkeit von getauften Mitchristen zur christlichen Gemeinde wurde geleugnet. Dadurch wurde die Einheit des Leibes Christi selbst geschändet. Die Preisgabe der gleichen Würde jeder menschlichen Person verband sich mit einer Aufkündigung des geistlichen Bands, das durch die Taufe geknüpft wird. Wie tief die geistliche Schuld jener Zeit ging, kann man daran sehen. Die gemeinsame Teilhabe am Kreuzestod, am Grab, an der Auferweckung Jesu Christi zählte nichts gegenüber dem vermeintlichen Band von Rasse und Blut. Darin zeigte sich eine abgrundtiefe Gleichgültigkeit gegenüber der Taufe. Ja, darin zeigte sich der Glaubensverrat, die Häresie unserer Kirche in jenen Jahren.

IV.
Zuerst hatten sogenannt „nichtarische“ Pfarrer sowie andere kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu spüren bekommen, wie ihnen wegen ihrer Herkunft die Gemeinschaft in der Kirche verweigert wurde. Die Namen von Paul Mendelson und Werner Sylten  sollen hier zugleich für manch andere genannt werden. Nun aber vollzog sich an den Gemeindegliedern jüdischer Herkunft, wofür exemplarisch das Schicksal von Jochen Klepper, Johanna Klepper und Renate Stein steht, die am 11. Dezember vor sechzig Jahren aus dem Leben schieden – eines der vielen Zehlendorfer Schicksale, an die wir in diesem Zusammenhang zu denken haben. Am 22. März des nächsten Jahres jährt sich übrigens Jochen Kleppers Geburtstag zum hundertsten Mal.

Nun also wurden Christinnen und Christen jüdischer Herkunft insgesamt ausgegrenzt. Was christliche Gemeinden dazu beitrugen, ging über die alltägliche und vor allem sonntägliche Isolierung noch hinaus. Christliche Gemeinden beteiligten sich an dem rassistischen Unrecht auch dadurch, dass sie sogenannte „Ariernachweise“ ausstellten oder eben die jüdische Herkunft von Menschen zum Vorschein brachten. Und sie taten das keineswegs immer ungewollt, notgedrungen – weil ihnen eben keine andere Möglichkeit blieb, als Auskunft über die Eintragungen in den Kirchenbüchern zu erteilen. Sie taten das auch aus freien Stücken und mit klarer Absicht.

So gründete der Pfarrer Karl Themel schon Mitte der dreißiger Jahre die „Kirchenbuchstelle Alt-Berlin“. Unter diesem harmlos klingenden Titel ging es um nichts anderes als darum, der „Reichsstelle für Sippenforschung“ zuzuarbeiten und Getaufte als „Rassejuden“ zu identifizieren. Es klingt zynischerweise beinahe betrübt, wenn Themel 1941 in einer Bilanz seiner Arbeit feststellt, dass er 255 469 Urkunden für den „Ariernachweis“ ausgestellt habe, aber nur in 2 612 Fällen eine jüdische Abstammung habe ermitteln können.

Aber was ist in diesen 2 612 Fällen geschehen? Auf Grund solcher Feststellungen wurden Christen verschleppt und dadurch aus der Kirche ausgestoßen. Unsere Kirche bekennt an diesem Buß- und Bettag ihre besondere Schuld an diesen Mitchristen. Wir klagen uns an, dass die Leitung unserer Kirche sie nicht geschützt und unsere Gemeinden sie nicht geborgen haben. Wir erinnern uns zugleich an die Menschen, die damals versucht haben, dem Rad in die Speichen zu greifen. Es waren wenige und es geschah spät. Aber mit ihrem Widerstand setzten sie Zeichen der Menschlichkeit inmitten des Grauens.

V.
Am 27. November 2001 erschien eine Gedenkanzeige an Elizabeth Bendix und Otto Bendix, in der es heißt: „Am 27. November 1941 wurden Elizabeth und Otto Bendix wegen ihrer jüdischen Herkunft vom Bahnhof Berlin-Grunewald aus deportiert. Sie kamen entweder auf dem Weg in das Konzentrationslager Riga oder nach ihrer Ankunft dort um. Am 60. Jahrestag ihrer Deportation gedenken wir, ihre Familie, ihrer.“

Der Text und das beigefügte Kreuzeszeichen deuten darauf hin, dass es sich um Christen handelte, die so ums Leben kamen. Ob sie zu den 2 612 Fällen gehörten, deren Karl Themel sich brüstete? Zur Erinnerungsarbeit unserer Kirche muss es nun auch gehören, solchen Schicksalen nachzugehen. Wir müssen uns klar machen, aus welchen Gemeinden die Menschen stammten, die von der Rampe in Grunewald aus oder auf anderen Wegen in den Tod geschickt wurden. Zu Recht ist mir von einem Gemeindeglied folgende Frage gestellt worden: „Es gibt nicht wenige evangelische Kirchen, die im Vorraum auf Wandtafeln namentlich die toten Gemeindemitglieder der beiden Weltkriege nennen. Gibt es evangelische Gemeinden, die die Namen ihrer damaligen Mitglieder jüdischer Herkunft kennen? Gibt es Gemeindefriedhöfe, wo deren gedacht wird, die ohne christliches Begräbnis von uns gehen mussten?“ Die Frage ist berechtigt. Meine Hoffnung am Buß- und Bettag 2002 ist, dass viele Gemeinden anfangen, sich dieser Frage zu stellen.

Die deportierten Christen jüdischer Herkunft nahmen ihre Taufe mit; aber ihre Gemeindemitgliedschaft hatten sie verloren. Zu welcher christlichen Gemeinde gehörten sie nun? Wo wirkte sich das Band der Taufe nun aus? Es hat mich erschüttert und bewegt, als ich las, dass sich im KZ Theresienstadt eine evangelische Gemeinde bildete. Von den Glaubensjuden hatten sich Christen jüdischer Herkunft deutlich abgewandt. Manchmal mussten sie sich auch vorhalten lassen, dass sie den Glauben der Väter verlassen, ja verraten hätten. Das Band der Taufe aber, auf das sie sich eingelassen hatten, erwies sich von Seiten der nichtjüdischen Mehrheitsgemeinde als brüchig und schwach. Noch in Todesgefahr versuchten getaufte Juden, es aus eigener Kraft zu erneuern, indem sie eine eigene Gemeinde bildeten. Mich beschämt das tief.

Aber es gibt kein anderes Band, an dem wir uns aufrichten können an diesem Tag, als dieses Band der Taufe. Das Wasser als Zeichen der Taufe – es ist nicht nur das Wasser der Reinigung, sondern es ist auch ein Zeichen für die Wasserfluten des Verderbens, denen Menschen vor sechzig Jahren im Namen unserer Kirche überlassen wurden. Dass Christus auch diese Fluten auf sich nimmt und uns so aus ihnen befreit, ist unsere einzige Hoffnung. Dass diejenigen, die von unseren Gemeinden allein gelassen wurden, auch noch in ihrer Einsamkeit an der Gemeinschaft mit Christus Halt fanden – darum müssen wir auch noch heute beten. Dass wir das Zeichen der Taufe neu ernst nehmen und niemals wieder an der gleichen Würde aller Menschen, der getauften wie der nicht getauften, einen Zweifel lassen – was sollten wir denn heute überhaupt versprechen wenn nicht dies?

Wie sagte Helmut Gollwitzer zum Schluss seiner Predigt vor 64 Jahren? „Nun wartet draußen unser Nächster, notleidend, schutzlos, ehrlos, hungernd, gejagt und umgetrieben von der Angst um seine nackte Existenz, er wartet darauf, ob heute die christliche Gemeinde wirklich einen Bußtag begangen hat. Jesus Christus wartet darauf!“