Predigt zum Heiligen Abend im SFB-Rundfunkgottesdienst in St. Marien zu Berlin

24. Dezember 2002

Es gilt das gesprochene Wort!

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Amen.

I.

Liebe Gemeinde hier in St. Marien, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer zu Hause oder in der Fremde, im Dienst oder unterwegs!

„Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.“ So heißt das Weihnachtsevangelium aus dem Mund der Engel. Es rührt uns an. Aber sind mit der Botschaft der Engel schon alle Fragen beantwortet? Warum feiern wir überhaupt Weihnachten?

Eine Psychologin behauptet, Weihnachten sei erfunden worden, damit man in der dunklen Jahreszeit Kerzen anzünden kann. Wenn sie recht hätte, dürfte heute in Südafrika niemand Weihnachten feiern; denn dort ist jetzt Sommer. Eine Umfrage sagt, mehr als die Hälfte der Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren wüsste nicht, was Weihnachten ist. Von Santa Claus ist die Rede, der mit dem Schlitten durch die Luft fliegt, oder von den Geschenken, um deretwillen es das Weihnachtsfest gibt. Einige meinen sogar, an Weihnachten sei der Weihnachtsmann gestorben.

Offenbar hat diesen Kindern niemand von Josef  erzählt, der sich von Nazaret nach Bethlehem aufmachte, zum Herkunftsort seiner Familie, um sich dort in die Steuerliste eintragen zu lassen. Offenbar haben sie nichts gehört von „Maria, seinem vertrauten Weibe; die war schwanger“.

Spät am Abend können die beiden angekommen sein in der fremden Stadt. Nichts brauchen sie jetzt dringender als ein Dach über dem Kopf und etwas Ruhe für sich und das Kind, das da kommen soll, einen Ort für sich allein, einen geschützten Raum. Aber da ist „kein Raum in der Herberge“. Alles zeigt ihnen: Hier seid ihr fremd. In einer Notunterkunft bringt Maria ihren ersten Sohn zur Welt. Ist Joseph bei der Geburt dabei? Die Antwort ist klar: Nicht weil er schon ein moderner Vater ist, sondern weil er nirgendwo anders hin kann, ist er dabei. Und seine Hilfe wird dringend gebraucht.

Armselig sind die Windeln; und als Wiege muss eine Futterkrippe dienen. Es sieht aus wie eine Elendsgeschichte unter vielen, in Wahrheit aber geschieht ein Wunder. Der Engel verkündet es den Hirten auf dem Feld, die himmlischen Heerscharen loben Gott, so schnell wie möglich kommen die Hirten zum Stall und beten das Kind an.

Seither wissen wir: Im Kind in der Krippe ist Gott Mensch geworden! Es könnte jeder Mensch gewesen sein, dafür brauchte es keine edle Abstammung, keine gesicherten Verhältnisse, auch keine besonderen Gaben. Deshalb sind wir alle gleich an Würde – vor Gott und den Menschen. Das besingen die Engel: Gott die Ehre – und den Menschen Frieden!

II.

Jedes Jahr wieder wird der Versuch unternommen, diese Botschaft zu entzaubern. Die historische Forschung wird dafür in Anspruch genommen. War es wirklich in Bethlehem? Und stimmt die Jahreszahl – oder ist Jesus in Wahrheit schon einige Jahre vor Beginn unserer Zeitrechnung geboren? Dass er geboren wurde und dass es ihn gab, das bestreitet inzwischen kaum noch jemand.

Sorgfältige historische Forschung schätze ich hoch. Sie lässt uns tiefer in die Geheimnisse der Geschichte eindringen; sie deckt Irrtümer auf, fromme Legenden eingeschlossen. Aber wenn diese Forschung jede Frage nach Grund und Sinn unseres Lebens lächerlich machen soll, hat das mit Wahrheitssuche nicht mehr viel zu tun. Und Verschwörungstheorien dienen der Wahrheitsfindung sowieso nicht.

Der „Spiegel“ dieser Woche stellt sich die Entstehung der Bibel so vor, dass im Jerusalemer Tempel eine „biblische Zensurbehörde“ tätig war, „die so perfekt arbeitete wie George Orwells Wahrheitsministerium“. So einfach lassen sich unter dem Vorwand, Legenden aufzulösen, neue Legenden bilden. Der „Stern“ der letzten Woche bezeichnet die biblischen Berichte als „mehr oder weniger gekonnt konstruierte Propaganda“. Der „Stern“ holt sich Hilfe bei einem der bedeutendsten Erforscher des Neuen Testaments, dem Heidelberger Professor Gerd Theißen. Besser hätte man ihn selbst schreiben lassen. Das wäre ein Medienereignis gewesen: das Leben Jesu von der Krippe bis zum Kreuz, von der Menschwerdung bis zur Auferstehung, von einem großen Gelehrten dargestellt, im „Stern“ zu Weihnachten nachzulesen. Stattdessen banale Sprüche, zum Beispiel: „Jesus war kein antiker Harry Potter.“ So schreibt der „Stern“ und fügt hinzu: Jesus „lernte in Nazaret fürs Leben, nicht in Hogwarts.“ Dann allerdings heißt es: „Trotzdem muss er über ein imponierendes Charisma verfügt haben.“ Warum eigentlich: „trotzdem“? Soll das heißen, dass Jesus über ein imponierendes Charisma verfügte, obwohl er nicht Harry Potter war und obwohl er nicht in Hogwarts, sondern in Nazaret aufwuchs? Mit Häme wird behauptet, hinter all den Jesusbildern, die kursieren, sei Jesus selbst nur „eine der verschwommensten Gestalten der Geschichte“. Doch dann blitzt plötzlich die Wahrheit auf: „Eine große Anhängerschaft ist bezeugt, auch Frauen – das ist nicht selbstverständlich – gehören in seine direkte Umgebung. ... Er half wohl vielen, denen es dreckig ging, wieder auf die Beine. Und solche Wunder wirkt er offenbar bis heute.“

Plötzlich wird es klar, allen Entzauberungsversuchen zum Trotz: Mit dem Kind in der Krippe fängt etwas an, was Menschen auf die Beine hilft, sie aufrichtet. Auf das Kind in der Krippe, auf den Mann am Kreuz stützt sich bis heute der aufrechte Gang.

III.

„Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens!“ Wegen dieser Engelsworte gilt Weihnachten als das Fest des Friedens. Doch wenn man genau hinhört, entdeckt man in diesen biblischen Worten mehr als nur eine Friedensbotschaft. Dass Gott in der Höhe allein die Ehre gegeben wird, ist genauso wichtig wie die Hoffnung auf irdischen Frieden. Gott loben und im Frieden leben: beides gehört unlöslich zusammen. Dass wir es nicht bei einem halbierten Weihnachtsfest belassen, ist vielleicht der wichtigste Weihnachtswunsch überhaupt.

Gott allein die Ehre! Das ist der eine Hauptteil des Weihnachtsfests. Wir hören das vielleicht nur als Aufforderung, als Mahnung, als Befehl – und fühlen uns davon überfordert. Wer mag das schon von sich sagen, dass er in allem Gott die Ehre gibt? Nicht einmal Johann Sebastian Bach, der das „Jauchzet, frohlocket“ so herrlich komponierte, nicht einmal Georg Friedrich Händel, der dem „Halleluja“ so wunderbare Töne gab, konnten das ein Leben lang durchhalten. Kein Reformator, auch wenn er wie Johannes Calvin das „Allein Gott die Ehre“ zum Wahlspruch erkor, blieb dieser Losung in allen Lebenslagen treu. Ich schaffe das ganz gewiss auch nicht.

Aber den Ton des Gotteslobs brauchen wir gar nicht selbst hervorzubringen, er ist uns vorgegeben. Die Engel stimmen ihn an, wir brauchen nur einzustimmen. Und mit der Ehre Gottes sind weder ein Ehrenkodex noch die nationale Ehre gemeint. All unsere Ehrpusseligkeiten können wir getrost auf sich beruhen lassen. Gottes Ehre ist sein eigenes Gewicht; es ist der Glanz, den er unserem Leben verleiht; es ist die Liebe, mit der er unser Leben erleuchtet. Gott bringt diese Ehre selbst zur Geltung, indem er uns das Leben schenkt und es immer wieder erneuert. Gott in der Höhe findet seine Ehre darin, dass er uns in die Tiefe nachgeht. So nah will er uns sein wie ein der Hilfe bedürftiges Kind, dazu noch am armseligsten Ort, der sich denken lässt. Gott macht sich klein, damit wir ihn suchen; und er zeigt seine Größe, indem er sich aus freien Stücken von uns finden lässt.

Weil Weihnachten vom Licht dieser Ehre Gottes erfüllt ist, können wir uns auch auf den anderen Hauptteil des Weihnachtsfests einlassen: die Verheißung des Friedens. Das Kind in der Krippe erweckt die Hoffnung in uns zu immer neuem Leben. Dass wir im Frieden leben können, brennt uns als Wunsch gerade nach den Erfahrungen dieses Jahres in der Seele. Ob ein Krieg gegen den Irak sich abwenden lässt, wissen wir heute nicht, so sehr wir es wünschen. Der Tod von sieben Bundeswehrsoldaten in Kabul hat uns gerade den großen Preis gezeigt, den der Einsatz für den Frieden kosten kann. Was kommt auf uns zu? Wie es ihm gehe, frage ich jemanden arglos auf der Treppe. „Gut“, gibt er mir zur Antwort. Doch Stunden später spricht er mich noch einmal auf dem Flur an: „Wenn Krieg kommt, kann ich nicht sagen, mir gehe es gut.“ Man muss die Massenvernichtungswaffen in der Hand Saddam Husseins fürchten, aber den Krieg ebenso.

Weihnachten kann uns helfen, bei der Suche nach Frieden auf der Seite Jesu zu bleiben, des Kinds in der Krippe, des Predigers auf dem Berg, des Zeugen für Gottes Liebe bis zum Kreuz. Wie oft hat man der Verkündigung Jesu unterstellt, sie fordere dazu auf, Unrecht und Gewalt einfach hinzunehmen! Wenn Möglichkeiten gewaltfreien Handelns erkundet werden, geht es jedoch gerade nicht darum, Gewalt und Unrecht passiv hinzunehmen. Beides zu überwinden, ist das Ziel – aber so, dass Frieden wird: „Selig sind, die Frieden stiften; denn sie werden Gottes Kinder heißen.“ Um diesen Frieden geht es auch, wenn jetzt die Frage nach der Aufnahme und Integration von Fremden in unserem Land neu diskutiert wird. Um Menschen geht es und um ihr Schicksal, nicht um taktische Vorteile oder polemischen Schlagabtausch.

Frieden soll werden. Dazu muss er Raum finden in unseren Herzen. Vielleicht werden wir gerade in diesem Jahr empfindsamer umgehen mit den leisen Tönen und den behutsamen Freuden. Dann kann der Weihnachtsfrieden auch unser Miteinander prägen; dann befreit er uns von der Überforderung, mit der wir uns die Weihnachtstage manchmal zur Last machen statt zur Freude. Es geht nicht darum, dass Sohn oder Tochter, Vater oder Mutter den Erwartungen entsprechen, die wir gerade an Weihnachten an sie richten. Nein, Gottes Frieden findet seinen Weg auch ohne einen solchen Erwartungsdruck. Er zeigt sich auch darin, wie wir auf Menschen zugehen, die uns bisher fremd waren.

Der Weihnachtsfrieden ist mehr als weihnachtliche Gefühligkeit. Dass Sie kein halbes, sondern ein ganzes Weihnachtsfest feiern, gerade in diesem Jahr, das ist mein Wunsch für Sie alle: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.“ Amen.